Marion Redzich

Die Gleisbettmaus von Linie 9







                                  Die
Gleisbettmaus von Linie 9


 

 
Mein Name ist Przlmakpukmalhachee, doch jeder nennt mich
P217. Ist einfacher.
P. steht für Przlmakpukmalhachee, die 217 für das Leben, in
dem ich mich zurzeit befinde.
Menschen leben einmal, wenn sie Buddhisten sind auch öfter
und werden ungefähr 100 Jahre alt. Mäuse leben 777 mal und werden in der Regel
nicht alt. Deshalb leben sie ja so oft. Und ich hab noch ein paar Leben vor
mir, einige allerdings auch schon hinter mir.
Die Mäusenamen sind alle schwierig für Menschenohren,
deshalb werde ich die Namen meiner Kumpel in dieser Geschichte abkürzen. Keine
Maus würde ihren Nachwuchs „Heinz“ oder „Fritz“ oder „Susi“ nennen. Kein Mensch
käme auf die Idee, seinen Sprössling
Swaddavedapappülaref zu taufen. So heißt übrigens mein
Cousin mütterlicherseits 3. Grades.
Ist ein feiner Kerl, nur leider kürzlich verstorben. Jetzt
versucht er gerade, sein 321. Leben zu überleben. Unsere Namen ändern sich
niemals während unserer 777 Leben; hin und wieder allerdings muss man sich an
eine neue Zahl dahinter gewöhnen. So gibt es nirgendwo auf der Welt zwei Mäuse,
die gleich heißen. Wir sehen auch unterschiedlich aus. Mein Fell war mal ganz
weiß, leider ist es durch das Leben im Gleisbett mit der Zeit dunkelgrau
geworden.
Ich bin eine ganz gewöhnliche Gleisbettmaus und das ist
meine ganz gewöhnliche Geschichte:

 
Mein 216. Leben endete ganz unspektakulär unter den Rädern einer
Berliner U-Bahn.
Übrigens die zweithäufigste Todesursache für Gleisbettmäuse.
Die häufigste haben wir mit den Menschen gemeinsam. Das Nikotin. Fast
jede Maus ist mindestens einmal gestorben, weil sie an der weggeworfenen Kippe
eines Menschen geknabbert hat. Nur bei Menschen dauert der Sterbeprozess
ziemlich lange, bei uns Mäusen so ungefähr 2 Minuten.
In meinem Abschnitt bin ich die größte Maus und deshalb hier
der Chef. Ich gebe den Alarm-Pfiff, wenn die U-Bahn kommt, damit sich meine
Mäusekumpels rechtzeitig in Sicherheit bringen können und ich bestimme, wer
nachts Wache hält. Das ist wichtig, denn hier treiben sich alle möglichen
Gestalten rum. Und hin und wieder müssen auch Mäuse mal schlafen.
Mäuse und Menschen haben mehr Ähnlichkeiten miteinander, als
viele Menschen ahnen.  Zum Beispiel gibt
es auch bei uns Mäusen viele verschiedene Rassen. Es gibt Hausmäuse, Waldmäuse,
Spitzmäuse, Haselmäuse, Labormäuse, Feldmäuse, Rennmäuse, Wüstenmäuse und noch
viele mehr. Und alle sprechen mäusisch, aber wie bei den Menschen, mit
verschiedenen Dialekten. Und hin und wieder wird eine Maus in einem anderen
Land wieder-geboren, was dann natürlich Probleme mit sich bringt. Sie muss erst
die Sprache lernen, um sich verständigen zu können. Wer nun glaubt Mäuse seien
dumm, der irrt!
Mäuse können sprechen, lachen, singen, viele können sogar
lesen. Vor allem wir Gleisbettmäuse können es. Das liegt auch daran, dass
viele Menschen ihren Abfall und ihre gelesenen Zeitschriften einfach auf die
Gleise werfen. Das sammeln wir dann ein. Was noch essbar ist, wird unter uns
allen aufgeteilt und die Zeitschriften werden von denen gelesen, die grade nix
zu tun haben. So kriegen wir immer mit, was in unserer Stadt los ist. Nur die
weggeworfenen Kippen rühren wir nicht an. Und die Kumpels, die es trotzdem mal
tun, naja, die müssen sich dann eben wieder an eine neue Zahl hinter ihrem
Namen gewöhnen…

 
Seit fünfundfünfzig Tagen lebe ich nun hier, im Gleisbett
der Linie 9, direkt am U-Bahnhof Leopoldplatz. An U-Bahnhöfen zu leben ist
lustiger als irgendwo auf der freien Strecke. Man kann die Menschen beobachten,
die zur Arbeit oder sonst wohin gehen oder sonst woher kommen. Ständig wuseln die auf den
Bahnhöfen rum, warten mehr oder weniger geduldig auf die nächste Bahn.
Manchmal mache ich mir auch einen Spaß daraus Leute zu
erschrecken. Dann stell ich mich vor so einen Mensch, die Weibchen-Menschen
sind dafür mehr geeignet als die Männchen-Menschen, richte mich zu meiner
vollen Größe auf, trommle mir auf die Brust (das hab ich im Kino mal bei einem
Tarzan-Film gesehen!) und pfeife schrill. Meistens brauchen die Menschen eine
Weile, bis sie mich entdecken, aber dann treten die meisten schnell einen
Schritt zurück, an guten Tagen schreit schon auch mal jemand .“ Eine Maus… eine
Maus!“
Das ist lustig! Komisch, dass die Menschen Angst vor uns
haben, die sind doch viel größer als wir. In meinem vorletzten Leben war ich am
Alexanderplatz, da war’s mir aber viel zu laut und zu hektisch. Man muss
mäusisch aufpassen, dass man nicht von irgendwas getroffen wird, was auf die
Gleise geworfen wird. Einmal hat mich um haaresbreite eine Bierflasche verfehlt,
sie landete genau neben meinem Kopf. Nach ein paar Tropfen von dem Inhalt wurde mir auf einmal so komisch. Ich selber kann mich gar
nicht mehr daran erinnern, aber F271 sagte mir später, ich hätte versucht, auf
den Schienen zu balancieren und er konnte mich gerade noch ins Gleisbett
schubsen, bevor die U-Bahn mich überrollt hätte. Seit diesem Tag mache ich
einen großen Bogen um Flaschen. Menschen verhalten sich auch oft seltsam,
vielleicht liegt das ja auch an dem Bier. Vielleicht sollten auch Menschen
einen Bogen darum machen…
Einmal haben wir, meine Kumpels und ich, sogar einen Mensch
gerettet. Der ist genauso getorkelt wie ich damals am Alexanderplatz und
irgendwann lag er plötzlich bei uns im Gleis-bett. Es war noch sehr früh am
morgen, bisher waren noch nicht so viele Menschen unterwegs. Da kann der nicht
liegen bleiben, war das erste was ich dachte. Erstens, weil dieser
Gleisabschnitt bereits von S116, U347, B210 und meiner Wenigkeit bewohnt war
und zweitens, weil er als Mensch viel zu groß war für das Gleisbett. Die U-Bahn
hätte ihn auf jeden Fall überrollt. Und da wir ihn nicht fragen konnten, ob er
ein Buddhist war, mussten wir ihn wohl oder übel vom Gleis schaffen, aber wie? Wie
sollten 4 kleine Mäuse es schaffen, ein ausgewachsenes Menschen-Männchen vom
Gleis zu kriegen? Da hatte ich eine Idee.
U347 sollte bei dem Menschen-Männchen bleiben und auf ihn
aufpassen. Zusammen mit B210 und S116 flitzte ich durch den Tunnel und
kletterte in die U-Bahn, die dort für ihren morgendlichen Einsatz bereit
stand. Wir wollten versuchen, die Bahn zum stehen zu bringen, bevor sie das
Menschen-Männchen überfahren konnte. Wir hatten nur noch ungefähr zwanzig
Minuten Zeit, bevor sich die Bahn in Bewegung setzten würde. Rasch machten wir
uns an die Arbeit und knabberten das Drahtseil durch, das die Betätigung für
den Not-Halt sicherte. Wir waren gerade noch rechtzeitig fertig, bevor die
ersten Fahrgäste das Abteil betraten. Per Mäuse-Morser (das ist vergleichbar
mit den Menschen-Handys und für uns Mäuse die einzige Möglichkeit, uns auch
über weitere Entfernungen zu verständigen) alarmierten wir alle Mäuse, die hier
in der Nähe waren, sie sollten jetzt sofort zu uns ins Abteil kommen. 80 bis
100 Kumpels waren hier versammelt und noch versteckten wir uns unter den
Sitzen. Aber sobald die U-Bahn sich in Bewegung gesetzt hatte, flitzten wir
hervor, krabbelten den Menschen-Weibchen (die reagieren einfach besser auf uns
als die Männchen!) an der Kleidung hoch und gebärdeten wie wild. Meine Rechnung
ging auf. Eine der Menschen-Weibchen schrie in Panik, zappelte wie verrückt und zog
ganz kräftig am Nothaltegriff, den wir vorher ja schon gelockert hatten. Der
Zug hielt mit lautem Quietschen ein paar Meter vor dem auf dem Gleis liegenden
Menschen-Männchen. Wir Mäuse versteckten uns schnell und flitzten, nachdem der
Zug gehalten hatte, ganz schnell auf die Gleise und dort unter die Steine, sodass uns
niemand mehr sehen konnte.
Das ging so schnell, alle Menschen, die in diesem Abteil
waren, plapperten wild durcheinander. Manche erzählten etwas von einer
Mäuse-Invasion, andere, die uns nicht gesehen hatten, dachten die anderen seien
übergeschnappt. Es war jedenfalls ein heilloses Durcheinander. Aber die
Hauptsache war, dass das Menschen-Männchen gerettet werden konnte. Am nächsten
Morgen stand in der BZ: „ Frau mit übersinnlichen Fähigkeiten rettete
Arbeitslosen“. Wir wurden natürlich mal wieder mit keinem Wort erwähnt. So
gemein!!!
Aus lauter Frust haben wir die Zeitung aufgefressen, sodass
nichts mehr davon übrig blieb. Wir wussten es schließlich besser!

 
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.05.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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