Andreas Paulus

Schwarze Erde



Als ich aus meiner Wohnung ins Freie trat, blendete mich das Tageslicht, obwohl der Himmel völlig bewölkt war. Mein Wagen stand an der Straße, so ein Gebrauchtwagenaufkäufer hatte mal wieder eine Visitenkarte hinter den Scheibenwischer gesteckt „Wir kaufen ihr Auto! Auch Unfallwagen! Barauszahlung jederzeit möglich.“ Ich nahm die Karte und warf sie beim Einsteigen unter meinen Wagen.
Die Fahrt nach Dettmers dauerte etwa eine halbe Stunde. Meine Blicke schweiften über die doch sehr platte Landschaft, ich hätte gerne irgendwo in den Bergen gewohnt. Österreich, Bayern. Naja, Niedersachsen ist ja auch klasse…
Ich bog von der Hauptstraße auf das Grundstück meines Opas ein. Die Einfahrt wurde durch die wuchernde Hecke immer enger. Die dünnen Zweige bogen sich an meinem Auto und zerkratzten sicherlich ordentlich den Lack. Es kümmerte mich allerdings nicht mehr.
Mein Auto hatte eindeutig schon bessere Zeiten gesehen.
Um zur Garage zu gelangen, musste ich teilweise durch den Garten. Stolz ragte die Eiche neben der Garage auf. Sie mochte gut und gerne schon 200 Jahre alt sein, allerdings verriet ihr dicker Stamm kein einziges Anzeichen von Schwäche. Die Garage selbst war ein regelrechter Schuppen. Zusammengenagelt aus allen möglichen Brettern sah sie aus wie eine windschiefe Geisterhütte. Sollte bei einem kräftigen Sturm die Eiche doch mal ein wenig ihrer Schwäche einbüßen, wäre das auf alle Fälle das Ende der windschiefen Geisterhütte. Alles Mögliche stand in ihr, nur kein Auto.
Ich öffnete die schwere Tür, sie war mit Planken verstärkt worden. Als ich sie hinter mir wieder schloss, hatte mich die Dunkelheit sofort verschluckt.
Etwas unsicher tastete ich nach dem Lichtschalter, fand ihn jedoch nicht gleich. Ich hatte schon immer Angst vor der Dunkelheit gehabt. Jederzeit dachte ich, etwas könnte mich von hinten packen und seine Klauen in meinem Fleisch versenken. Angesichts dieser Vorstellung tasteten meine schweißnassen Finger immer hektischer nach dem Licht, bis ich schließlich auf das kühle Plastik des Schalters traf. Ich dachte schon die Lampe hätte ihren Geist aufgegeben, mit scheinbar letzter Kraft gab sie ihr aschfahles Licht von sich.
Ich wühlte allerlei unsinnigen Plunder beiseite den man schon beim vorletzten Sperrmüll hätte entsorgen können, aber mein Opa konnte halt nicht mehr wie er wollte. Also gammelten alte Zementsäcke, eine schrottreife Werkzeugbank und jede Menge anderer Kram einfach vor sich hin. Und ich, ja, gut, ich war zu faul zum Aufräumen. Schließlich fand ich ihn. Auch er schien nicht mehr der neueste zu sein, insgesamt machte er einen ziemlich abgegriffenen Eindruck. Seinen Zweck würde er aber bestimmt erfüllen. Zufrieden verließ ich die Garage.
Durch das Wohnzimmerfenster sah ich meinen Opa auf dem Sofa liegen. Er war eingeschlafen. Der Fernseher gab dabei sein unerträgliches TV-Show-Gequassel von sich. Mein lieber Opa, er hatte im Laufe der Jahre fast eine Vaterrolle für mich eingenommen, ich mochte ihn sehr. Jetzt lag er im Haus und sah sich jeden Tag diese dämlichen Talkshows an. Dazu pisste er seine Windeln voll, die dreimal am Tag von einer Schwester der mobilen Krankenpflege gewechselt wurde.
Er schlief, wirkte dabei irgendwie traurig. Ich ging schnell weiter. Es tat mir weh ihn so zu sehen.
Meine Finger, diesmal deutlich ruhiger, suchten die Autoschlüssel aus meiner Jacke und öffneten den Kofferraum. Ich ließ meinen Blick über den Spaten streifen: Der Griff war schon sehr abgenutzt, teilweise hatte er auch Risse, die von der harten Gartenarbeit zeugten, als mein Opa noch dazu fähig war. Das Metallstück des Spatens war bis auf die Spitze so gut wie schwarz, nur die Stichkante war noch silber. Als ich darüber strich, merkte ich, wie scharf der Spaten trotz seines beträchtlichen Alters noch war. Ich legte ihn behutsam, als wäre er leicht zerbrechlich, neben mein Warndreieck. Der Verschluss der Kofferraumklappe hakte manchmal, also donnerte ich sie wie jedes Mal ins Schloss. Dabei konnte man sehen wie alter Dreck von der Stoßstange rieselte, ich sollte die Mühle wenigstens mal wieder waschen.
Als ich anschließend in die Gegenrichtung fuhr, schweiften meine Gedanken ab und gingen wieder zu meinem Opa und seinen Talk-Shows. Kurz darauf lief mir eine Träne aus dem Augenwinkel, fast wie zufällig, ich wischte sie schnell wieder weg.
Das Klingelschild von Michael war stark verrostet und der Garten seiner Eltern, bei denen er mit seinen 32 Jahren immer noch wohnte, sah nicht besser aus als der von meinem Opa nach seinem gesundheitlichen Verfall. Michael selber
sah aus als, ob er gerade aus dem Bett gestiegen wäre. Gut, auch das war keine Seltenheit. Michael hatte in letzter Zeit etwas zugelegt, allerdings hielt er mit seinem Hobby, dem Mountainbike fahren, gut dagegen. Auf Waldstrecken war er unschlagbar.
Das schien ihn immer noch davor zu bewahren richtig fett zu werden.
Ich bat ihn sich zu duschen, denn ich hätte heute noch was vor. Neugierig sah er mich an. Ich grinste nur und sagte etwas von einer genialen Idee.
Er war wohl wirklich neugierig, denn er kam nach 10 Minuten geschniegelt und gestriegelt wieder zurück. Anschließend erzählte ich ihm ruhig und in allen Ausführungen meinen Plan. Erst wurde Michael blass, dann setzte seine Gesichtsfarbe wieder ein und wurde fast rot, kurz: Er war begeistert. Eifrig griff er in seinen Nachtschrank und brachte zwei 9-mm-Schreckschusspistolen zum Vorschein, als hätten sie nur auf so einen Einsatz gewartet. Ich fragte erst gar nicht, warum Michael gleich zwei Schreckschusspistolen in seinem Nachtschrank aufbewahrte. Vermutlich um den Einbrecher doppelt zu erschrecken. Bang, bang, Herzinfarkt.
Ich nahm die eine und steckte sie mir männermäßig vorne in den Hosenbund. Sie war kalt, sauschwer und drückte unangenehm an der nackten Haut. Als wir uns in mein Auto setzten, zog ich sie wieder hervor und legte sie unter den Fahrersitz. Unbegreiflich wie die ganzen harten Jungs aus den Filmen damit durch die Gegend rennen konnten.
Im Auto fragte ich Michael, ob Lena denn überhaupt zuhause sei. Etwas froschäugig guckte mich Michael von der Seite an, ohne eine Reaktion von sich zu geben. Das war seine Standard-Reaktion für „Keine Ahnung“. Wortlos reichte ich ihm mein Handy, damit wir uns die Blamage vor leerer Tür zu stehen, gleich ersparen konnten.
Eine halbe Stunde Fahrzeit später kam ich ruckend vor Lenas Haus zum Stehen, die Kupplung würde sicherlich bald den Geist aufgeben.
Jetzt wirkte Michael doch etwas aufgeregt und fragte, ob er gut aussehen würde. Ich meinte nur, das wäre völlig egal, wir hätten heute etwas anderes vor. Er wurde wieder ernst, stieg aus und ging zielstrebig zur Haustür. Wenn man genau hinsah, konnte man den Griff der 9-mm unter seinem Pullover sehen. Anscheinend hatte Michael, dank seiner angefutterten, extra Polsterschicht, keine Probleme damit, ein hartes Stück Eisen direkt am Körper zu tragen.
Lena war ein hübsches Mädchen, mit auffallend hellblonden Haaren, ihre Figur durfte man wohl als makellos beschreiben. Michael wollte vor ungefähr zwei Jahren mit ihr gehen, er war sehr verliebt in sie. Lena hatte die Situation damals schamlos ausgenutzt und sein kleines Herz in tausend Stücke zerbrochen. Damals hätte ich ihn fast als Freund verloren, er hatte sich von allem und jedem abgekapselt, fest in der Überzeugung er würde dieses Mädchen doch noch für sich gewinnen können. Nachdem ich einige Nachforschungen bei Freunden angestellt hatte, bestätigten sich meine schlimmsten Befürchtungen: Sie war eine kleine, arrogante Tussi die der Meinung war, sie können alles mit jedem machen. Jetzt kam sie auf mich zu, legte beim Gehen extreme Betonung auf das Wippen ihres Hinterns. Anscheinend war sie siegessicher.
Laut Plan hatte Michael sie zu einem Sit-in eingeladen, mit anschließendem Video gucken. Sie nahm das Ganze als erneuten Baggerversuch seitens Michaels der einen neugierigen Freund mitbrachte. Michael nahm auf dem Rücksitz Platz, Lena setzte sich neben mich. Ich war ihr nie zuvor begegnet, aber ich konnte Michael verstehen. Sie war ein äußerst attraktives Mädchen, ihre Haare waren nicht nur einfach hellblond, sie strahlten mir, trotz des trüben Tageslichts entgegen. Ihre Gesichtszüge schienen mir sehr fein, ihre Lippen hingegen jedoch sehr füllig. So schien es, als ob sie einen ständigen Schmollmund machen würde. Ihre Augen, smaragdgrün, wirkten in einem sehr guten Kontrast zu den hellen Haaren. Dazu hatte sie sich in ein sehr enges Oberteil gezwängt, welches nichts der Phantasie übrig ließ und auch noch tiefe Einblicke gewährte. Ihre Brüste schienen nicht gerade klein, jedoch sehr fest zu sein. Nicht gerade leicht für jemanden wie mich gedanklich zu fassen, der das letzte Mal vor zwei Jahren Titten in der Hand halten durfte.
Ich ließ den Geheimnisvollen raushängen und sagte nicht allzu viel. Das schien sie etwas zu ärgern. Jemand der auf ihr Verhalten nicht sofort ansprang, wurde hart von ihr beschossen. Wir fuhren in einen Imbiss in der Nähe von Dettmers.
Gierig biss Michael in seinen Cheeseburger. Wenn es um das berühmte Thema Essen ging, verstand er keinen Spaß. Lena hatte anscheinend nun ihre Taktik geändert, um mich auf ihre Seite zu ziehen. Sie lästerte in seiner Anwesenheit über Michael ab, zog über ihn und seine Gewichtsprobleme her. Dabei sah sie mich zwinkernd an, stupste hin und wieder mit ihren Füßen gegen meine Schienbein und schien mir den Eindruck vermitteln zu wollen, das sie mich wohl wirklich toll finden würde.
Michael war emotional schon wieder in sich zusammengebrochen und sagte keinen Ton mehr. Seine volle Aufmerksamkeit schien nur noch seinem Burger zu gelten.
Schließlich unterbrach ich sie, etwas bestimmt, aber nicht unhöflich und sagte in meinem freundlichsten Tonfall, aber wohl darauf achtend, das ich so kalt guckte wie nur irgend möglich, dass sie wohl das arroganteste Stück sei, was je auf Erden gewandelt sei.
Sie verstummte und Michael brach in wildes Gelächter aus. Ich hätte auch gerne gelacht, aber wollte den Eindruck auf sie noch vertiefen. So verzog ich keine Miene und sah sie todernst an. Langsam wurde sich Lena ihrer Situation bewusst und sagte, dass sie jetzt nach Hause wolle. Sie hatte für einen kleinen Moment Angst vor mir, sich aber sofort wieder gefangen und war im Auto wieder wild mit Michael am flirten. Ich sagte nichts, auch nicht als sie sich lauthals beschwerte, da ich an der Abfahrt nach Dettmers vorbeifuhr. Wie wir es besprochen hatten, hörte Michael mit Lena auf zu reden und wir fuhren stumm in Richtung eines Waldgebietes, welches westlich von Dettmers lag.
Lena redete unerlässlich mit uns, fragte wo wir denn nun hinfahren, aber wir hielten still. Irgendwann gab sie es auf und fing an sich über uns lustig zu machen. Allerdings merkte ich genau wie in ihrer Stimme eine leichte Nervosität mitschwang. Der Wald war nicht weit weg, Dettmers lag auf einem Hügel, das Waldgebiet im Tal. Ich fuhr jetzt schneller, Lena wurde langsam etwas panisch. Wir kamen auf eine unbefestigte Straße, in ein paar Minuten würden wir da sein.
Ich stellte den Motor ab und zog die Handbremse an. Jetzt lief alles genau nach Plan. Aus Lenas Sicht sah sie, wie wir beide unter unsere Sitze griffen, jeder eine Pistole zum Vorschein brachten und den Schlitten der Waffe mit einem rhythmischen Geräusch nach hinten zogen.
„Raus“, sagte ich nur, bemüht möglichst keine Gefühlsregung mitschwingen zu lassen und klappte den Sitz nach vorne. Wie ich es mir gedachte hatte, weigerte sie sich, also zog ich sie unsanft vom Sitz, schubste sie und ließ sie damit in Michaels Arme stolpern, der sie fest hielt. Jetzt holte ich den Spaten meines Opas hervor und warf ihr den Spaten vor die Füße.
„Fang an zu graben“, sagte ich. Jetzt wurde Lena kreidebleich und fing wild an zu schreien. Michael hatte böse mit ihr zu kämpfen, sie trat und biss nach ihm. Ich griff nach ihrem Kinn, drückte fest zu und drehte ihren Kopf in einem unnatürlichen Winkel zu mir. In demselben Tonfall von der Imbissbude erklärte ich ihr, dass sie hier niemand hören werde und sie doch bitte ihre Puste zum Graben aufheben solle. Schließlich wäre das um einiges sinniger.
Nun fing sie heftig an zu weinen, flehte uns an aufzuhören. Ich sah Michael an, in seinen Augen spiegelte sich Unsicherheit.
Ich griff mir Lena und warf sie auf die Knie. Dann drückte ich ihr die 9-mm-Waffe auf die kleine Stirn und erklärte wieder ihre aussichtslose Lage. Sie sah zu mir auf, die Schminke war von den Tränen verlaufen, mehrere Haarsträhnen hingen ihr wild ins Gesicht. Ihre Gesichtsfarbe war selbst unter der Schminke knallrot, das gab einen ansehnlichen Kontrast zu ihren hellblonden Haaren. Die Übergänge der Schminke erinnerten mich ein wenig an die ähnlich verwischten Farben eines Regenbogens.

Sie kämpfte sich auf die Füße, nahm den Spaten und fing, sehr zu meiner Überraschung, an zu graben. Ich hätte wesentlich mehr Gegenwehr erwartet. Das Erdreich war sehr verwachsen, sie hatte schon große Mühe durch die oberste Schicht zu kommen. Dornensträucher und ähnliches Gestrüpp hatte lange Wurzeln gebahnt. Jetzt fing Lena wieder zum Herzerweichen an zu schluchzen, große Kullertränen liefen ihr über das Gesicht und fielen in das nasse Laub. Michael stieß mich an. Ich wusste warum, hier wollten wir die Sache wirklich beenden. Ich ging zu ihr, tippte ihr auf die Schulter und sagte: “Hey, war alles nur ein Scherz. Du kannst jetzt aufhören dir ins Hemd zu machen, ja?“
Mit einem Mal wirbelte sie überraschend schnell herum und schwang den Spaten dabei wie ein Schwert. Ich wich nach hinten aus und spürte den Windhauch als die scharfe Seite des Spatens vielleicht einen Millimeter an meinem Gesicht vorbeischoss. Ich verlor das Gleichgewicht, da ich mich nur nach hinten gebeugt hatte und fiel auf den Rücken. Jetzt stand sie über mir, den Spaten mit der scharfen Seite nach unten drohend erhoben. Ein fester Hieb und mein Kopf würde dann durch die Brombeersträucher rollen. Im Augenwinkel sah ich Michael, die Augen weit aufgerissen, anscheinend unfähig sich zu bewegen.
Ich kannte Momente in denen sich Michael gerade befand. Man kommt sich vor wie in einem Flucht-Traum.
Man rennt und rennt, die Beine wirbeln unter einem wie Räder im nassen Matsch. Nur kommt man kein Stück vorwärts, während das Ungeheuer hinter einem immer näher rückt und sich schließlich mit einem Grunzen auf dich wirft. Das Letzte, was man dann hört, bevor man schweißgebadet aufwacht, ist das Krachen der eigenen Knochen.
Ich kam wieder in unsere Welt zurück. Über mir stand Lena. Diesmal nicht weinend und schluchzend, sondern das Gesicht zu einer teuflischen Grimasse verzogen, was durch die verlaufene Schminke nur noch untermalt wurde. Ich sah wie sich ihre Armmuskeln spannten.
In Gedanken lag ich schon enthauptet da, während Michael und Lena wie besessen gruben, um meine Leiche in dem von Lena angefangenen Loch zu versenken. Ich dachte immer, man sieht in der letzten Sekunde seines Lebens dasselbe noch mal an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Es blieb aus. Ich griff in meine linke Jackentasche und zog den alten Derringer* meines Opas hervor. Vor mehreren Jahren half ich meinem Opa sein Haus aufzuräumen, dabei fand ich ihn. Ich trug ihn schon eine Ewigkeit mit mir herum und hatte fast vergessen, dass ich Ihn überhaupt noch hatte. Ich riss den Derringer hoch und drückte blindlings ab.


*einschüssige Minipistole aus der Zeit des wilden Westens. Gerne angewandt bei Kneipenschlägereien.

Der Knall hallte dumpf durch den Wald und schien kein Ende zu nehmen. Ich hatte Lena in die Augen gesehen und erlebte alles wie in Zeitlupe: Ihre grünen Augen wurden fahl, alle Muskeln entspannten sich. In ihrer Stirn klaffte ein ca. erdnuss-großes Loch aus dem es sickerartig blutete. Sie fiel auf die Seite, der Spaten entglitt ihr und ich nahm ihn ihr förmlich aus den Händen.
Langsam kämpfte ich mich hoch, den Derringer immer noch in der linken Hand.
Michael hatte sich nicht vom Fleck gerührt, seine Augen waren jetzt doppelt so groß. Sein Kopf zitterte etwas und sein Mund war ebenfalls, wie seine Augen, weit aufgerissen. Jetzt fing er an zu weinen, stürzte sich auf Lenas Leiche und vergrub sein Gesicht in ihrem T-Shirt. Ich wollte etwas sagen, konnte aber nicht. Ich hatte soeben einen Menschen erschossen. Allein diese Tatsache brach mir fast mein emotionales Genick. Ich setzte mich neben die beiden, legte den Spaten und den Derringer neben mich.
Michael weinte nun nicht mehr, er schrie. Seine Schreie hallten durch den Wald und brachten jeden Vogel zum Aufschrecken. Ich legte meine Hand auf seine Schulter. Mit einem Ruck fuhr er herum.
Seine Augen waren weit aufgerissen und knallrot. Ich konnte ohne Probleme jedes kleine Äderchen erkennen.
Langsam wich ich vor ihm zurück. Michael nahm den Spaten an sich, stand auf und ging damit erhoben auf mich zu. Jetzt begriff ich die Lage. Er hatte Lena immer noch geliebt und selbst jetzt liebte er sie noch. Völlig egal was sie ihm angetan hatte. Ich sah in seinen Augen nun keine Unsicherheit mehr, sondern eine wilde Entschlossenheit.
Er schien meine Gedanken erraten zu haben und nahm Anlauf. Er schwang den Spaten, genau wie Lena, auf meinem Kopf zu. Ich duckte mich weg und entging dem Schlag wieder nur knapp. Michael war allerdings wesentlich geschickter und schneller als Lena zuvor. Elegant drehte er sich und attackierte mich von der anderen Seite, diesmal mit der flachen Seite des Spatens. Er traf meinen linken Oberschenkel und ich spürte ein deutliches Knacken. Der Schmerz zerriss mich fast. Jetzt erhob Michael den Spaten ähnlich wie Lena und wollte wohl genau dass zu Ende bringen, was sie begann. Ich warf mich gegen ihn und griff unbewusst mit der rechten Hand an die scharfe Seite des Spatens. Michael drückte dagegen und ein scharfes Brennen zog sich mir durch den gesamten Unterarm. Warmes Blut lief mir in den Jackenärmel. Der Schmerz machte mich rasend. Jetzt zog ich den linken Ellbogen hoch und traf Michaels Nase, welche auch sofort anfing zu bluten. Er lockerte den Druck des Spatens, ich entriss ihm ihn, wirbelte herum und schlug damit zu. Eigentlich wollte ich ihn mit der flachen Seite an den Rippen treffen, Michael war aber nach meinem Angriff auf seine Nase leicht in die Knie gegangen und ich traf ihn am Kopf.
Er ging sofort zu Boden. Erschrocken ließ ich den Spaten fallen, und drehte ihn auf den Rücken. Seine Augen waren leicht geöffnet, aus Mund, Nase und Ohren lief helles Blut. Ich fing an zu heulen. Was sollte ich jetzt tun? Panisch lief ich um die beiden im Kreis, zog immer größere Runden. Dann wurde alles still um mich.
Ich hörte nichts mehr, keinen Windhauch, das Rauschen der Bäume oder das Schreien der Krähen in der Ferne. Ich sah nach oben, durch die Baumwipfel. Die Sonne kam heraus und warmes Licht fiel auf mein Gesicht. Ich wusste nicht, wie lange ich so dagestanden hatte. Ich kam erst wieder zu mir als sich eine Wolke langsam, dicht und dunkel drohend vor die Sonne schob.
Ich nahm den Kopf wieder herunter und drehte mich um. Etwa vierzig Meter von mir lagen Lena und Michael, Michaels Bein zuckte etwas.
Ich ging auf die beiden Körper zu, ein rasender Schmerz fuhr durch mein Bein. Stöhnend fuhr ich zusammen, zwang mich aber weiter zu gehen. Michael blutete immer noch, es wurde immer schlimmer. Ich nahm den Spaten, er lag direkt neben Michael. Fest umklammerte ich den Griff.
Dann holte ich aus und stieß die scharfe Seite in Michaels Hals. Leider hatte ich nicht kräftig genug zugestochen. Michael riss die Augen weit auf und umklammerte meine Beine, Blut spritzte an mir hoch, aus der Kehle kam ein tief- röchelndes Geräusch. Ich drückte die scharfe Seite tiefer in die Kehle, Blut pumpte aus den beiden Halsschlagadern. Dann knackte es tief in der Kehle. Er lockerte seinen Griff, seine Arme fielen schlapp von meinen Beinen ab. Ich hatte das Genick durchtrennt. Zitternd ließ ich den Spaten fallen, drehte mich um und übergab mich geräuschvoll. Als sich mein gesamter Mageninhalt vom Imbiss entleert hatte, ging es mir besser. Langsam stand ich auf und sah mir mein grausames Werk an. Michael hatte eine breite Furche in seiner Kehle, der Waldboden hatte sich von seinem Blut unter ihm tiefschwarz gefärbt. Lena lag ausgebreitet auf dem Boden, beide Arme von sich gestreckt, das Blut an ihrer Stirn fing schon an zu trocknen. Ich musste es jetzt beenden. Also fing ich an zu graben.
Es war schon dunkel als ich fertig war. Jetzt verstand ich übrigens auch warum sich in Wild-West-Filmen die Bösen immer das Grab selber buddeln mussten: Es war eine scheiß Arbeit. Die Hände brannten mir wie Feuer, Blasen hatten sich gebildet und waren aufgeplatzt. Mein Bein kam mir vor, als würde es gar nicht mehr zu mir gehören.
Ich zog die beiden leblosen Körper auf das Loch zu und ließ sie hineinfallen. Als ich den Spaten wieder zur Hand nahm, fiel mir auf, dass sie in der Löffelchen-Stellung lagen. Immerhin, dachte ich. So schnell es mir meine Hände erlaubten, ließ ich Erde in das Loch fallen. Schwarze Erde fiel auf Michaels Gesicht und auf das hellblonde, jetzt von Blut getränkte Haar von Lena. Es war ein Uhr nachts als ich fertig war. Ich dachte nichts mehr. Langsam ging ich zu meinem Auto zurück und warf den Spaten in den Kofferraum. Er war bis zur Mitte des Stiels mit getrocknetem Blut behaftet. Dann machte ich mich auf den Rückweg. Die Scheinwerferkegel meines Wagens verließen den Wald schnell und ich war wieder auf der Straße nach Dettmers. Ich öffnete das Fenster und sah in den jetzt sternenklaren Nachthimmel.
An manchen Tagen hasste ich das Leben eben mehr als sonst.





Zuhause ließ ich als erstes den Spaten in den Untiefen meines Kellers verschwinden und stellte mich anschließend unter die Dusche. Mit dem Kopf nach unten an die geflieste Wand gelehnt, sah ich wie Blut an meinen Händen herablief, in die Duschwanne tropfte und im Ausfluss verschwand. Nicht mein Blut. Ich fing wieder an zu heulen, lange Rotzfäden vermischten sich mit dem Blut. Ich hatte Michael seit fast 10 Jahren gekannt, wir waren immer gute Freunde gewesen. Lena, wie sie auch immer war, sie hätte ihr ganzes, junges Leben noch vor sich gehabt. Wie konnte es nur dazu kommen? Was würde jetzt als Nächstes passieren? Die Gedanken kamen jetzt auf und schossen mir wie Gewehrkugeln durch den Kopf.

Polizei – Doppelmord - Gefängnis – Lebenslänglich. Mein Opa. Altersheim.

Ich fing noch heftiger an zu heulen, legte mich nackt in Embryonalstellung auf mein Bett. Kurz darauf fiel ich in einen dankbaren, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen quälten mich beim Aufstehen extremste Kopfschmerzen. Als ich jedoch mit dem linken Fuß auftrat, war der Kopfschmerz Nebensache. Ich fiel sofort hin und schrie laut auf. Mein gesamter linker Oberschenkel war dick angeschwollen. Mittig, wo mich der Spaten mit der flachen Seite getroffen hatte, hatte sich ein dunkelblauer, fast schwarzer Fleck von mind. 20 cm Durchmesser gebildet. Nur extrem langsam kam ich wieder hoch. Mit großer Sorge betastete ich das Areal, es würde lange dauern bis das verschwinden würde.
Zu allem Überfluss klingelte jetzt auch noch das Telefon. Ich schleppte mich humpelnd ins Wohnzimmer, ließ mich aufs Sofa fallen und riss den Hörer von der Gabel:
„Ja?“
„Hallo, hier ist Frau Krause, Michaels Mutter. Ist mein Junge bei dir?“
Sofort schossen mir wieder die dunklen Gedanken durch den Kopf. Michaels Augen, als er starb, wie er in letzter Panik meine Beine umklammert hatte. Die wohl unvermeidliche Strafe, die ich wohl zu erwarten hätte…
„Hallo? Hallo !“
„Ja, ja, ich bin noch dran. Ja, Frau Krause, der Michael, ähm, der ist mit Lena kurzfristig nach Rügen gefahren…“
„Mit wem??“, kreischte mir Frau Krause durch das Telefon entgegen.
„Ja, äh, mit der Lena. Die kennen sie doch. Dieses nette, blonde Mädchen das Jura studiert“, stammelte ich zurück.
„ Diese miese, kleine Hure die meinem Jungen schon mal das Herz gebrochen hat?!?“ krakelte es mir wieder entgegen. Anscheinend vertraute Michaels Mutter nicht besonders auf das technische Wunderwerk der Telekommunikation. Also schrie sie es einfach so rüber.
„Tja, ehm, anscheinend haben sich die beiden vertragen…“ schob ich nun hinterher.
„ Das gibt’s doch gar nicht! Mit dieser gottlosen Hure! Wenn der zurückkommt, kann er was erwarten. Wenn der…“
Ich legte auf. Die Tränen liefen mir wieder über das Gesicht. Was hätte ich sagen sollen? Was sollte ich überhaupt machen? Ich könnte mich nie der Polizei stellen. Ich hatte furchtbare Angst vor dem Gefängnis. Ich habe bislang nicht mal einen Strafzettel für falsches Parken bekommen. Und jetzt Doppelmord. Bravo, gut gemacht.
Eine Welle der Übelkeit kam wieder über mich und die nächsten zehn Minuten verbrachte ich im Knien über der Kloschüssel.
Der Tag ging dahin. Frau Krause rief noch ein paar Mal an, um sich bei mir über ihren Sohn, der sein Leben doch eigentlich langsam selber in den Händen halten sollte, bezüglich seines unzüchtigen, gottlosen sowie respektlosen Verhalten zu beschweren. Die Eltern von Lena riefen nicht an. Entweder hatten sie meine Nummer nicht rausbekommen oder sie waren es ganz einfach gewohnt, das Lena mal länger mit zwei Kerlen verschwand.
Ich lag auf dem Sofa, kaute an den Fingernägeln. Mir ging Michaels grausamer, entsetzter Blick nicht aus dem Kopf, als ich ihm mit dem Spaten die Kehle eröffnet hatte. Vermutlich hatte er gedacht, ich würde ihm helfen, den Notruf wählen, ihm beistehen. Unerträgliche Wellen von Schuldgefühlen schwappten immer wieder über mich hinweg, mündeten in Übelkeit und Magenkrämpfen.
Gegen Abend riefen Lenas Eltern an. Auch Ihnen erzählte ich das Märchen von dem Kurztrip nach Rügen. Sie nahmen das allerdings ziemlich locker. Wie ich es mir schon gedacht hatte, war das keine große Überraschung für sie.
Ich ging früh ins Bett. Von meinem Schlafzimmer sah ich durch das Fenster in den Himmel. Wir hatten wieder eine sternenklare Nacht.

Meine Füße laufen auf sandigem Boden. Ich bleibe stehen, hebe meinen Kopf. Ich bin im Wald von Dettmers. Langsam gehe ich weiter. Ich erkenne den Waldweg wieder. Am Ende dieses Weges liegen die Leichen von Lena und Michael begraben. Meine Füße tragen mich fast wie magisch getrieben weiter den Weg hinunter. Als ich die Stelle erblicke, läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. In der noch frischen Erde steckt der Spaten meines Opas. Wie angewurzelt bleibe ich erst stehen, laufe dann aber doch weiter. Ich ziehe den Spaten aus der Erde und betrachte ihn. Er sieht absolut neuwertig aus. Das Holz des Griffes hat keine Spuren von harter Arbeit mehr, kein Blut klebt an ihm. Der metallene Teil ist blitzblank, der Mond spiegelt sich in ihm. Ich lasse den Spaten sinken und sehe hoch zum Himmel in das helle Mondlicht.
Ein paar Meter über mir in der Luft schweben Michael und Lena. Das Mondlicht spielt auf ihren Gesichtern und ich erkenne deutlich ihre amüsierten Gesichtszüge. Langsam schweben sie weiter zu mir herunter, landen auf ihrem Grab.
Die Haut der beiden ist weiß, teilweise bläulich. Überall haben sie die dunkle Walderde an sich. Die Haare von Lena sind mit tiefschwarzem, geronnenem Blut verklebt. Michaels Kopf wackelt bei jeder Bewegung unnatürlich hin und her.
„Na, Freund?“ raunt mir Michael zu. Ich lasse den Spaten fallen und spüre wie mir warme Pisse das Bein runter läuft.
„Na,na…“ sagte Lena. “Nun macht dir mal nicht gleich ins Hemd, hm?“
Dann lassen beide ein gehässiges Lachen los. Dabei läuft Michael jedes Mal ein Schwall Blut aus der breit geöffneten Kehle. Ich erkenne Ansätze der Luftröhre und muss schlucken um eine weitere Übelkeit zu vermeiden.
Lena drückt sich an Michael, legt ihren Arm um ihn. Sie kommen mir vor wie ein vertrautes Liebespaar.
„Was machen wir nun, Schatzi? Hm? Gehen wir nach Rügen und überlassen ihm die Arbeit?“
„Jaa!“ stimmt Michael ihr zu und hebt den Spaten auf. „Los, du Superfreund! Fang an zu graben!“ spottet er und wirft mir den Spaten vor die Füße.
Ich will etwas sagen, öffne den Mund, aber es kommt kein Ton heraus.
„Was denn? Keine Kraft?“ fragt Michael. „ Hier ! Du hast doch so viele Freunde! Ruf doch jemanden an der dir hilft! Aber sieh zu, das du nicht alle umbringst!“ Mit diesen Worten zieht er mein Handy aus seiner Jackentasche und wirft es mir ebenfalls vor die Füße. Wieder werfen beiden den Kopf zu einem diabolischen Lachen in den Nacken. Dann drehen sie sich um und fliegen, wie auf einer unsichtbaren Rolltreppe, gen Himmel.

Mit einem Schlag bin ich wach. Ich liege schweißgebadet in meinem Bett und starre aus meinem Fenster. Mein Handy!
Michael hatte es mir nach dem Telefongespräch im Auto mit Lena nicht zurückgegeben. Und nun liegt es mit dem beiden Leichen unter der Erde! Eher hätte ich auch gleich eine Visitenkarte für die Polizei hinterlassen können. Sofort setzten meine Magenkrämpfe wieder ein. Als ich die Decke zur Seite schlug, merke ich, dass ich die Sache mit der warmen Pisse nicht nur geträumt habe. Fluchend ziehe ich mein Bett ab.
Ich hatte keine Wahl. Ich musste das Telefon holen. Ein Blick auf den Radiowecker verriet mir eine nachtschlafende Zeit von 1:22. Ich schleppte mich ins Bad und warf mir mehrere Schmerztabletten ein. Die würde ich heute Nacht brauchen. Anschließend zog ich mich an und kramte den Spaten aus dem Keller wieder hervor. Das Blut war mittlerweile getrocknet und klebte wie Pattex am Stiel des Spatens. Leise schlich ich mich aus meiner Wohnung und fuhr so leise wie nur irgend möglich aus der Siedlung.
Auf dem Weg zum Dettmer Wald fing es an zu regnen, dazu frischte auch noch Wind auf. Einfach großartig.
Als ich endlich auf dem Waldweg angekommen bin, ist aus dem Wind ein kräftiger Sturm geworden. Ich stelle den Wagen an die Seite, von den Bäumen verdeckt ab und gehe zu Fuß weiter. Die Tannen biegen sich und ächzen unter der Last des Sturms. Angstvoll wie Hänsel im Wald blickte ich mich immer wieder um. Ich konnte mittlerweile nicht mal mehr weit sehen, da der Regen mir zusätzlich noch ins Gesicht peitschte. Immer wieder blickte ich hoch in den Himmel, ob Lena und Michael nicht über mir schweben und sich kaputt lachen. Meine kleine Minitaschenlampe aus dem Auto flackerte durch den Wald, genauso gut hätte ich auch eine Kerze mitnehmen können. Endlich finde ich die Einbiegung wieder….und wäre am liebsten schreiend weggelaufen.
Der Strahl meiner funzeligen Taschenlampe fokussierte ein großes Loch in der Erde. Die Stelle an der ich Lena und Michael vergraben habe. Atemlos renne ich zu der Grube und leuchte hinein. Nichts. Nur Erde. Suchend sehe ich mich um. War die Polizei hier?
Keine Absperrbänder, keine Fußspuren. Unmöglich !
Haben die sich selbst ausgebuddelt? Bei dem Gedanken von zwei Zombies die gierig sabbernd an mein Fenster klopfen, stehen mir alle Haare zu Berge.
Vom Sturm umgeben, stehe ich schwankend am Rande der Grube, zweifele an meinem Verstand und habe das Gefühl bewusstlos zu werden. Ganze zwei Stunden irre ich noch in Kreisen um die Grube herum durch den Wald. Auf der Suche nach meinen zwei jüngsten Mordopfern, bis mir meine Batterie-Kerze die Suche beendet. Durchnässt komme ich nach Hause und falle ins Bett. Glücklicherweise erscheinen mir diesmal keine der beiden im Traum.
Der nächste Morgen stellt sich nicht besser dar. Noch weniger da ich zur Arbeit muss. Außerdem pocht mein Bein wie ein kranker Zahn.
Die guten Demerol -Tabletten richten es zum Glück wieder. Jedenfalls kurzfristig.
Auf dem Weg zur Firma kreisen mir immer wieder die Gedanken durch den Kopf. Haben Lenas oder Michaels Eltern schon Misstrauen geschöpft? Ist die Polizei vielleicht schon verständigt?
Andererseits passt meine Geschichte auch wieder ungewollt gut. Lena hat Semester-Ferien und Michael ist arbeitslos. Zumindest ein paar Wochen werden mir noch bleiben, bis die beiden vermisst und die Polizei bei mir vor der Tür steht.
Ich schob diesen düsteren Gedanken zur Seite und blicke auf das lange, triste Gebäude meines Arbeitgebers.
Die Firma, PZS, was soviel wie postalischer Zustellungsservice heißen soll, existiert schon fast 40 Jahre. Neben UPS, FED-EX und der Post kämpft sie mindestens schon genau so lange um ihr Überleben.
Bislang stand das Thema Konkurs schon mindestens zehnmal im Raum, aber irgendwie gelang es unserer Geschäftsführung immer wieder den Kopf aus der finanziellen Schlinge zu ziehen. Der Pförtner winkt mich durch und ich bringe meinen VW auf dem Mitarbeiterparkplatz zum Stehen.
In der Umkleide merke ich, dass ich schon wieder zu spät dran bin. Mein Packer, Harry, ist warscheinlich schon wieder stinksauer. So schnell wie es mein schmerzendes Bein erlaubt, schlappe ich zu meinem Transporter. Harry steht am Heck des Fahrzeuges und gestikuliert wild durch die Gegend. Etwas stutzig humpele ich an die Seite und sehe im letzten Moment Sanchez, unseren spanischen Gastarbeiter.
„H kommt nach E, du dusseliger Tito!“ schimpft Harry und wirft zwei Pakete im Transporter von eine auf die andere Seite und umgekehrt. Sanchez steht nur mit leicht geöffnetem Mund da und nickt monoton. Ich wette, er wünscht sich gerade so etwas wie einen Beam-Apparat oder so was um sich einfach in seine sonnige Heimat zu zappen.
„Dennis ! Was glaubst du machen wir hier?“ blafft mich Harry an.
„Denkst du, wir haben nur diesen einen scheiss Wagen zu packen und warten bis König Dingeling von seinem Thron herabgestiegen ist und seinen majestätischen Hintern in der Kutsche geparkt hat?? Warum bist du so spät?“
Wortlos ziehe ich meine Diensthose bis zum Oberschenkel hoch und entblösste den riesigen, dunkelblauen Fleck.
„Ach du Scheisse! Wie ist das denn passiert?“
„Treppe runtergefallen. Hat daher heute Morgen alles etwas länger gedauert.“ entgegne ich.
„ Mhh“ grunzt Harry und rotzt eklig in die Ecke. „Dann sieh jetzt zu, dass du endlich los kommst.“
Anschließend greift er sich Sanchez am Ärmel und zieht ihn einfach mit sich. Als ich mit meinem Transporter aus der Halle rolle, sehe ich die beiden im Rückspiegel. Dadurch dass Sanchez auch noch so klein und schmächtig ist, wirken die beiden wie ein Vater der sein quengeliges Kind durch den Einkaufsmarkt schleift.

Der Arbeitstag beginnt. An sich ist es ein unheimlich monotoner Job. Bitte, ihr Paket. Da die Unterschrift und schönen Tag noch. Das hat natürlich auch den Vorteil, dass man mit seinen Gedanken auch mal woanders sein kann. Dieses Mal hätte ich mir aber gerne etwas mehr Hektik gewünscht.
Meine Bluttat lässt mich nicht los. Und was, verdammt noch mal, ist mit den Leichen passiert? Anscheinend hat die Polizei sie nicht gefunden, denn dann hätte mein Handy schon dafür gesorgt, das ich mich in U-Haft befinden würde. Außerdem würde dann auch etwas in der Zeitung stehen.
Die Vollbremsung kommt im letzten Moment.
Das kleine Mädchen steht mit großen Augen auf dem Zebrastreifen und sieht mich direkt an. Ihre Mutter kommt panisch dazu gelaufen, reißt die Kleine an sich. Dann dreht sie sich wütend zu mir um.
Lenas grüne Augen durchbohren mich. Das helle, extrem blondierte Haar fliegt im Wind. Ich sitze fassungslos da und umklammere mein Lenkrad. Ich schließe die Augen kurz und öffne sie wieder. Die Mutter schreit etwas von Vollidiot und zeigt mir den Mittelfinger. Es ist nicht Lena. Natürlich ist sie es nicht. Oh Mann…
Mit Herzklopfen und einem Kloß im Hals bringe ich den Transporter wieder zum Laufen und rolle langsam weiter.
Jesus, hoffentlich ist der Tag bald vorbei. Ein Blick in meinen Transporter bestätigt meine Hoffnung. Nur noch ein Paket.
Ich fahre zur letzten Adresse an diesem Tag. Mein Navi leitet mich nach Dettmers, am Wald vorbei.
Mit großem Unbehagen blicke ich von der Bundesstraße auf den Wald, suche in den Gebüschen nach Spuren von Stoff-Fetzen. Vielleicht wurden die beiden ja von Wildschweinen ausgegraben und komplett aufgefressen? Gab es im Dettmer Wald überhaupt Wildschweine? Scheiss noch mal, keine Ahnung.
Ich fahre in die nächste Ortschaft, biege ein paar Mal ab. Schließlich mündet die Straße in einer Sackgasse. Ein einzelnes Haus am Feld scheint die richtige Adresse zu sein.
Ich wuchte das große Paket auf meine Sackkarre und rollere damit langsam zur Haustür. Das Haus selber war wohl schon etwas älter. Die Fassade wies viele Risse auf, die Fensterrahmen spröde, teilweise schon ohne Lack. An der Tür angekommen, drückte ich auf die Klingel. Ein altertümliches Schellen rasselte durchs ganze Haus und ich zuckte erschreckt zusammen. Meine Fresse, wenn das hier draußen schon so laut ist, wie ist das dann drinnen?
Ich horchte auf Schritte oder Geräusche. Nichts.
Klasse, hab ich diesen sauschweren Brocken also umsonst hierhin gewuchtet. In meinen letzten Jahren als Paketbote hab ich es mir zur Angewohnheit gemacht, nicht länger als 30 Sekunden an der Tür zu warten. Die Zeit die man länger wartet, macht sich dann am Ende eines Tages negativ bemerkbar. Also kommt man einfach noch mal wieder. Das sieht gegenüber dem Arbeitgeber einfach besser aus.
Ich wand mich zum Gehen um. In dem Moment knarrte die moderige Holztür hinter mir.
„ Was denn?!?“ zischte es. Als ich mich wieder umdrehte, stand mir eine waschechte Hexe gegenüber. Jedenfalls dachte ich das. Die alte Dame mochte gut und gerne schon 80 Jahre alt sein. Ihr Gesicht war von mehr Falten durchzogen, als ich in meiner Handinnenfläche habe und jede einzelne war so tief wie eine Schlucht. Sie trug einen grauen Bauernrock, sowie eine hellblaue Bluse, die aber schon so fleckig und löchrig war, das sie locker aus der Geburtszeit der Hexe hätte stammen können. Die Augen, welche milchig geworden waren, blickten mich hasserfüllt an. Auf ihrer zerfurchten Nase prangte eine große Warze. Eingerahmt wurde dieser ganze Anblick von langen, verfilzten, schwarzen Haaren. Ich habe nicht übertrieben. Es sollte mich nicht wundern, wenn in dem großen Paket ein neuer Zauberkessel wäre.
„ Ja, äh, ich habe hier ein Paket für einen Herrn Groß. Mortimer Groß.“
Für einen kleinen Augenblick sah sie mir noch fester in die Augen. Ich hatte fast den Eindruck, als würde sie mich scannen.
„ Moment!“ und WUMM, knallte sie die Tür wieder zu. Es dauerte ein paar Minuten in denen nichts passierte.
Ich sah an dem Haus hoch, überall rankte Efeu. Ich war mir sicher, in diesem Gestrüpp wohnten ganze Kolonien von Ungeziefer. Die Tür öffnete sich wieder.
Herr Groß hatte seinen Namen wahrlich verdient. Der Typ war bestimmt zwei Meter hoch und hatte die Figur der Neuauflage vom glatzköpfigen Dr. Frankenstein.
„Bitte?“ dröhnte mir die tiefe Stimme entgegen und ich musste unwillkürlich an Barry White denken. Blendet man den optischen Teil mal aus, konnte der Typ mit seiner Stimme vermutlich ein Hochhaus zum Einsturz bringen.
„ Ich hab ein Paket für sie“ sagte ich und gab mir Mühe möglichst tief zu reden,
„Sehr schön“, antwortete Frankenstein und nahm mir das Paket mit einer Hand von der Sackkarre. Daraufhin wollte er die Tür wieder schließen.
„ Entschuldigung, das Paket kam per Nachnahme, ich muss den Rechnungsbetrag noch kassieren!“ schrie ich noch zwischen dem Türspalt hindurch.
Frankenstein öffnete wieder die Tür und sah mich strafend an.
„ Wie viel?“ dröhnte er.
„436,30“
Wieder wurde mir die Tür vor der Nase zugeknallt. Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, ich müsse meinem Chef erklären, warum ich dem Kunden das Paket ausgehändigt habe, ohne den Rechnungsbetrag zu erhalten. Dann öffnete er wieder und gab mir 450 Euro.
„Stimmt so.“ Und WUMM.
Sehr freundlich, dachte ich und ging zurück zu meinem Transporter. Ich stellte die Sackkarre weg und ordnete die Geldscheine in das Fahrerportmornaie. Als ich den letzten Schein wegsteckte, hielt ich inne. Am Schein hing etwas.
Ich hielt ihn gegen das Licht der Fahrerkabine und sah ein sehr langes, blondes Haar. Im ersten Moment wollte ich es einfach entsorgen, bis mir einfiel, dass dieses Haar nicht von den beiden Irren da drinnen stammen konnte.
Ich legte das Haar vorsichtig zwischen die Seiten meines Terminkalenders und fuhr wieder zurück in die Firma.
Im hellen Licht einer Schreibtischlampe sah ich es mir dort genauer an. Das Haar war am Ansatz leicht bräunlich und war dann hellblond gefärbt. Die letzten 3 cm waren dunkelrot verfärbt. Eine erneute Panik schlich sich in meinen Kopf wie ein tödliches Virus.
Das war Lenas Haar, kein Zweifel. Haben diese beiden Irren Lena und Michael wieder ausgegraben? Und wieso? Ok, wenn, war das Dr. Frankenstein. Die Alte wäre mit einer derartigen Aufgabe sicherlich überfordert gewesen. Horrorvisionen von Teufelsmessen, Satansanbetungen mit Opferritualen gingen meiner kranken Fantasie durch den Kopf.
Zuhause fasste ich einen Entschluss: Ich würde die beiden Leichen bergen und wenigstens dafür sorgen, das sie ein anständiges Begräbnis bekämen. Das war ich den beiden schuldig. Allerdings musste ich dafür an der buckligen Hexe und ihrem Folterknecht vorbei.
Ich legte mich auf mein Bett und wartete auf die Dunkelheit. Alle zwei Minuten sah ich auf die Uhr. Um eins schlich ich mich zu PZS und stahl mir klammheimlich meinen Transporter.
Die Nacht versprach etwas Besonderes zu werden. Als ich mehrere hundert Meter mit abgeschalteten Scheinwerfern von dem Haus entfernt hielt, zuckten Blitze vom Himmel und der Donner grollte bedrohlich. Langsam schlich ich von hinten durch das Feld an das Haus heran. Ich rechnete jeden Moment damit, dass sich unsere Gesichtsfurchenhexe mit einem Besen vom Dach abstoßen würde und mit einem Lachen zwischen den Blitzen in der Nacht verschwand.
Ich pirschte mich durch den hohen Mais weiter heran, erkannte in dem flackernden Licht der Blitze einen Hundezwinger. Hatte Bello vielleicht die Fährte der beiden gewittert und angefangen zu buddeln? Allerdings erklärte das immer noch nicht, warum die beiden die Leichen zu sich geschafft hatten…
Ich verließ den Mais und kroch auf allen Vieren durch den verwilderten Garten zu einem Fenster. Langsam, ganz langsam kam ich an der Wand hoch und schielte durch ein Fenster. Der Blitz zuckte in dem Moment hell auf und zwei stechend gelbe Augen starrten mich an.
Ich schrie fast auf und ging sofort auf Tauchstation.
Eine verdammte schwarze Katze !
Wieder sah ich durch das Fenster. Im Inneren war alles stockfinster. Einen Moment wartete ich. Klasse, wenn man einen Blitz braucht, kommt natürlich keiner.
Wieder tauchte ich ab und robbte weiter nach links am Haus entlang. Dort hatte ich eine Holztür ausgemacht. Angekommen, ging ich in die Hocke, legte meine Hand auf die Klinke und drückte sie so langsam und vorsichtig wie möglich herunter. Die Tür öffnete sich nicht. Was hast du auch gedacht? Das diese Psychopathen alles offen lassen?
Ich drückte mich weiter nach links an der Wand entlang und sah ein Doppelfenster. Das eine stand auf Kipp, durch den Spalt konnte ich den Riegel für das andere Fenster sehen. Ich sah durch das Fenster ins Zimmer. Jetzt zuckte ein Blitz auf und ich erkannte ein paar alte, antiquarische Holzmöbel und eine Ledercouch. Vermutlich das Wohnzimmer.
Vorsichtig fingerte ich durch den Spalt des Fensters und legt den Hebel waagerecht. Der Wind drückte das Fenster sofort mit Schwung nach innen auf und ich bekam es im letzten Moment zu fassen. Ansonsten wäre es mit voller Wucht gegen die Wand geschlagen. Langsam kletterte ich in das Innere und hätte fast noch ein paar Blumenkübel mit verwelkten Pflanzen mitgerissen. Annähernd lautlos schloss ich das Fenster hinter mir. Ich ging in die Hocke, starrte angestrengt in die Dunkelheit und wartete, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ich hockte in einem richtig altertümlichen Wohnzimmer. Eine dicke Ledercouch, Ohrensessel, ein uralter Fernseher aus der Zeit als es vermutlich noch Stummfilme gab.
An den Wänden hingen viele Geweihe, soweit ich das unterscheiden konnte, alles Hirschgeweihe.
Ich erhob mich wieder und schlich quer durch das Wohnzimmer. Alle paar Schritte blieb ich stehen und horchte in das Dunkel hinein. Ich hatte den Eindruck, da wären noch andere Schritte. Dann fasste ich an mein Herz. Nein, Dennis, das sind keine Schritte, nur deine Pumpe.
Langsam ging ich weiter und stieß gegen etwas, das einen zischenden Laut von sich gab. Ich erschrak fast zu Tode. Schon wieder diese dusselige Katze!
Angewidert wandte sich die schwarze Katze von mir ab, vermutlich hatte sie meine Gedanken erraten.
Nun drückte ich mich an den Rahmen der offen stehenden Wohnzimmertür und spähte in einen Flur. Dieser war ewig lang und es gingen bestimmt zehn weitere Türen von ihm ab. Ich würde die beiden nie finden!
Langsam stakte ich zur ersten Tür und öffnete sie behutsam. Ein Schlafzimmer. Herrlich, Dennis. Gleich der Jackpot! Unsere Hexe lag in dem Bett und schlummerte ruhig vor sich hin. Was heißt ruhig, hin und wieder gab sie Geräusche von sich, als würde sie jeden Moment aufwachen. Mein Herz pochte nun unerträglich laut. Es fühlte sich für mich an, als würde das ganze Haus davon erbeben. Langsam schloss ich die Tür wieder. Knarrend glitt die Tür wieder ins Schloss, worauf ich sofort zusammenzuckte. Ich wartete ein paar Minuten, nichts passierte. Ich legte mein Ohr an die Tür und hörte dieselben unverkennbaren, gurgelnden Schlafgeräusche der Hexe.
Erleichtert atmete ich auf und ging zur nächsten, schräg gegenüberliegenden Tür. Die sah wesentlich neuer aus. Hier war die Küche. Prüfend spähte ich hinein. Relativ neue Armaturen und Küchenschränke. Ich nahm meinen Mut zusammen und schaltete Licht an. Auf dem Küchentisch lag eine Mappe:


„Häusliche Krankenpflege“
Patientin: Christa Rache
Alter: 84 Jahre
Siehste Dennis, war deine Einschätzung bezüglich des Alters doch mal gar nicht so schlecht. Darunter war eine Tabelle angefertigt, wo links tägliche Aktivitäten wie Körperpflege, Essenszubereitung und ähnliche Sachen standen. Rechts davon waren Kreuze gesetzt wurden.
Verstanden, Frankenstein war nicht der Sohn, sondern ein Mitglied der häuslichen Krankenpflege. Aus meiner Zivildienstzeit wusste ich noch, dass es hierunter nicht nur die gab, die kurzweilig bei den Patienten waren, sondern den ganzen Tag über.
Daher ließ er sich auch gleich die Post hierher liefern.
Ich verfolgte die Krankheitsgeschichte der Hexe Christa weiter.
„Schweres Glaukom“
Hm, sie war fast blind. Auch dies konnte ich aus meiner Zivildienstzeit noch ableiten. Schon faszinierend. Als ich das Paket angeliefert hatte, dachte ich, sie könne besser als ein Habicht sehen.
Ich löschte das Licht, ging zur nächsten Tür und legte die Hand auf die Klinke. Dann hielt ich inne.
Ein muffiger Geruch war mir in die Nase gestiegen. Er kam ohne Zweifel nicht aus diesem Raum. Langsam ging ich weiter den Flur hinunter, quasi immer der Nase nach.
Dann blieb ich ruckartig an einer Tür stehen. Der Geruch war hier so extrem, es musste von da drin kommen. Langsam öffnete ich die Tür. Im Inneren waren keine Fenster. Blind fummelte ich nach einem Lichtschalter, fand jedoch keinen. Der Boden war gefliest. Ich lief mit dem Gesicht gegen etwas, etwa wie eine dünne Schnur. Ich griff danach und erkannte den Seilschalter einer Lampe. Als ich das Licht anschaltete, hätte mich nichts auf dieser schönen, großen Welt auf den folgenden Anblick vorbereiten können:
Ich stand in eine Art umfunktionierter Waschküche. Direkt vor mir stand ein großer, solider Holztisch, der wohl mal dazu getaugt hatte, Wäsche zu stapeln. Lena lag nackt auf ihm. Ich stand zitternd da, mein Verstand konnte und wollte jetzt nicht mehr arbeiten.
Er hatte sie gewaschen. Ihre Haut war ganz weiß, die Hände, Arme, Beine, Füße und Brüste schon blau verfärbt. Ihre Augen waren weit geöffnet, die Beine gespreizt.
Langsam ging ich zu ihr.
Er hatte ihre Augenlider an der unteren Stirn festgenäht um sie offen zu halten. Die Augäpfel waren ausgetrocknet, milchig und hatten nichts mehr von dem wunderschönen, grünen Glanz mit dem sie ganze Scharen von Jungs verzaubern konnte.
An Ihren Beinen, sowie dem Genitalbereich waren milchige, weiße Flecken. Mir wurde jetzt kotzübel. Dieser eklige Typ hatte sich über Ihre Leiche hergemacht. Ich sah vor Abscheu weg und erschrak wieder fast zu Tode. Michael baumelte vor mir an einer in der Decke verankerten Kette. Der Bauch war geöffnet und alle Organe entfernt worden. Ich wollte gar nicht wissen, was Frankenstein damit angestellt hatte. Langsam wurde mir meine zufällige Namensgebung für diesen Typ immer bewusster.
Die Kette hatte am Ende einen Fleischerhaken. Dieser hakte hinter Michaels Brustbein ein und hielt die Leiche so in der Luft. Der Kopf hing komplett nach hinten. Durch den Spatenstich war hier sämtliche Stabilität verloren gegangen.
Ich stand zwischen den beiden Leichen und fühlte mich wie betäubt. Ich musste jetzt aktiv werden. Vorsichtig griff ich unter Lena und hob sie an. Der Geruch war kaum auszuhalten. Ihr Kopf schlug an meine Schulter. Hinter mir knarrte die Tür.
In Zeitlupe drehte ich mich um. Unserer Hexe, Christa Rache stand in der Tür und spähte in den hell erleuchteten Raum. Sie trug ein altertümliches Nachthemd und stützte sich auf einen Gehstock. Langsam kam sie näher.
„Mortimer?“ rief sie in den Raum. „Mortimer? Bist du das?“.
Ich stand mit Lena im Arm mitten im Raum und wagte kaum zu atmen.
„Mortimer!! Was stinkt hier denn so? Mortimer!“ fauchte sie jetzt. Ich bewegte mich nicht. Ich hörte mein Herz so laut klopfen, eigentlich unfassbar, das sie das nicht auch hörte.
Geradewegs bahnte sie ihren Weg durch die entstellte Waschküche auf mich zu. Lediglich an ihren Augen, die wie ein Pendel hin und her glitten, sah ich, dass sie immer noch versuchte festzustellen, warum hier das Licht an war. Gerade mal 30 cm vor mir blieb sie stehen und zog noch mal fauchend die Luft ein, als würde sie mich wittern. Ich hielt die Luft an.
Gerade in dem Moment, als ich dachte, sie hätte mich gesehen, machte sie auf dem Absatz kehrt und ging fluchend davon. Dann löschte sie das Licht und ließ mich mit der Leiche im Arm im Dunkeln allein. Anscheinend war sie wirklich so gut wie blind.
Ich weiß nicht, wie lange ich so dagestanden hatte, Lena wurde irgendwann langsam schwer.
Behutsam legte ich sie zurück auf den Tisch und schlich zum Flur. Ich ging so langsam, das es mir wie eine Ewigkeit vorkam, bis ich den Raum durchschritten hatte. Der Flur lag leer. Anscheinend hatte sich Hexe Schrumpeldei wieder hingelegt. Vorsichtig nahm ich Lena wieder auf und ging mit ihr den Flur hinunter.
Durch eine der hinteren Türen, kam ich zu der Holztür, die ich von außen nicht öffnen konnte. Sie war mit einem Riegel von innen gesichert, deswegen ließ sie sich auch nicht öffnen.
Als ich mit Lena ins Freie trat, war das Gewitter zwar abgeklungen, dafür regnete es jetzt sehr stark. Ich ging so schnell es mir möglich war, durch das Maisfeld zu meinem Transporter und legte Lena in eines der langen Paketfächer.
Das war der leichte Teil der Nacht. Michael war, trotz seiner ausgeweideten Organe, immer noch sauschwer und ließ sich nur mühsam von der Kette entfernen. Ich brauchte bestimmt das Dreifache der Zeit, bis ich ihn durch den Flur geschliffen und endlich im Freien hatte.
Draußen fand ich glücklicherweise einen leeren Leinensack. Darauf schliff ich ihn, ähnlich wie auf einer Trage, durch das Maisfeld bis zum Transporter. Endlich im Transporter suchte ich in seiner Jeans nach meinem Handy. Danke Gott, da war es auch.
Als ich endlich Richtung Friedhof fuhr, brüllte mein Rücken vor Schmerz, aber noch war mein Werk nicht vollendet.
Ich ging von hinten an den Friedhof heran. Glücklicherweise ein Waldfriedhof und nur mit Hecken abgezäunt. Ich suchte mir eines der frischen Gräber aus, auf dem noch die Grabgestecke von der Beerdigung lagen. „Agatha“ stand einfach nur auf dem Grabstein. Agatha, du kriegst Besuch.
Vorsichtig legte ich die Blumen zur Seite und fing an zu graben. Wieder setzte ein Gewitter ein und der Regen prasselte nur so auf mich herab. Die Erde wurde immer rutschiger. Ich hatte langsam Sorge, das ich die beiden nicht tief genug vergraben könnte.
Es dämmerte schon, als ich die letzte Erde, mal wieder, auf meinen ehemaligen besten Freund und Lena fielen ließ. Ich legte die Grabgestecke so wie vorhin wieder ab und fuhr in die Firma. Dreckig und von oben bis unten mit Friedhofserde beschmiert. Ich musste dringend den Wagen noch zurück bringen.
Harry, der Packer hätte mich fast gesehen, wie ich den Schlüssel zurück in den Schrank gehängt hatte.
Ich fuhr mit meinem Wagen nun nach Hause und warf meine Klamotten in den Müll.
Geschlafen hatte ich vielleicht drei Stunden, als es an der Tür klingelte. Ich öffnete, vor mir standen vier Polizisten und ein fetter Kommissar.
„Herr DennisTscherkobat?“ fragte mich der fette Polizist.
„Kommen sie rein.“ antwortete ich resigniert.

Ja, an manchen Tagen hasse ich das Leben mehr als sonst. Aber das Leben und ich waren noch nie beste Freunde gewesen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.07.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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