Klaus Buschendorf

Schwanenmärchen

 

Es waren einmal vier Schwäne. Einzeln kamen sie vom fernen Afrika zurück geflogen in den Frühling unseres Landes. Immer tun sie das. Und immer fliegen sie allein.

Wir Menschen hatten eine Teichlandschaft geschaffen, um Fische zu züchten. Hier waren die Schwäne aus ihren Eiern geschlüpft. Von hier waren sie ein erstes Mal zum fernen Afrika geflogen. Bei der ersten Rückkehr spürten sie in ihren Schwanenherzen, dass da noch etwas fehlte. Was konnte es nur sein? Sie kannten ihren Teich, den weiten Weg nach Afrika, den Ort, wo sie dort lebten, den weiten Weg zurück – sie waren doch erwachsen? Bis sie den anderen Schwan sahen: der Schwan die Schwänin, die Schwänin den Schwan. Da war große Aufregung im Schilf und in den Wiesen, auf dem Wasser, zwischen Erlen und Weiden. Sie zeigten Flugkünste, kunstvolle Starts und Landungen zu Wasser und auf der Wiese. Schließlich fanden sich Schwan und Schwänin, bauten ein Nest, jedes Paar für sich an einem Teich. Als die Jungen geschlüpft waren, versorgten sie fleißig ihre Brut, lehrten ihnen das Fliegen und machten sich wieder auf ins ferne Afrika. Nach diesem anderen Leben kehrten sie zurück an ihren Teich, fanden sich wieder, und alles begann von vorn. Nun waren sie wirklich richtige Schwäne.

Der Pächter der Fischteiche freute sich. Jedes Jahr erschienen seine Schwäne wieder. Er führte seine kleine Enkelin auf den breiten Damm zwischen die ersten beiden Teiche. Das kleine Mädchen staunte über die majestätischen Schwanenflüge, die breiten Schwingen am Himmel und am Abend über die verschränkten, langen Hälse, die ein Herz zu zeichnen schienen. Sie wäre gern ein Schwan gewesen.


In diesem Frühjahr plätscherte das Wasser des Mühlenteiches heller und klarer in den steinigen Mühlenbach. Die Menschen hatten Teich und Bach so genannt, weil einst ihre Wasser ein Mühlrad bewegten. Lange schon stand die Mühle nicht mehr, die Menschen mahlten anderswo ihr Korn. Der Name blieb. Wasser floss, seiner Arbeit ledig, befreit über Steine und Moos und spülte den sandigen Hang an der Kirschbaumplantage aus. Dort standen alte Kirschbäume. Die Pflücker mussten lange Leitern an sie lehnen. Doch so weit war es noch lange nicht. In vollem Weiß standen ihre Äste. Summende Insekten umgurrten ihre Blüten. Seitdem die Bauern oberhalb der Teiche keine Gülle mehr auf die Wiesen fuhren, erwachte am Bach, in den Kirschbäumen und Wiesen, wieder viel neues Leben und deckte für die Schwäne einen reichen Tisch.

Die Mühlenteichschwänin kam zuerst. Einen Tag später erkannte sie weit oben den Mühlenteichschwan und hob aufgeregt die Flügel. Ermattet und doch glücklich gischtete er neben ihr ins Wasser. Sie hielten sich nicht lange auf und taten nach zärtlicher Begrüßung das, wonach es ihnen verlangte. Das Nest war bald gebaut und vier Eier prangten in der hellen Sonne. Nun brütete die Schwänin. Und ihr Schwan versorgte sie treulich.

Eines Tages hatte er Gras vom Bachrand gezupft. Mit dem Büschel im Schnabel flog er zurück und sah die beiden Teiche unter sich. Er war wohl etwas zu weit geflogen. Die beiden Teiche schienen ihm gleich. Das irritierte ihn. Ein Zeichen ließ ihn entscheiden.

Die Schwänin vom Nachbarteich hatte manche Tage nach oben geblickt. Viele Schwäne waren über sie hinweg geflogen. Einige landeten neben ihr. Sie hat nie ihre Flügel freudig erkennend breiten können. Die fremden Schwäne flogen wieder fort. Sie wollte nur ihren Schwan begrüßen. – Doch er kommt nicht mehr. Sie wusste es jetzt ganz sicher. Noch einmal hob sie ihren Blick – plötzlich schien ihr der Schwan dort oben vertraut. So lange hatte sie gewartet – er musste sie doch sehen!

Als er neben ihr gischtend landete, erkannte sie den Schwan vom Nachbarteich. Er trug ein saftiges Büschel im Schnabel, so war „ihr“ Schwan stets von der Reise gekommen. Sie wollte sich selbst nicht glauben, dass es der falsche Schwan sei – sie wollte tun, wofür sie lebte! Und da war er, der das auch wollte. Sie nahm das Büschel aus seinem Schnabel und schaute ihn an.

Da sah der Schwan die fremde Schwänin und ihren lockenden Blick. Die uralte Angst des Mannes in ihm erwachte: Wusste er so genau, ob die Brut seines Weibes drüben wirklich die seine war? Wenn nun ihr auch so ein Moment geschah mit einem Anderen – er wird es nie erfahren! Doch hier hat er eine zweite Chance, sicher zu gehen. So leicht wird sie ihm geboten! Warum nutzt er sie nicht? Es war nicht sein Schilf ringsum. Es war ein anderer Teich. Er selbst war ein anderer hier, so weit weg. Und diese Schwanenfrau so nah.

Er hob die Schwingen, hob sich selbst. Sie duckte sich und bot den Bürzel. Da riss es ihn hoch und auf sie nieder.

Dann breitete er die Schwingen, schwang sich hoch auf und flog hinweg über das fremde Schilf, seinem Mühlenteich entgegen. Er wollte schnell vergessen. Und wusste doch, dass er das nicht können wird.

Sie sah ihm nach und dachte: Nie sehen wir uns wieder – wenn ich keine Brut erhalte!

Nun musste sie das Nest bauen. Sie konnte gar nicht anders. Allein stieg sie auf, erspähte, sammelte Gräser, Zweige und trug sie ins Schilf. Kunstvoll baute sie und dachte der Zeit, da sie nicht allein gewesen war. Sie brauchte länger, sah selten beim Fliegen den Nachbarn. Er sah sie nicht an, kreiste über seinem Teich. Seine Mühlenteichschwänin sah sie nicht. Die saß wohl schon auf ihrer Brut. Da muss er sie versorgen, denn Schwäne teilen sich das Brüten selten. Er war fleißig, sie sah es. Er war eben ein treu sorgender Schwan.

Gerade fertig war sie mit dem Nest, als sie sich hocken musste. Dann glänzten fünf Eier in der Sonne. Sie freute sich. Dann kuschelte sie ihre Wärme in das Nest.

Stunden saß sie so. Sie war es so gewöhnt. Doch kein Schwan kam, ihr Grasbüschel oder kleine Fischchen zu bringen. Ihr Herz zerriss zwischen eigenem Hunger und Sorge um die Wärme für die Brut. Bis sie mit nagendem Schuldgefühl sich aufschwang und zum anderen Teich flog. Sie sah den Schwan, umflog ihn schnatternd, griff ihn an, dass er seine Schnecke aus dem Schnabel verlor. Wütend verfolgte er sie. Die Schwänin landete bei ihrem Nest und hörte auf zu zischen.

Er sah in das Nest, sah auf die fremde Schwänin, und wie sie ihm die Brut zeigte. Das sah so gleich aus. Seine eigene Schwänin präsentierte sie genauso. Nun wusste er: Auch diese Brut war seine, wie auch die Brut vom Mühlenteich. Die Fremde bewies ihm: Die eigene hat ihn nicht belogen.

Ruhe, Stolz und Kraft zogen in sein Herz. Er spürte die uralte Aufgabe des Mannes in sich wachsen. Er wird für sie sorgen. Es ist seine Brut, die eine wie die andere.

Er blickte die Schwänin an.

Ihre Augen verstanden. Sie sagten: Danke! Vor seinen Augen kuschelte sie wieder ihre Wärme in das Nest. Den nagenden Hunger vergaß sie.

Dann erhob er sich, glitt über beide Teiche. Stark und stolz zog er kreisend über Schilf, Moos, Wiesen und Wasser. Er wird alles teilen, was er findet, es wächst genügend für beide. Er kennt seine Pflicht, und er erfüllt sie gern.

 

Die Schwänin vom Mühlenteich war unzufrieden mit ihrem Schwan. Es regnete. Das störte sie nicht. Sie breitete die Flügel übers Nest, damit keine Nässe zwischen die Zweige kroch. Immer richtete ihr Schwan es so ein, dass er vor dem Regen zurückkam. Doch häufig blieb er jetzt lange aus. Was war nur los mit ihm?

Der Regen ließ nach. Beim letzten Tropfen kam er angeflogen. Nachdem er die Heuschrecke in ihren Schnabel gleiten ließ, sie in ihren Schlund gesteckt hatte, hackte sie nach ihm. Er war verwundert. Und sah sie an, als wollte er sie um Verständnis bitten. Da ließ sie das Hacken sein. Dann stob er los, als jage ihn der Teufel.

Es blieb nicht bei diesem einen Mal. Immer wieder kam er spät, viel zu spät – und immer wieder dieser um Verstehen bettelnde Blick. Sie ließ das Hacken, es änderte ja nichts. Er stob auch ohne dies davon, als jage ihn der Teufel. Müde war er abends, so müde.

 
Das erste Ei brach – und er war gerade da. Wie freuten sich beide? Bald purzelten vier Küken in ihrem Nest, zertrampelten die Eierschalen, ihre Eltern warfen die Schalen hinaus. Ihr Vater flog als Erster los. Dann flog auch sie zur Futtersuche. Nun waren sie zu zweit. Alles wird gut.

Nichts wurde gut. Oft verlor sie ihren Schwan aus den Augen, sie flog doppelt so viel wie er. Sie beschloss, ihm heimlich zu folgen. Mit einem kleinen Frosch im Schnabel sah sie ihn hochfliegen, viel höher als nötig. Sie blieb hinter ihm, glitt knapp über der Wiese ihm nach.

Unfassbar! Er flog zum anderen Teich. Sie hatte schon Verdacht geschöpft, als sie den kleinen Frosch erkannt hatte – den fraßen ihre Küken doch nicht! Da sah sie ihn niedergehen zur Schwänin vom anderen Teich. Sie saß noch auf den Eiern und ließ sich von ihm füttern – ungeheuerlich!

Die Schwänin vom Mühlenteich schwang sich hoch und griff die Fremde an. Die wehrte sich. Da kam ihr Schwan zurück. Und half nicht ihr, nein, der Fremden stand er zur Seite! Beider Schnabelhiebe ließen sie das Weite suchen. Entsetzt rettete sie sich zu ihren Küken.

Nichts nützte den Küken ihr Betteln. Ihre Mutter hatte nichts für sie im Schnabel und keinen Sinn für ihr Flehen. Blieb sie jetzt allein?

Da kam er. Fütterte die hungrigen Schnäbel, als sei da nichts gewesen. Dann sah er sie an – wieder mit diesem bittenden, um Verstehen bettelnden Blick.

Sie musste weg. Sie schwang sich hoch, hoch wie nie zuvor, bis sie beide Teiche sehen konnte. Sie kreiste und kreiste, sah die Andere im Nest hocken und begriff.

Noch wehrte sie sich, denn das durfte nicht sein. Sie zupfte Wasserpflanzen vom Bachgrund für ihre Küken, rasend schnell, die ausgefallene Mahlzeit zu ersetzen. Sie blickte verstohlen zu ihrem Schwan, wie er über dem eigenen Nest niederging. Glaubte, sie habe geträumt. Beim nächsten Futterholen schwang sie sich hoch und sah ihn wieder zum Nachbarteich fliegen.

Ihr treuer Schwan! Sie begriff: Er war ihnen beiden treu. Sie kannte ihn so lange schon, wusste, er würde sie beide nicht verlassen. Und fröstelte unter ihren Federn. Es war passiert, nicht mehr zu ändern. Konnten sie es schaffen?

Wie rasend rupfte sie, gönnte sich keine Pause. So ging es ihm wohl lange schon. Davon war er immer so müde! Sie musste es ihm gleich tun. Ihre Küken wollten wachsen.

Eines Tages kreiste sie weit oben und sah die Andere nicht auf ihrem Nest. Sie stob hinab und sah die Küken betteln. Sie wollte auf die Küken nieder – und konnte es nicht tun! Da kam die Fremde, drohte – es war nicht nötig. Sie wird nicht zur Kindesmörderin. Sie huschte weg, sah ihren Schwan der Anderen zu Hilfe eilen – nein, dies war ein anderes Revier. Sie gehört nicht hierher. Schlimm genug, dass ihr Schwan auch hierher gehört.

 

Drei Schwäne versorgten neun Küken. Sie wurden immer müde, den vierten Schwan zu ersetzen. Zuerst erlahmte der Schwan vom Mühlenteich. Erschöpft stand er einmal auf der Wiese am Waldrand. Den schleichenden Fuchs bemerkte er nicht. Im letzten Moment entwand er sich seinem Zuschnappen und hackte kraftlos mit dem Schnabel. Der Fuchs sah ihm nach, wie er torkelnd abflog. Dich krieg ich noch, freute er sich der seltenen Beute.

Einmal versorgte der Schwan die Küken vom Mühlenteich und einmal noch die Brut der Anderen. Dann behielt der Fuchs recht.

 
Wenn sich die beiden Schwanenmütter sahen, nahmen sie sich keine Zeit füreinander. Sie hatten beide schon ein Küken verloren. Sie wussten es, ohne sprechen zu können. Sie verdrängten den Schmerz und taten, was sie konnten. Es war nicht genug.

Nach Afrika flogen sie allein. Beide kamen nicht zurück.



„Wenn ein Schwan seinen Partner verliert“, sagte der Fischpächter, „stirbt er aus Liebeskummer und Einsamkeit. Schlimm für seine Küken.“ – Die kleine Enkelin schaute traurig auf die leeren Wasser. „Sie waren doch so treu und fleißig, Opa?“ – „Ein Schwan ist treu und dennoch einsam. Menschen können sich helfen.“

Das kleine Mädchen dachte nach. Sie war nun froh, ein Mensch zu sein.



27. 07. 2009

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Klaus Buschendorf).
Der Beitrag wurde von Klaus Buschendorf auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.05.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Klaus Buschendorf als Lieblingsautor markieren

Buch von Klaus Buschendorf:

cover

Filosofische Märchen oder Skurrile Gute-Nacht-Geschichten für Erwachse von Klaus Buschendorf



Wollen Sie spielerisch durch Zeiten gehen, Personen und Vorstellungen zusammen bringen, die nicht zueinander gehören - oder doch? Springen Sie in zwanzig kurzen Geschichten auf märchenhafte Weise durch Jahrtausende.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Märchen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Klaus Buschendorf

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Flüchtlinge und wir - meine große Sorge von Klaus Buschendorf (Gesellschaftskritisches)
Die Zwillingspuppen von Christa Astl (Märchen)
Alte bleiben länger jung von Norbert Wittke (Gedanken)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen