Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie Teil 8 (vorläufiger Titel)

 

Was bisher geschah

Michael verbringt seine Sommerferien auf dem abgelegenen Gut seiner Tante in Schottland. Schon bald muß er feststellen, dass dort etwas ganz und gar nicht stimmt. Ein unheimlicher Fremder treibt sein Unwesen in dem dichten Wald rund um das Gut, und Michael ist entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Aber das ist viel gefährlicher, als er sich das in seinen kühnsten Träumen vorgestellt hat...............

 

Der Blick, mit dem ihn seine Tante am nächsten Morgen musterte, als er mit dem Beil in der Hand die Treppe herunterkam, sprach Bände.

"Willst du dich nützlich machen, oder gibt es eine andere Erklärung dafür?", fragte sie spöttisch. Michael spürte, wie er rot wurde.

"Ich hatte heute Nacht ein klapperndes Geräusch gehört", rechtfertigte er sich, während er die Axt in der Küche deponierte. Ein Blick durch das Küchenfenster zeigte ihm, daß von dem Unwetter, abgesehen von ein paar Pfützen auf dem Hof, nichts mehr übrig war. Strahlender Sonnenschein ließ sogar die in der vergangenen Nacht so düster wirkende Scheune freundlich erscheinen, und Michael fragte sich, ob er nicht alles nur geträumt hatte. Er bedauerte, daß er Sammy nicht fragen konnte, der träge auf dem Küchenboden lag und den Eindruck erweckte, als wäre nichts geschehen. "Einer der Fensterläden hatte sich im Sturm gelöst", ergänzte Michael.

"Und da wolltest du ein wenig Conan der Barbar spielen und hast dir die Axt geschnappt", zog Tante Betty ihn auf. Michael nickte und grinste verlegen. Tante Betty war seiner Mutter ähnlicher, als er gedacht hätte. Er spürte, daß es auch bei ihr wenig Sinn machen würde, sich auf eine Diskussion einzulassen. Er würde nur verlieren. Mit möglichst unschuldigem Gesicht ließ er sich am Küchentisch nieder.

"Und was steht heute an?", versuchte er, das Gespräch in eine andere Bahn zu lenken. Tante Betty runzelte zwar die Stirn, ließ das Thema aber erst einmal fallen.

"Wir fahren nach Fort William. Dein Onkel hat ein paar archäologische Bücher über diese Gegend hier bestellt, die ich heute abholen will und hinterher dachte ich, könnten wir noch eine kleine Fahrt mit der Dampfeisenbahn machen."

Michael war sofort begeistert. Als Kind hatte er oft mit seiner Eisenbahn gespielt und mit seinem Vater die Miniatureisenbahnanlage in der Speicherstadt bewundert, aber selbst einmal mit einer solchen Bahn zu fahren, war natürlich etwas ganz anderes. Gut gelaunt bereitete er sein Frühstück zu und biß kurze Zeit später genüßlich in ein mit Honig bestrichenes Toastbrot.

"Was für Bücher sind denn das, die du abholen willst?", fragte er mit vollem Mund, weil er sich nicht vorstellen konnte, was sein Onkel mit archäologischen Bücher dieser Gegend anfangen wollte.

"Keine Ahnung", gestand Tante Betty achselzuckend, während sie ihn tadelnd ansah. Offenkundig hielt sich nichts davon, sich mit vollem Mund zu unterhalten. "Dein Onkel hat vor einiger Zeit unweit von hier in den Ruinen der alten Burg auf dem Hügel eine seltsame Steintafel gefunden, und nun will er unbedingt wissen, was es damit auf sich hat."

Michael horchte interessiert auf.

Seltsame Steintafel, Ruinen, das klang interessant.

"Was für eine Tafel", hakte er kauend nach.

"Ungefähr so groß wie ein kleines Buch, bedeckt mit winzigen Zeichen. Er hat sie überall schon herum gezeigt, aber niemand konnte damit etwas anfangen. Wahrscheinlich hofft er, daß sie ein Vermögen wert ist und will nun versuchen, Mithilfe der Bücher ihren Wert zu ermitteln", scherzte Tante Betty.

"Kann ich sie mal sehen?"

"Klar, aber erst nach dem Frühstück."

Die Steintafel war in der Tat beeindruckend. Sie war von einem glänzenden Schwarz, Obsidian vermutete Michael, und lag kühl in der Hand. Eine Seite war mit Reihen unbekannter, winziger Zeichen von solch filigraner Anmut bedeckt, daß Michael sich nicht vorstellen konnte, welch altertümliches Werkzeug dies hätte fertig bringen können. Seiner Ansicht nach hätte man dafür einen Präzisionslaser benötigt. Die andere Seite hingegen war makellos glatt.

Er konnte verstehen, daß sein Onkel herausbekommen wollte, was er dort gefunden hatte. Für einen kurzen Augenblick flüsterte ihm eine leise Stimme zwar zu, daß vielleicht diese Steintafel die Ursache für die seltsamen Ereignissen der letzten Tage war. Dann aber wischte er die abstruse Vorstellung beiseite, zumal noch gar nicht feststand, ob die Tafel überhaupt etwas wert war. Abgesehen davon, gab es ja auch noch immer die Möglichkeit, daß er sich nur alles eingebildet hatte. Trotzdem verstaute er, einem inneren Impuls folgend, die Steintafel in seinen Rucksack. Dort war sie im Zweifel auch nicht schlechter aufgehoben, als in dem unbewachten Haus, wenn sie ihre Spritztour unternahmen.

Dann half er Tante Betty die Fensterläden zu schließen, wobei es ihm bei dem Gedanken an die gestrige Nacht eiskalt über den Rücken lief, als er ein paar massive Kratzer an den Läden des Küchenfensters entdeckte. Andererseits waren sämtliche Läden alt und wiesen alle starke Gebrauchsspuren auf. Allerdings sahen diese Kratzer verdammt frisch aus.

Da er vermutete, daß seine Tante sich nur wieder über ihn lustig machen würde, wenn er ihr seine Entdeckung mitteilte, verkniff er sich eine Bemerkung.

Nachdem alle Fensterläden verschlossen waren, folgte Michael seiner Tante hinaus in den hellen Sonnenschein.

"Schönes Wetter", bemerkte Tante Betty. Der Schlüsselbund in ihrer rechten Hand klimperte melodisch, als sie die Tür schwungvoll schloß und sich den Schlössern zuwendete. Mit einem knirschenden Geräusch verrichtete der erste Schlüssel seinen Dienst.

Dann stand dem Ausflug nichts mehr im Wege. Als sie den Wagen rasant vom Hof hinunter lenkte, konnte Michael sich des Eindrucks nicht erwehren, beobachtet zu werden. Er fröstelte bei dem Gedanken, daß irgendwo in diesem Wald etwas lauerte, das nur auf den geeigneten Moment wartete, in dieses Haus einzudringen.

Aber warum?

Er zermarterte sich das Gehirn bei dieser Frage, während der Range Rover den düsteren Wald durchquerte, der das Haus von der Landstraße trennte. Mit Unbehagen musterte er die vorbeiziehenden Bäume und zuckte jedesmal zusammen, wenn einer der Äste quietschend über den Lack schrammte.

 

Hätte er in diesem Moment einen Blick auf den Hof werfen können, wären seine Befürchtungen bestätigt worden. Eine düster wirkende, verhüllte Gestalt löste sich aus den tiefen Schatten des Waldes, der im eisigen Schweigen lag, als wüßten selbst die Vögel in den Wipfeln der Bäume, daß es besser war, still zu sein, wenn es in der Nähe war.

Mit schleppenden Schritten betrat es vorsichtig um sich spähend den verlassenen Hof. Der Kies knirschte dabei protestierend bei jedem Schritt, als würde unter dem bis zum Boden reichenden Gewand etwas Scharfkantiges über die Steine schaben. Dann blieb es am Rande des Schattens, den der Wald warf, stehen und ballte die Klauen in den weiten Ärmeln des Gewands vor Wut zusammen. Die magische Präsenz, die er in der Nacht noch wie ein Leuchtfeuer wahrgenommen hatte, war verschwunden.

Doch wo war sie hin?

Das Wesen erwog nachdenklich die möglichen Optionen.

War sie ihm etwa zuvorgekommen?

Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Das Wesen schnaubte verächtlich. Dann blieb nur eine Option offen.

Sie hatten es mitgenommen.

Aber warum?

Ahnten sie, was sie dort in den Händen hielten oder spielten sie nur damit?

Ein böses Grinsen trat auf die verunstalteten Züge des Wesens, als ihm gewahr wurde, daß die Situation sich dadurch zu seinen Gunsten gewendet haben könnte. Möglicherweise hatten sie keine Ahnung wozu es fähig war, und das würde er sich zunutze machen. Sein Suchzauber würde ihm den Weg weisen, wie er es schon einmal getan hatte, und dann würden sie eine böse Überraschung erleben. Allerdings war dies auch mit einem gewissen Risiko verbunden, denn es hatte das letzte Mal fatal auf die Magie der Finsternis reagiert.

Nur deshalb war er überhaupt in dieser verfluchten Welt gelandet.

Aber er mußte es trotzdem riskieren und diesmal sorgfältiger vorgehen. Es galt nur den richtigen Zeitpunkt und vor allen den richtigen Ort zu bestimmen, um es an sich zu bringen. Auch wenn es sie anlocken würde, wie das Licht die Motte. Ein düsteres, unheilvolles Lachen quoll aus der Tiefe der Kapuze hervor, als sich das Wesen umwandte und entschlossen auf den nahen Waldrand zuhielt. Es galt viel vorzubereiten, wenn der Plan funktionieren sollte. Dunkelheit schien an der Stelle aus der Erde zu quillen und die Schatten in tiefe Finsternis zu hüllen, an der das Wesen in den Wald eintauchte und verschwand.

Nach einer Weile begannen die Vögel wieder zaghaft zu tschilpen.

 

Michael atmete erleichtert auf, als sie endlich die Landstraße erreichten und die ersten anderen Wagen zu Gesicht bekam. Schon nach wenigen Kilometern hatte er die Schrecken der vergangenen Nacht fast vergessen und erfreute sich an der Natur. Nie hätte er gedacht, daß Schottland so schön und interessant sein könnte. Beim Clachaig Inn, etwa zwei Meilen südöstlich der Ortschaft Glen Coe, am westlichen Ende des Tales, besuchten sie sogar drei Filmkulissen, unter anderem Hagrids Hütte.

Dann ging es weiter nach Fort William. In der lebhaften Kleinstadt fand seine Tante zu Michaels Erstaunen relativ problemlos einen Parkplatz nahe der Bücherei. Nachdem sie die Bücher abgeholt und im Kofferraum verstaut und Sammy, der Dampfeisenbahnen nicht mochte, bei einer Freundin abgegeben hatten, machten sie sich daran, die Stadt zu durchstreifen.

Als sie den Bahnhof betraten, bestaunte Michael ehrfurchtsvoll die gußeiserne Dampflokomotive. Rauch stieg träge aus dem Schornstein und der Pfeife des Lokführers auf, der aus dem geöffneten Fenster heraus die Menschenmenge beim Einsteigen beobachtete. Freundlich nickte er Michael zu. Unterhalb des Fensters prangte in goldenen Lettern die Nummer der Lokomotive, die 75014.

Aufgeregt erklomm Michael die Stufen des altehrwürdigen Waggons und fühlte sich sogleich in der Zeit zurückversetzt. Die Waggons waren wirklich etwas Besonderes. Sich neugierig umsehend folgte er seiner Tante in ihr Abteil, in dem sie ihnen Fensterplätze gebucht hatte. Michael konnte es kaum abwarten, loszufahren. Ein lauter Pfiff verkündete dann endlich die Abfahrt, und unter dem protestierenden Ächzen der großen Antriebsräder setzte sich die Bahn langsam in Bewegung.

Die Reise in die Vergangenheit begann.

In der Tat bot die Fahrt spektakuläre Aussichten. Michael konnte sich gar nicht satt sehen, und dabei hatten sie den Höhepunkt der Fahrt, die Überquerung eines weiten Viadukt bei Glenfinnan, erst noch vor sich. Nach einer Weile jedoch verspürte er den Drang, sich durch den altehrwürdigen Zug zu bewegen und die anderen Waggons zu erkunden. Vielleicht gelang es ihm ja sogar, bis zur Lokomotive vorzudringen und dort ein paar Fotos zu schießen. Seine Tante sah ihn zwar für einen Augenblick mißbilligend an, als er seinen Wunsch äußerte, dann seufzte sie jedoch und gab nach. Ihre Schwester hatte sie ja vorgewarnt. Der Junge hatte wirklich Hummeln im Hintern. Aber sie konnte es ihm nachempfinden. In seinem Alter war sie genauso gewesen.

Mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, als habe er gerade eine Schlacht gewonnen, schritt Michael nun mit festen Schritt durch die leicht hin und her schwankenden, völlig überfüllten Waggons. Gelegentlich blieb er stehen und kramte die Digitalkamera aus seinem Rucksack hervor, um ein paar Fotos auf den Chip zu bannen.

Wenn er richtig mitgezählt hatte, trennten ihn nun nur noch zwei Waggons von der Spitze des Zuges. Vielleicht würde sich dort eine Möglichkeit ergeben, auf die Lokomotive zu gelangen! Und das wäre wirklich der Hammer, ging es ihm durch den Kopf.

Die Ungeduld brannte ihm bei diesem Gedanken auf den Nägeln, so daß er mit Schwung die Kamera zurück in den Rucksack stopfte und dabei verblüfft innehielt. Ein blassrotes, pulsierendes Licht blinkte ihm aus den Tiefen seines Rucksacks entgegen. Irgendwo zwischen dem Fantasy Buch, seiner Baseballkappe, den drei Dosen Cola und dem MP3-Stick. Verwirrt runzelte er die Stirn. Außer diesen Gegenständen befand sich nur noch eine Sache in seinem Rucksack, und die konnte unmöglich leuchten. Oder etwa doch?

Seine Hand zitterte leicht, als er nach der Steintafel tastete, die am Boden des Rucksacks mit den Zeichen nach unten lag. Sie fühlte sich warm an. Vorsichtig drehte er sie um und pfiff erschrocken durch die Zähne. Die Zeichen leuchteten tatsächlich rhythmisch in einem tiefen Rot, als würden sie vor etwas warnen.

Ungläubig rieb sich Michael die Augen. Entweder war er übergeschnappt, oder er hatte hier etwas in den Händen, für das so mancher Wissenschaftler seine linke Hand gegeben hätte.

Während er fasziniert auf die Zeichen starrte, spürte er plötzlich, daß etwas nicht stimmte.

Irgend etwas war anders.

Irritiert sah er auf, worauf ihm die Tafel vor Schreck beinahe aus der Hand gefallen wäre. Die grüne, wellige Landschaft Schottlands jenseits der Zugfenster war verschwunden. Ihre Stelle hatte eine blasse, öde, kahle Gegend eingenommen, die von einem blutroten Himmel nur spärlich beleuchtet wurde. Michael merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Seine Tante hatte ihm zwar von dem Unglück anläßlich der Dreharbeiten erzählt, er bezweifelte aber, daß vierzig Hektar Wald eine Fläche bis zum Horizont ausmachen würden. Erst jetzt viel ihm auf, daß das nicht das Einzige war, das sich verändert hatte. Das Geräusch der rumpelnden Rädern klang ebenfalls nicht mehr wie früher. Es erschien ihm jetzt gedämpfter und irgendwie falsch.

Hinzu kam, daß der eben noch voll besetzte Waggon nun mehr menschenleer war.

Das war verrückt!

Vor ein paar Sekunden hatten hier noch Dutzende von Touristen ihre Fotoapparate und Camcorder geschwungen und sich am Fenster um den besten Platz gestritten, und nun waren sie alle verschwunden.

Nur er war übrig geblieben.

Aber allein war er keineswegs.

Das Gefühl, daß irgend etwas Böses von diesem Zug Besitz ergriffen hatte, war gerade zu übermächtig geworden. Eine innere Stimme flüsterte ihm dabei hartnäckig zu, daß etwas auf der Jagd war – nach ihm.

Beunruhigt sah er sich in dem leeren Waggon um, während er mit fliegenden Fingern die seltsame Tafel wieder in seinem Rucksack verstaute. Dann schlich er zurück zu dem Abteil, in dem er eben noch mit Tante Betty gesessen hatte. Aber auch dort herrschte nur das diffuse Zwielicht, welches alles so irreal erschienen ließ. Es war fast so, als wäre er nur durch einen hauchdünnen Vorhang von der Wirklichkeit getrennt, der aber zu stabil war, als daß er ihn hätte zerreißen können.

Das Geräusch der Tür des Nachbarwaggons ließ ihn herumfahren.

Jemand war auf der Plattform zwischen den Waggons und würde jeden Moment diesen Waggon betreten. Wie gebannt starrte Michael auf die Abteiltür, die protestierend quietschte, als sie mit brachialer Gewalt geöffnet wurde. Er spürte, wie ihm die Knie beim Anblick des Unbekannten weich wurden, der nun den Waggon betrat und schweigend stehen blieb.

Nie zuvor hatte Michael eine unheimlichere Gestalt gesehen.

Eine düstere Aura umgab die vollkommen in derbes, schwarzes Tuch gehüllte, leicht gebückte Gestalt wie einen unsichtbaren Mantel.

Michael erkannte sie wieder.

Es war die Aura, die er schon einmal gespürt hatte. Er schauderte bei dem Gedanken, daß diese unheimliche Gestalt ihm bereits im Wald aufgelauert hatte. Wer war der Unbekannte, und was wollte er ausgerechnet von ihm?

Die tief ins Gesicht gezogene Kapuze verbarg das Gesicht seines Gegenübers, wofür Michael fast dankbar war, denn eine innere Stimme sagte ihm, daß ihm der Anblick kaum gefallen würde. Ein Hauch von Verwesung hing seit dem Auftauchen des Unbekannten in der Luft, die ihn beinahe würgen ließ. Dies muß einer dieser schrecklichen Alpträume sein, aus denen man schweißgebadet hochschreckt, ging es Michael durch den Kopf, dessen Herz vor Furcht raste. Lediglich die Länge des Waggons trennten ihm von seinem unheimlichen Gegner, der reglos am anderen Ende stand. Eine stumme Drohung.

"Endlich!" Das Wort war nur ein Wispern, ein Raunen aus der Tiefe der Kapuze, und doch lag in diesem einem Wort eine solche Bedrohung, daß Michael nur noch einen Gedanken hatte:

Flucht!

In grenzenloser Panik wandte er sich um, sprintete die wenigen Schritte zum Ende des Waggons und riß die Tür zum nächsten auf. Für einen kurzen Moment warf er einen Blick über seine Schulter und bereute das sofort. Die schwarz gekleidete Gestalt folgte ihm mit schleppenden Schritt. Für einen Augenblick tauchten sichelförmige Klauen aus der Tiefe der weiten Ärmel auf. Entsetzt wandte er sich ab, verdoppelte seine Anstrengungen und verschaffte sich so einen kleinen Vorsprung.

Indes er durch die Waggons hetzte, fragte er sich erneut, warum der unheimliche Verfolger gerade hinter ihm her war? Was war so Besonderes an ihm, daß man ihm nachstellte?

Es konnte nur die Tafel sein, so absurd das auch klang. Die dringlichere Frage war allerdings, was er machen sollte, wenn er das Ende des Zuges erreichen würde? Er hatte zwar einen kleinen Vorsprung herausgeschlagen, trotzdem würde der ihm an Ende des Zuges wenig nützen. Den Kopf voll wirrer Gedanken betrat er den nächsten Waggons und blieb erschrocken stehen, als ihm gewahr wurde, daß er nicht allein war. Am anderen Ende des Waggons wartete eine weitere, in dunkles Tuch gekleidete Gestalt auf ihn. Er saß in der Falle.

Was sollte er jetzt tun?

Seine Gedanken rasten. Sollte er zurück auf die Plattform zu fliehen und von dort auf das Dach zu gelangen, wie er es schon in etlichen Actionfilmen gesehen hatte? Selbst in seinen Ohren klang das zwar nach Selbstmord, aber hatte er eine Wahl? Bevor er seine wahnwitzige Idee jedoch in die Tat umsetzen konnte, ließ eine weibliche Stimme ihn innehalten.

"Komm hierher! Rasch! Sonst wird er dich töten!"

Überrascht sah Michael auf und erkannte bei genauerem Hinsehen, daß die düstere Gestalt am Ende des Waggons sich als eine in ein in dunkelgrünes Tuch gekleidete junge Frau entpuppte, als sei sie einem Robin Hood Film entschlüpft. Mit einer fast lässig anmutenden Bewegung schob sie die leichte Kapuze ihres Gewands zurück, so daß dichtes, platinblondes Haar darunter hervorquoll und wie eine Welle über ihre Schultern und den Nacken glitt.

Über der rechten Schulter trug sie einen Langbogen sowie einen Köcher mit Pfeilen. Ihre rechte Hand zierte ein kurzes, aber gefährlich aussehendes Schwert. Michael hätte einiges darum gegeben, wenn er über so eine Waffe verfügt hätte, wenngleich er aus irgendeinem Grund bezweifelte, daß er damit seinem Verfolger ernsthaft etwas antun könnte.

Ein Raketenwerfer wäre vermutlich angebrachter.

Hinter ihm verkündete das Quietschen der Tür des Nachbarwaggons, daß sein Verfolger im Begriff war, jeden Moment diesen Waggon zu betreten. Eine Sekunde zögerte Michael noch angesichts des Schwertes in der Hand seiner angeblichen Retterin, dann sprintete er los. Schlimmer als es jetzt schon war, konnte es ohnehin nicht mehr werden. In Rekordzeit erreichte er die weibliche Robin Hood Version, die ihn eilig in den nächsten Waggon schob. Er war nicht sonderlich überrascht, als er feststellte, daß ihr ein Stück ihrer grünen Lederbekleidung fehlte. Zeit zum Nachfragen hatte er nicht, denn die Unbekannte drängte ihn, sich zu beeilen.

"Weiter, weiter, wir dürfen keine Zeit verlieren! Er darf es nicht in die Hände bekommen."

"Wer zum Teufel ist er?", stieß Michael keuchend hervor, während er gemeinsam mit seiner Retterin durch einen weiteren Waggon sprintete, erhielt jedoch keine Antwort. Wenn er richtig mitgezählt hatte, müßte der nächste Waggon der letzte sein und was dann kam, mochte er sich gar nicht vorstellen.

Er hatte sich nicht verzählt.

Als sie an der letzten Tür ankamen, war er der Verzweiflung nahe. Ihr Fluchtweg war definitiv zu Ende. Seine Begleitung schien dies weniger zu kümmern. Das Schwert hatte sie weggesteckt und war nun damit beschäftigt, mit fliegenden Händen, die Sicherung der letzten Tür zu öffnen. Kaum hatte sie das geschafft, zog sie Michael mit überraschender Kraft zu sich heran. Ihr Gesicht war nur eine Handbreit von dem seinen entfernt, und er glaubte, goldene Funken in ihren grünen Augen tanzen zu sehen. Erst jetzt viel ihm auf, wie ungewöhnlich das Mädchen aussah. Die leuchtend grünen Augen standen extrem schräg und waren von einem ovalen Schnitt. Die Nase war fein und leicht aufwärts gebogen, die Lippen sanft geschwungen. Am seltsamsten erschienen Michael aber ihre Ohren. Wenn ihn seine Augen nicht täuschten, so verfügte dieses Mädchen unter dem dichten, platinblonden Haar über Ohren, mit denen sie durchaus Spock hätte Konkurrenz machen können. "Faszinierend", murmelte Michael und lächelte zum ersten Mal wieder, aber die Unbekannte holte ihn schnell in die Wirklichkeit zurück.

"Du mußt springen", wies sie ihn eindringlich an. "Das ist deine einzige Chance!"

Michaels Blick irrte daraufhin zwischen dem Gangausschnitt, in dem jeden Augenblick sein leibhaftig gewordener Alptraum auftauchen würde und dem unter ihnen vorbei rasendem Boden hin und her. Er hatte keine Ahnung, wie schnell dieser Zug fuhr, dafür aber eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie ihm ein Sprung aus demselben bekommen würde.

"Das überlebe ich nicht. Außerdem ist das nicht gerade die Station, an der ich gerne aussteigen würde", wandte er hastig ein. In der Tat sah die Gegend alles andere als einladend aus. Zur Zeit durchfuhren sie anscheinend ein ehemaliges Vulkangebiet, denn das schroffe, schwarze Gestein rings herum war durchsetzt von spuckenden Geysiren und kochenden Tümpeln, aus denen nach Schwefel riechende Gase aufstiegen. Michael wußte zwar nicht allzuviel über Schottland, war aber überzeugt davon, daß diese Gegend auf keiner Landkarte verzeichnet sein dürfte. In diesem Moment tauchte ihr Verfolger wieder auf.

"Wir sehen uns bald wieder", flüsterte Michaels Begleiterin, dann verpaßte sie ihm ohne zu zögern einen kräftigen Stoß, der ihn rückwärts aus dem Zug beförderte und wandte sich in einer fließenden Bewegung der heran stürmenden Bedrohung zu. Das letzte, was Michael hörte, war das ärgerliche Brüllen des Unbekannten, als ihm gewahr wurde, daß seine Beute entkommen war. Dann schlug er hart auf dem Boden auf und verlor das Bewußtsein.

Noch immer sind Anregungen herzlich willkommen, da jede Kritik hilft, das Manuskript zu verbessern. Die Forsetzung folgt in ca. einem Monat.

LG

Klaus-Peter Behrens

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.05.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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