I.
Hoch im Norden, auf der anderen Seite des weiten blauen Meeres, liegt
die Stadt Dumbaß. Diese ist die Hauptstadt eines zwar nur kleinen, doch
dafür umso reicheren Landes gleichen Namens. Die Herren von Dumbaß sind
seit langem bekannt für ihre seltsamen Verhaltensweisen, Einfälle und
Späße. Ihre Gesetze, Bauten und Unternehmungen können die Einwohner des
Landes kaum noch überraschen; für Ausländer dagegen muten sie teils
umso sonderbarer an. Vor etwa einhundert Jahren nun hatte ein Herrscher
sich einen neuen Palast erbauen lassen. Dieser Palast liegt am Rande
der Stadt; seine Ausmaße sind gewaltig. Im Gegensatz zu den Palästen
anderer Städte oder Reiche bietet dieser seinen Bewohnern auch einen
unmittelbaren Zugang zum Land. Von der Mitte des höchsten Stockwerks
des Gebäudes aus kommt man dorthin: über zahlreiche große Treppen mit
breiten Stufen, die auch Reittieren genug Platz bieten, gelangt man
zunächst sowohl immer tiefer in den Palast als auch zu dessen Rande
hin. Nach zahlreichen hunderten schön geschmückten Stufen erreicht man
dann die Außenwelt. Eine gewaltige Öffnung begrüßt den Reisenden, den
Blick auf den Himmel offenbarend. Natürlich wäre dies eine zu große
Einladung für Angreifer und Diebe, weshalb ein großes Tor den Eingang
verschließt. Vor allem aber erheischt man nach diesem Tor einen Blick
auf einen mit Bäumen und Blumen umgrenzten Weg, der sich um und über
Hügel immer weiter gen Osten schlängelt. Auf dem Großteil seiner Länge
ist diese Mischung aus Park und Straße ummauert. Die Mauern flankieren
es für eine mehrstündige Reisezeit gen Osten, damit nicht Pack und
Gesindel ständig an das Tor klopfen können. Zu Beginn sind diese Mauern
zahlreiche gestapelte Männer hoch, doch stetig werden sie niedriger,
bis sie schließlich ganz zu Ende sind. Zu diesem Zeitpunkt jedoch ist
man auch schon auf dem offenen Land und fern von Stadt und Palast. Das
Betreten und Bereisen des Weges ist übrigens niemandem verboten, doch
die wenigsten wählen diese lange Strecke, wollen sie den Herrscher
besuchen; die meisten nutzen lieber das Haupttor des Palastes, welches
über einen Innenhof zum Thronsaal führt. Es entstanden jedoch andere
Zwecke für die Straße: Kinder nutzen sie für Mutproben, Liebende
schlendern an den Parkanlagen vorbei und zweimal im Jahr werden Rennen
auf dem Weg abgehalten. Einmal jedoch, da wollte der Zauberer Gasstes
diesen Weg für seine Zwecke schändlich missbrauchen.
II.
Östlich der Stadt Dumbaß, fern dessen herrschaftlichen Weges, lebte der
Bauer Mazti. Dieser besaß nur einen kleinen Hof mit zwei Hühnern, einer
Ziege sowie drei kleinen Feldern. Man könnte also feststellen: er war
arm. Und doch – auf seinem Grundstück, so hatte man Gasstes erzählt,
befand sich eine für dessen Zwecke dienliche Erzader, weshalb er es
besitzen wollte. Gasstes kam aus dem Osten und Mazti hatte nie zuvor
von ihm gehört, wenngleich er in seiner Heimat als schlimmer
Hochstapler galt, der sich als Zauberer ausgab um Leute mit weniger
Verstand ausnehmen zu können. Sein Ziel diesmal war also Mazti. An
einem schönen sonnigen Tag erreichte Gasstes den Hof; Mazti molk gerade
seine Ziege vor seinem Haus. Gasstes begrüßte ihn und stellte sich
artig vor: Gasstes, der Zauberer – d e r Gasstes – als wäre er
weltberühmt. Mazti – der einfältige, gutgläubige Bauer – zeigte sich
davon äußerst beeindruckt, zumal Gasstes ihm zur Unterstreichung seiner
Worte Kunststücke aus seinem Hut vorführte, doch wunderte sich immerhin
auch, was ein solcher Mann nun ausgerechnet bei ihm suchte. Gasstes
beschloss, nicht weiter drumherum zu reden und offenbarte Mazit: Er
würde ihm seinen Hof abkaufen wollen und bot ihm dafür eine gewaltige –
traumhafte – Summe, sollte er einwilligen. Doch Mazti musste ablehnen,
hing er doch mehr an seinem Leben auf dem Hof denn am schnöden Gelde –
und was sollte e r sich denn schon kaufen? Da kam Gasstes die Idee, es
mit einer anderen List zu versuchen. Er sah, dass Mazti nur das Leben
als Bauer und alles Dazugehörige interessierte, doch dass der Ertrag
seiner Felder mehr als kärglich schien. In seinen Taschen fand er
einige Samen einer Blume, die von seinem letzten Mahl übriggeblieben
waren. Diese versuchte er dem armen Mazti als Zaubersamen zu erklären –
Samen mehrerer Gemüsearten, die in jedem Boden gedeihen würden. An dem
staunenden Blick seines Gegenübers sah er seinen Sieg nahen. Doch
sogleich erläuterte der Bauer, dass er seinen Hof auch dafür nicht
verkaufen würde – ohne dabei zu bemerken, dass sie ihm ohne Hof sowieso
nichts brächten. Aber Gasstes erwiderte schnell: das wollte er auch gar
nicht. Vielmehr sei es sein Anliegen, einem dermaßen harten
Geschäftspartner – und weil er von Natur aus ein Spieler sei – die
Gelegenheit zu geben, diese Samen im Wettstreit zu gewinnen. Dazu müsse
er nur in einem Rennen gegen ihn gewinnen – einem Rennen vom beginn des
ummauerten Weges bis hin zum Palast. Da Mazti ihn zweifelnd ansah
ergänzte er noch, er würde ihm dabei eine Stunde Vorsprung gewähren. -
Gegen einen Zauberer könnte er doch nie gewinnen, sprach da Mazti. -
Dass er nicht durch Zauberei betrügen könne, würden Zuschauer
überwachen, versprach Gasstes. Nachdem sie sich dann noch ein wenig
besprachen, verabschiedeten sie sich – Mazti hatte eingewilligt. Eine
Woche später würden sie sich an der Mauer treffen; bis dahin wollten
sie es allen verkünden, um möglichst viele Zuschauer zu haben. Doch
natürlich hatte Gasstes trotzdem vor zu betrügen.
III.
Eine Woche später trafen sich die beiden Wettstreitenden am Ende des
ummauerten Weges. Mazti hatte sich herausgeputzt – Gasstes war ein Geck
wie immer. Beide hatten zahlreich Volk aus aus Nord und Süd sowie der
Stadt heraufbeschworen, die sich an diesem Tage nun an der gesamten
Länge des Weges sammelten, um zu gaffen. Viele lachten Gasstes aus, als
sie hörten, er würde dem Bauer Vorsprung gewähren; viel mehr noch
hatten sie Mitleid mit Mazti, denn dieser hatte nun seinen Hof als
Einsatz in seiner Gutgläubigkeit gesetzt und sie trauten Gasstes mehr
den Betrug durch Zauberei denn Ehrlichkeit zu. Und selbst das
Herrscherpaar hatte von dem Wettstreit gehört und kam auf einen Balkon
des Palastes hinaus, wo sie verkündeten, den Zauberer hinrichten zu
lassen, sollte er dennoch betrügen. Zunächst aber geschah alles wie
abgesprochen. Der Zauberer gewährte dem Bauern den versprochenen
Vorsprung. Während Mazti vorwärts preschte, setzte sich Gasstes für
eine Stunde reglos auf ein Ende der Mauer, beobachtet von Dutzenden von
Zuschauern, die auf jeden Trick gefasst waren. - Doch nichts geschah.
Eine Stunde lang verharrte Gasstes ruhig wie ein Bildnis. Bald fragte
man sich, ob er sich nicht tatsächlich gegen eines eingetauscht hätte,
doch viele sahen ihn atmen. Sodann ging ein Raunen durch die Menge und
alle fragten sich, was dieser Zauberer nun vorhatte. Aus der Richtung
zum Palast hin kamen immer wieder Meldungen, dass Mazti gut vorankam:
Er rannte, als ginge es um sein Leben. Doch allmählich schienen ihn die
Kräfte zu verlassen: Er wurde immer langsamer. Dies hörte auch Gasstes
und ein zufriedener Ausdruck schlich sich in sein Gesicht.
Nachdem die Stunde dann abgelaufen war, musste ihm niemand die Zeit
ansagen; ganz von alleine fing er an zu laufen und fiel sofort in einen
ruhigen Trab. Die Menge blickte ihm staunend hinterher und nach und
nach setzten auch sie sich in Bewegung; ihm zu folgen oder heim zu
gehen. Gut vier Stunden dauerte es, da kam vor Gasstes der sich langsam
vorkämpfende Mazti in Sicht. Seine Kleidung war durchgeschwitzt, sein
Lauf schleppend und lahm, der Atem weithin hörbar keuchend. Wenig
später dann überholte der Zauberer den Bauern und winkte ihm sogar noch
fröhlich zu, was dieser aber kaum bemerkte; sein Blick war verschleiert
von Schweiß. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis Gasstes den Palast
vor Mazti erreichte und sich feiern ließ – oder besser gesagt: sich
feiern lassen wollte, für seinen rechtmäßigen doch listigen Sieg. Denn
aufgestachelt von einzelnen, buhte ihn bald die ganze Masse aus, hatte
er doch den armen Bauern dank dessen Dummheit hereingelegt. Als dieser
schließlich fast angekrochen kam und sich erschöpft in den Staub warf,
verlangte Gasstes sogleich dessen Hof von ihm. Doch Mazti konnte nicht
antworten; er war bewusstlos. Gasstes kramte stattdessen in seinen
Taschen nach dem Schlüssel zum Hof – da unterbrach die Trompete eines
herrschaftlichen Dieners das Getöse und brachte jedes Raunen zum
Schweigen.
Was folgte, sei kurz erzählt: Das Herrscherpaar hatte zu dieser Zeit
gerade Besuch aus dem Osten. Zusammen genossen sie das Schauspiel
unterhalb des Palastes, doch kaum da Gasstes ihn erreicht hatte, sprang
der Besuch aufgeregt von seinem Stuhle auf. Eilig erklärte er dem
Herrscherpaar, dass er das Gesicht dieses Mannes bereits von
Steckbriefen aus seiner Heimat kannte. Gasstes der Zauberer wurde
daraufhin eilig von den Wachen des Palastes verhaftet, abgeführt und in
den Kerker gesperrt, damit er den Besuch begleitend in dessen Heimat zu
seiner Hinrichtung gebracht werden könne. Auf diese Art schaffte der
Bauer Mazti es, seinen Hof behalten zu können – er hatte mehr Glück als
Verstand besessen. Bis zu seinem Lebensende konnte er seine öden Felder
bestellen. Gasstes jedoch wurde ohne Gewinn in den Osten überführt –
doch verschwand unterwegs plötzlich; nur seine leeren Bein- und
Handschellen blieben von ihm. In keinem der beiden Länder sollte man je
wieder von ihm hören. Nun war man allerdings doch noch davon überzeugt,
dass Gasstes ein wahrer Zauberer gewesen sei.
ENDE
Anmerkung des Herausgebers
Diese Geschichte aus dem hohen Norden ist ein dort allseits beliebtes
Märchen, wie es davon viele gibt. In anderen Ausführungen der
Geschichte gewinnt Gasstes zum Beispiel durch einen Zwillingsbruder und
raubt indessen Maztis Hof aus, in anderen wird er doch noch
hingerichtet. Oft werden die Figuren auch gänzlich anders benannt. Doch
Dumbaß und diese Straße gibt es wirklich.
Tonn Onasi, Jagâharis des Hauses des Buches von Raygadun
Raygadun, Aleca, 03.06.3995
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Andre Schuchardt).
Der Beitrag wurde von Andre Schuchardt auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.06.2009.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Andre Schuchardt als Lieblingsautor markieren
Ducko Der kleine Drache
von Margit Marion Mädel
Ducko, der kleine Drache muß viele Abenteuer bewältigen und findet auf der Suche nach anderen Artgenossen viele neue Freunde auf der Welt. Ob er aber irgendwo in der Welt noch Drachen finden wird, dass erfahrt ihr in dieser kleinen Geschichte…
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: