Daniel Flege

Prioritäten der Liebe

Nur noch 5 Stunden. Nur noch 5 Stunden, dann sollte eine Ära zu Ende gehen, der Fortschritt stillstehen, die geistige Entwicklung eines Menschen gefrieren. Nur noch 5 Stunden, dann würde SIE weg sein. Für immer? Wahrscheinlich. Oder nur für die Zeitperiode in der ihre Eltern ?ihre Süße? noch nicht gehen lassen wollen. Schließlich hatten sie ja die Idee mit dem Wegziehen. Für mich unbegreiflich, aber ?man möchte der Familie ja näher sein?. Vor allem in diesen schwierigen Zeiten. Die Oma sterbenskrank. Da reicht eine Stunde Autofahrt nicht, der Tod wartet schließlich nicht auf die liebe Verwandtschaft. Aber warum musste sie mit? Warum das Glück einer jungen, zukünftigen Generation zerstören, um einer alten, sterbenden Generation das Ableben freundlicher zu gestalten? Nur Gott selbst weiß darauf eine Antwort und nur er wir wohlmöglich gewusst haben, welche Liebe gewichtiger ist.
Ich griff zum Telefon. Ein letztes mal diese eine Nummer wählen. Dieses eine letzte mal antwortete auch sofort diese eine wohltuende Stimme. Kein letztes ?Kann ich mal die Kathi sprechen?, jedenfalls nicht bei dieser Nummer. Sie wusste sofort wer dran war. Das lag entweder an ihrer Intention, oder an der Nummererkennung des Handys ihrer Eltern. Wir begrüßten uns, erkundigten uns nach unserem Wohlbefinden, die ganze Drumherumrederei, die die Menschen nun einmal praktizieren um nicht unhöflich und hastig zu wirken. ?Du, wegen Gestern...?, sagte sie, ?Ich...?. Ich unterbrach sie: ?Bevor du was sagst muss ich zu meiner Verteidigung erwähnen das es mir für etwas tolleres an Geld gefehlt hat?. Wir lachten. ?Eigentlich wollte ich sagen, das ich mir nichts schöneres hätte vorstellen können?. Bevor wir jedoch mehr über ihre gestrige Abschiedsparty reden konnten, wurden wir von ihren Eltern unterbrochen. Ich wurde das Gefühl nicht los, das ihre Eltern es sich zur neuen Lebensaufgabe gemacht haben, mir auf den Nerv zu fallen.
Wir verabredeten uns noch schnell, um die restlichen Stunden zu genießen die uns noch blieben.
Ich saß im Bus und starrte aus der Seitenscheibe. Wie immer belegte ich einen Fensterplatz um mich in einer schon recht gereizten Phase nicht durch irgendwelche dummen Gesichter oder durch völlig verblödete Personen mit überaus geistreichen Kommentaren aus der Fassung bringen zu lassen.
Es war Sommer, das merkte man. Überall tummelten sich vergnügte Paare, Gift für jemanden, der das alles im Begriff war aufzugeben, nein, dazu gezwungen wurde.
Aber wie dem auch sein, es war zwecklos daran herumzumeckern, es half nichts. Die Entscheidung stand, die Koffer waren gepackt, es war zu Spät.
Ich stand vor ihrer Haustür und schaute auf die Uhr. Es waren nur noch 1 ½ Stunden übrig, um mich von ihr zu Verabschieden. Zu wenig Zeit um einem Menschen zu zeigen wie sehr er einem Fehlen wird. Auf der grauen ?Tritt ein...?-Matte stehend, blickte ich hinauf zu ihrem Zimmer. Die Gardinen waren abgehangen, die Fensterverzierungen entfernt. Das Leben schien aus dem Haus entwichen zu sein, wie die Luft aus einem zerstörten Ballon. Es war niemand zu sehen. Die Garage war zu, auf der Einfahrt stand kein Auto und kein LKW. Entweder es befand sich in der Garage oder es war schon fort. Fort mit ihr. Fort mit allem was mir momentan etwas bedeutete. Ich tat einen Schritt nach vorne, drückte meinen Finger auf den Klingelknopf. An diesem Haus vielleicht zum letzen mal...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.11.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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