Rico Graf

Die Flaschensammlerin

 

In den Beuteln klirrte es. Glas ging an Glas. Hälse und Böden waren weiß, grün oder braun. Ummantelt vom Stoffe, der stank. Er roch wie ihrer. Es war ein alter Stoff am Leibe. Fleckig, rissig, gerade so noch seine Funktion erbringend. Er klebte, das spürte sie an den Beinen, an den Armen, am Bauch und am Rücken. Ihre Füße schritten voran, ohne dass es einer Absicht bedurfte. Es war ein Automatismus, der sich vor Monaten, vielleicht Jahren schon herausgebildet hatte. Früher taten sie weh. Doch den Schmerz konnte sie nicht mehr fühlen. Sie waren wie totes Gewebe. Dicke, verhornte Haut erwuchs aus dem Leben, bis es verzehrt war. Der Gestank erinnerte nur noch rudimentär daran, dass sie am Leben war.

- Du bist eine Schande, sagte sie. Ihre eigenen Kinder.

- Du bist eine Schande, wiederholte sie.

Die Füße machten halt. Die Finger, die Hände, die Arme bewegten sich mechanisch, wie die Füße. Sie suchten. Im Dunklen griffen sie, ertasteten sie, wussten sie, was sie finden wollten.

- Das ist es nicht, meinte die Frau.

Ihr Gesicht konnte man nicht sehen. Es war sicher kein schönes, oder wenigstens gepflegtes. Es half den Händen. Der Blick wanderte ins Dunkle, den suchenden Fingern folgend.

- Hah! Da ist es!, rief sie erfreut.

Sie holte eine Flasche aus dem Müllcontainer. Mehr war da nicht. Eine Flasche! Ein paar Cents mehr! Und jetzt konnte man auch ihr Gesicht sehen. Die Lippen waren spröd. Die Augen rot unterlaufen. Sie musste müde sein. Doch als sie die Flasche in den Händen hielt, ging ein Lächeln in ihr auf und legte sich auf ihrem Gesicht nieder. Ein Lächeln konnte etwas so Widerliches an sich haben. Die knollige Nase thronte inmitten hängender Wangen. Die Haut war brüchig und uneben, aschfahl, ohne Vitalität.

- Du kommst zu den anderen, sprach sie.

- Du kommst zu den anderen, wiederholte sie.

Sie wirkte erfreut. Sie steckte die leere Bierflasche, ihren kleinen Pokal, zu den anderen in den Beutel. Die Mechanik setzte wieder ein. Das Automatische. Heute waren noch nicht genug Cents zusammengekommen.

- Sie haben mich im Stich gelassen, murmelte die Frau.

- Meine Kinder haben mich im Stich gelassen. Der Alte fort mit ihr. Meine Kleinen fort mit ihm und ihr. Keiner will was von mir wissen.

Sie wusste, alle paar Meter gab es eine neue Quelle. Viele Müllbehälter gab es in der Stadt, viele leere Flaschen in ihnen. Reicht zum Leben. Sie bemerkte, dass es warm war, denn sie stoppte wider jeglicher Mechanik und streifte seufzend ihre Restjacke ab. Es musste stinken, denn die Leute um sie herum stöhnten und blickten sie verärgert an.

- Du stinkst, Alte!, rief ein Vorbeigehender.

- Verpiss dich, du Penner!, rief ein anderer.

Sie überhörte das. Das überhörte sie schon lange. Ihr war nach einem Liedchen. Sie hatte immer eines auf Lager.

- Ich bin eine verlass’ne Frau, lalala, ich bin so eine arme Sau, tralala, sang sie.

Sie ging weiter und sang ihr kleines Liedchen. Die Blicke ignorierte sie.

- Ein singender Mensch, macht den Leuten Sorge, meinte sie.

- Ich bin eine verlass’ne Frau, lalala, ich bin so eine arme Sau, tralala.

Wieder ein Müllgefäß. Die gleiche Prozedur. Doch hinter ihr kamen drei junge Buben.

- Ey, Alte. Suchste wat zu fressen?, brüllte einer der drei.

Sie zuckte zusammen.

- Haste Hunger, oder wat?

- Meine Kinder kommen bald.

- Wat laberst du da, du Pennerfrau?

- Sieh mal, die labert mit sich selber. Ne’ Bekloppte!

- Meine Kinder werden bald kommen und mich hier herausholen.

- Ick versteh dich nicht, red mal mit uns.

- Meine Kinder… meine Kinder… meine Kinder…

Plötzlich schupste einer von den drei Buben die Frau. Die anderen lachten. Die Frau und die Beutel fielen zu Boden. Glas zerbrach. Das Geräusch von berstenden Flaschen verschmolz mit dem Gebrüll der drei Buben. Splitternde Scherben im bösen Gelächter.

- Meine Flaschen!, rief die Frau entsetzt.

- Kannste dir neue suchen, Alte!

- Genau!

- Meine Flaschen, stammelte die Frau.

- Scheißpenner!

Die drei lachten noch immer, stießen mit den Füßen den zersprungenen Inhalt der zu Boden gefallenen Beutel hin und her. Doch dann verloren sie das Interesse und gingen.

Die Frau saß vor ihren Flaschen. Ihr Blick ruhte auf den Beuteln. Sie griff einen, öffnete ihn und schaute hinein. Alles kaputt. Ihre Hände wischten in den Splittern herum.

- Aua!, rief sie.

Sie hatte sich an eine der Scherben geschnitten. Sie nahm den Finger mit dem Schnitt in den Mund. Ein, zwei Tropfen Blut fielen vorher herab auf das zerbrochene Glas. Der rote Saft floss ins Flüssige der Flaschen. Die Frau stand mühsam auf.

- Alles kaputt, meinte sie.

- Alles kaputt. Aber wenn meine Kinder mich holen kommen, dann ist alles wieder gut.

Die Beutel hob sie auf. Es klirrte stärker. Sie merkte, dass sie sich beim Sturz wehgetan hat. Mit verzerrtem Gesicht rieb sie sich am Hintern.

- Aua. Diese Dummen!

Sie hielt Ausschau nach einer Bank. Als sie eine entdeckte, lief sie darauf zu. Ihr tat der Hintern weh. Beim Gehen stieß sie kleine Seufzer des Schmerzes aus. Als sie sich auf der Bank niederließ, streckte sie die Beine aus. Ihr Gesicht ging gen Himmel.

- Meine Kinder, nuschelte sie.

Und dann blickte sie zu zwei Damen, die an ihr vorbeiliefen.

- Meine Kinder! Meine Kinder!

Schnell eilte sie nach, rief ihnen zu. Dann fasste sie einer der beiden Frauen an die Schulter. Diese drehte sich um.

- Meine Tochter!

Doch die Fremde blickte sie erst erschrocken, dann wütend an.

- Was wollen Sie von mir?

- Lassen Sie uns in Ruhe, rief die andere.

Die Alte sagte nichts. Es waren nicht ihre Kinder.

Die beiden Frauen schaute sie verächtlich an, wendeten sich ab und gingen weiter. Die Alte blieb stehen. Sie schaute zurück zur Bank. Sie wollte sich setzen. Plötzlich musste sie traurig gewesen sein. Sie fing an zu weinen. Tränen flossen unter ihrem Schluchzen herab.

- Sieh mal, die Alte heult.

- Was ist denn mit der?

- Was geht denn mit der nicht richtig?

Doch die Frau auf der Bank weinte nur bitterlich. Ihre Flaschen waren kaputt.

- Meine Kinder kommen nicht mehr, murmelte sie unter Tränen.

- Kommen nimmer mehr…

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.05.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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