Hella Schümann

Norderney, sechster bis letzter Tag

 

Es ist der sechste Tag und heute scheint zum ersten Mal auch morgens die Sonne. Wie jeden Morgen war ich schon um 6 Uhr wach und da es erst ab 8 Uhr Frühstück gibt, habe ich ein bisschen ferngesehen. Nach dem Frühstück saß ich bis mittags auf einer Bank, habe gelesen und mich mit verschiedenen Leuten unterhalten.

Nachmittags suchte ich vom Hafen aus die Wege auf, die ich vor Jahren mit meinem Exmann  zurückgelegt hatte und versuchte damit diese schlechte Erinnerung loszuwerden. Damals waren wir am Hafen an den bunten Bojen entlang durch eine riesige Mulde gegangen. Sie hat mich ein bisschen verwundert, denn sie machte einen schlechten Eindruck. Wie eine geräumte Müllhalde sah sie aus. Diesmal konnte ich die Mulde nicht wiederfinden und dachte schon, mein Gedächtnis hätte mich im Stich gelassen, bis ich merkte, dass dort eine riesige Bucht entstanden war, mit  Segelbooten und  Surfern. Ich fand sogar die Lokale wieder, bei denen wir Station gemacht hatten. Mir wurde klar, wie sehr ich damals gelitten hatte: Wir besuchten diese schöne Insel und ich sah nur die Lokale. Ich wusste nicht einmal, dass es auch einen Ort auf Norderney gibt. Diesmal war alles anders, endlich konnte ich nach meinen Wünschen die Insel erkunden, ohne die Angst, dass wir wieder von einer Kneipe in die andere zogen. Ich konnte nach Herzenslust fotografieren, ohne dass jemand meckerte. Ich fand ständig neue Motive. 64 analoge Fotos habe ich geknipst. Fast drei Stunden war ich unterwegs, jetzt ist es meine Insel geworden. Obwohl ich immer allein unterwegs war, fühlte ich mich hier sehr wohl. Abends am Hafen ging die Sonne unter wie im Bilderbuch.

Der siebte Tag: Um 9 Uhr war ich schon unterwegs, erst zum Kurhaus, dort habe ich so lange am Brunnen gelesen, bis sich zwei schwatzhafte Frauen zu mir setzten, sie redeten pausenlos aneinander vorbei. So ging ich an den Strand und habe mich eine Stunde lang  gesonnt. Bis 11 Uhr war ich ganz allein am Strand, dann kamen hier und da ein paar Leute.

Mittags standen zwei Herren vor dem Hotel und verabschiedeten sich. Der eine sagte: „Gute Reise und weiterhin erfolgreiche Geschäfte." Darauf der andere: „Ich mache gar keine Geschäfte."

Am Strand  spazierte ein vierjähriges Mädchen neben seinem Vater her. Der Vater warnte das Kind: „ Halt die Brezel fest, guck mal, die Möwen lauern schon." Das Kind daraufhin: „Ich steck sie unter mein Hemd.“

Ich fand eine Nachricht in meinem Fach, die erste und einzige: Herr...heid kann nicht anrufen, er ist zur Jagd. Der Hotelchef fragte mich, ob ich mit der Nachricht etwas anfangen könne, er hätte leider den Namen nicht verstanden. Nun, es war eine Nachricht von Jens, er hat einen schwierigen Nachnamen. Abends habe ich allein Abschied von der Insel  gefeiert, mit echtem ostfrie-sischem Tee auf Stövchen. Der Tee bekommt kleine Wölkchen, wenn man die Sahne hineingießt. Später saß ich eine halbe Stunde am Meer und sah einen wunderschönen Sonnenuntergang. Solche Farben müsste man mischen können: Das Meer schimmerte hinten mittelgrau, ging dann in türkisgrau über und vorne legte die Sonne einen orangegoldenen Streifen. Die Schaumkronen leuchteten in hellblau und die Wasserlachen, die die Wellen hinterließen färbten sich rosa.

 

Heute ist der achte und letzte Tag. Morgens schon zog ich meine Reisekleidung an, obwohl ich den Ort erst um 16 Uhr verlassen musste, doch das Hotelzimmer sollte um 10:30 Uhr geräumt sein. Ich wollte noch ein wenig bummeln gehen. Das Mittagessen nahm ich in dem Lokal ein, in dem ich am ersten Tag Kaffee trank. Es gab ganz frische Krabben mit Spiegeleiern, sehr lecker. Um 16:08 Uhr fuhr der Bus zur Fähre ab.

Ich habe hier auf der Insel alles getan, was ich mir vorgenommen hatte. Ich bin sehr glücklich darüber, dass sich mein anfänglich beklemmendes Gefühl verlor. Ich habe die Insel für mich erobert, das Kapitel Norderney, eine Station meiner Ehe, hat sich  für mich erledigt.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.06.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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