Rainer Tiemann

Ein Amerikaner in Paris

Er hieß Leroy, war amerikanischer Ingenieur und etwa sechzig Jahre alt. Fast ein Jahr schon arbeitete er für seine Company in Paris. Wir lernten uns in der Bar unseres Hotels kennen, in dem wir beide eine Zeit lang wohnten. Er war sehr froh, endlich jemanden getroffen zu haben, der seine Sprache einigermaßen beherrschte. Denn sein französischer Wortschatz beschränkte sich nahezu auf bonjour, merci, vin, bière, bon appétit oder au revoir ...

Meine Firma, ein internationaler Chemie- und Pharmakonzern aus Leverkusen hatte mich in unsere Pariser Vertretung delegiert, um dort zu arbeiten, Erfahrung im Ausland vor Ort zu sammeln und so ganz nebenbei die französische Sprache zu perfektionieren. Ein Glück für Leroy. Er hatte jetzt jemanden gefunden, mit dem er Paris nach Feierabend in seiner Sprache erkunden konnte. Das geschah meistens einmal pro Woche.

Er war etwas pummelig, sein Alter ihm durchaus anzusehen. Hier und da lichtete sich sein rötlich-graues Haupthaar mehr, als er sich das gewünscht hatte. Seine gute Laune behielt er auch dann bei, wenn er offen über die Scheidung von seiner Frau nach über zwanzig Ehejahren sprach. Seine Ehe war kinderlos geblieben. Und - wie lange er schon keine Frau mehr gehabt hätte. Was mich eigentlich gar nicht interessierte ...

Denn ich hätte sein Sohn sein können damals. Zu seinen Problemen oder deren Lösung konnte ich eh nichts beitragen. Meine Ehe funktionierte auch über die Entfernung nach Deutschland hinweg problemlos, wo noch immer meine Frau und Tochter wohnten. Wir jedenfalls telefonierten regelmäßig miteinander, und wir freuten uns noch immer, den Partner am anderen Ende der Leitung zu hören.

Eines Samstags - wir hatten Versailles besucht - kamen wir am frühen Abend nach Paris zurück. Ein gutes, nicht zu teures Restaurant am Montparnasse wurde angesteuert. Das Abendessen hatten wir uns mit Sicherheit verdient. Wie immer wollte ich auf Französisch bestellen.

Doch plötzlich wurde Leroy nervös. Seine Stimme überschlug sich fast, als er mir sagte, was er gesehen habe. Meinen Augen war es entgangen. Kurzum - es handelte sich um eine hübsche Frau, die einige Tische von uns entfernt saß, mit wundervollen langen schwarzen Haaren. Ob ich sie - weil er ja nicht Französisch spräche - nicht zu uns an den Tisch bitten könne? Ich sollte also sein Postillon d´amour sein!

Mir war das zu einfach. Daher machte ich ihm klar, er solle dem Ober vorab für seine Gefälligkeit zehn Franc in die Hand drücken. Dieser könne in unserem Namen die Dame  ansprechen, sie zu uns an den Tisch bitten, und der Ober sie bei Erfolg zu unserem Tisch führen. Vielleicht käme die schöne Französin, wir Leroy innigst hoffte, ja tatsächlich.

Leroy gab mir die gewünschte Summe für den Ober, den ich bat, die Dame in unserem Namen anzusprechen und an unseren Tisch zum Abendessen einzuladen. Gesagt - getan ... Kurz darauf saß eine aparte - wie sich herausstellte - Anwältin aus Buenos Aires bei uns. Sie mochte in meinem Alter sein, dachte ich. Paris, die Stadt der Liebe, wollte sie in drei Tagen erkunden, war erst vor zwei Stunden in ihrem Hotel angekommen. Und sie sprach nicht nur Spanisch und Französisch. Sie sprach Englisch ... Ein Wink des Himmels?

Bildete ich mir etwa ein, dass sie mit mir flirtete? Oder suchte sie lediglich einen ortskundigen Begleiter für ihre Pariser Tage? Ich wusste es nicht und wollte es auch nicht wissen. Aber ich erkannte sofort, dass auch der liebe Leroy ihr in seiner Landessprache Paris zeigen könnte. Dieser Plan wurde nach dem Abendessen umgesetzt. Mit einer plausiblen Ausrede verabschiedete ich mich von beiden in den späten Abend. Leroy und seine Argentinierin blieben zurück. Meine Zeche würde Leroys Brieftasche sicherlich aushalten, dachte ich noch.

Mit der Metro fuhr ich zu meinem Hotel, um nach den Erkundungen in und um Versailles meine Beine hochlegen zu können. Und auch ein früherer Schlaf wäre heute nicht schlecht ...

Irgendwann am frühen Sonntagmorgen wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Durch ein zunächst nicht identifizierbares Geräusch an meiner Hotelzimmer-Tür. Dann wurde mir klar, dass es Leroy war, der Amerikaner in Paris. Ich solle aufstehen und öffnen. Schlaftrunken ging ich zur Tür und öffnete. Um vier Uhr morgens wurde mir erzählt, was ihm passiert war.

Die feurige Argentinierin war wohl enttäuscht gewesen, dass ich - der quasi Gleichaltrige - mich aus dem Staube gemacht hatte. Aber der nette Amerikaner konnte ihr ja auch Paris bei Nacht zeigen. Für viel Geld, wie er mir sagte. Gerade vor einer halben Stunde hatte sie sich von ihm vor ihrem Hotel verabschiedet, ohne ihn jedoch mit hinein zu nehmen, was er sich erhofft hatte. Für die Einladung zum Essen, Nachtclubbesuche oder die Fahrten auf der Seine bei Nacht hatte sie sich mit dem schönsten Lächeln der Welt, wie Leroy meinte, bedankt. Noch immer klang in seinen Ohren das "Merci, mon ami" und "Thank you so much, dear friend" nach.

Das Ende der Geschichte? Leroy sah ich nur noch selten. Zufall? Nein. Denn er hatte tatsächlich Französisch-Unterricht genommen. Ein Amerikaner wollte in Paris endlich auch auf Französisch mitreden können.

RT 2009

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.05.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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