Artur Hüttemann

Der Mönch und der Bär

Im Gebiet der Bergstraße, am Rande des Odenwaldes, lebte vor vielen Jahren einmal ein Mönch aus dem Kloster Lorsch. Er hatte sein Mönchsein im Kloster nicht freiwillig aufgegeben, sondern war auf einem Karren, todgeglaubt, auf den Friedhof gebracht worden. Alle Anzeichen hatten dafür gesprochen, dass ihn die furchtbare Pestilenz heimgesucht hatte, und nachdem Oderich, so hieß dieser Mönch, ins Koma verfallen war, ließ der Abt in fortschaffen, bevor er die anderen Mönche des Klosters anstecken könne.
Doch der Mönch Oderich war wieder zum Leben erwacht, als er merkte, dass man ihn lebendig begraben hatte.
Niemand hatte es gewagt, ihm sein Kruzifix vom Hals zu nehmen, das er immer zu tragen pflegte. Wenngleich von der Krankheit sehr geschwächt, gelang es dem Mönch, mit den Kanten des Kruzifixes das dünne Leinen zu durchtrennen, in das man ihn flüchtig gewickelt hatte und sich mit einiger Mühe durch die zum Glück recht dünne Erdschicht zu graben, die ihn überdeckt hatte. Orientierungslos war er damals durch die dunkle Nacht geirrt, und da er befürchtete, dass man ihn in der panischen Angst vor der Pest bei Tag einfangen oder töten würde, versteckte er sich bei Tag im Laub der dichten Wälder, um nachts weiter in jene Richtung zu eilen, in der er das Kloster vermutete. Aber er irrte sich in seinem Weg und kam so immer weiter in östliche Richtung.
Nach Wochen unsicherer Wanderung gelangte er in den Odenwald, und er erkannte, dass er sich total verlaufen hatte.
„So sei es denn“, murmelte er, „wenn Gott es denn will, werde ich hier mein Büßerdasein fortsetzen. Nie soll jemand erfahren, woher ich komme und welches Geschick mich an diesen Ort brachte. Dein Wille geschehe, mein Herr! So will ich mich in Schweigen hüllen und als ein einsamer Eremit mein Dasein fristen.“

So lebte er viele Jahre wie ein Tier in der freien Natur, ernährte sich von Beeren und Wurzeln und wunderte sich selbst, dass er dabei vollkommen gesundete und wieder ganz zu Kräften kam.
Und noch etwas anderes wunderte ihn.
Wenngleich sie im Kloster belehrt wurden, den wilden Tieren des Waldes, und vor allem den Bären und Wölfen, aus dem Weg zu gehen, er kannte nicht die geringste Angst. Oderich musste vielmehr feststellen, dass ihm anfangs gerade diese wilden Tiere aus dem Weg gingen.
Als er eines frühen Morgens auf der Suche nach essbaren Pilzen durch den Wald streifte, entdeckte er einen Bären, der mit grässlichen Blessuren mehr tot als lebendig in einer Grube lag. Bei dem Versuch, ein Bienennest vom Baum zu schütteln, hatte sich oberhalb gelegenes Gestein gelöst und war mit reichlicher Wucht auf den Bären gestürzt.
Oderich merkte, das der Bär noch lebte, wenngleich er sich nicht rührte und Blut aus einer klaffenden Wunde seines Nackens triefte.
„Was tun?“ fragte sich der Mönch, ob ich ihm helfen kann?“
Vorsichtig löste er die Gesteinsbrocken vom Körper des Tieres, wobei er einige Steinsplitter behutsam herauszog, die sich in das Fell des Bären gebohrt hatten.







Unweit von jener Stelle, an der er den verwundeten Bären gefunden hatte, hörte der Mönch einen Bach zu Tale stürzen. Oderich riss ein Stück seines zerschlissenen Umhang ab und tauchte dieses in das kühle Nass. Wieder ging er zurück zu dem verletzten Bären und tupfte sorgsam aber äußerst vorsichtig die Wunden des Bären. Dieser zuckte kurz zusammen, als er das kühle Nass auf seinen Wunden spürte. Mit einem gefährlichen Brummen dreht er langsam den Kopf zur Seite und öffnete die bis dahin geschlossenen Augen. Oderich hatte sich in diesem Moment sehr ruhig verhalten.
Noch während der Bär in misstrauisch beäugte, tupfte Oderich erneut die Wunden, um so vor allen Dingen zuerst die heftige Blutung der großen Nackenwunde zu stillen.
Wenn der Mönch nun erwartet hatte, dass der Bär wieder unwirsch reagieren würde, sah er sich zu seiner Überraschung getäuscht.
Mit einem leisen Brummen legte dieser seinen schweren Kopf auf die Seite und ließ gewähren, dass der Mönch seine Wunde mit dem wohltuenden Nass des Baches kühlte und säuberte.
Wieder und wieder war der Mönch zum Bach geeilt, um das Tuch immer wieder auszuwaschen und neu zu tränken.
Der Bär schien eingeschlafen zu sein. Sein Körper hob und senkte sich im Rhythmus gleichmäßigen Atems.
Nun hielt es Oderich für angebracht, wieder zu seiner Höhle zurück zu gehen, wobei er überlegte, wie er denn dem verwundeten Bären weiter helfen könnte.
Er hatte im Laufe der Zeit gelernt, wie er aus gepressten Kräutern und Wurzeln eine Brei herstellen konnte, der heilende Wirkung erzeugte, wenn er ihn auf kleine Risswunden legte, die er sich bei seinen Waldgängen schon mal eingefangen hatte. Der kleine Vorrat an heilenden Brei, den Oderich sich für alle Fälle zubereitet hatte, könnte natürlich nicht reichen, die große Wunde des Bären zu bedecken.
Also machte er sich auf den Weg, um so schnell wie eben möglich eine ausreichende Menge des Heilmittels zusammen zu bringen. Ihn schien auch deshalb Eile geboten, weil es bald dunkeln würde, und er war sich nicht sicher, ob sich nicht Wölfe oder Wildkatzen an dem wehrlosen Bären vergreifen würden.
Der Bär schlief noch immer, als Oderich zu ihm zurückkam.
Die Blutung war bald gestillt, und nun bestrich der Mönch die Wunde mit seiner Salbe, die er mit frischen Kräuterblättern sorgsam abdeckte.
Nun hieß es abwarten.
Der Mönch hatte sich auf den Grubenrand gesetzt und dort ein kleines Feuer entfacht, das er zwischen aufgeschichteten Buntsandsteinen entfacht hatte. So wachte er die ganze Nacht, schlief wohl selbst für Minuten im Sitzen, um dann wieder wortlos Gott zu preisen und um Genesung des verwundeten Bären zu bitten. Hin und wieder knisterte und knackte es bedenklich im Unterholz, aber mehr als hin und wieder zwei leuchtende Augen, die neugierig oder belauernd zu ihm rüber blickten, bekam Oderich keines der nachts jagenden Waldtiere zu Gesicht.

Am Morgen wechselte er den Salbenbrei und sah zu seiner Überraschung, dass sich der Wundbrand schon gelegt hatte. Auch schienen die Schmerzen an Heftigkeit verloren haben, den der Atem des Bären war nicht mehr so oft vom Stöhnen unterbrochen.




Er lag vielmehr ruhig da und beobachtete den Menschen mit zunehmend wacheren Blicken.
Wieder war der Mönch zu seiner Höhle zurückgekehrt und hatte allen Honig aufgesammelt, den er sich als Wintervorrat eingesammelt hatte.
„Er braucht ihn mehr als ich“, dachte Oderich, als er dem Bären eine Hand voll vor die Schnauze legte. Die Augen des Bären öffneten sich weit, und es schien, als bemühe er sich, den Kopf zum Honig hinzustrecken. Aber es gelang ihm nicht, er war noch zu entkräftet.
„Was tun?“ dachte Oderich, soll ich es wagen?“ Er fasste allen Mut zusammen und strich dem Bären den Honig um das Maul. Erst zuckte der Kopf ein wenig, aber dann schleckte der Bär den Honig bis seine Lefzen völlig abgeleckt waren. Wieder und wieder bestrich er des Bären Schnauze, bis dieser wieder in einen heilsamen Schlaf versank.
Noch während der Mönch neben dem großen Bären kauerte, überkam ihn selbst der Schlaf so sehr, dass er neben dem Bären einschlief.
Oderich träumte einen wunderschönen Trau und sah sich im Kreis einiger Jugendfreunde auf einer schönen grünen Wiese mit lauter jungen Bären spielen. Er selbst ritt auf einem sehr großen Bären, der mit ihm auf dem Rücken sich auf die Hinterbeine stellte, ohne dass Oderich selbst von seinem Rücken glitt. Seine Mutter kam nach einer Weile zu den spielenden Burschen auf die Wiese und wusch Oderich mit einem Tuch das Gesicht. Erst als das Wischen nicht aufhörte, erwachte der Mönch und bemerkte zu seinem Erschrecken, dass es der Bär war, der ihm mit warmer Zunge das Gesicht ableckte.
Oderich hob den Kopf und sah zu seinem Erstaunen, dass er wohl in seiner totalen Übermüdung neben dem Tier eingeschlafen war, dessen wohlige Wärme ihn lange und tief hatte schlafen lassen. Eine Pranke des Bären lag über seiner Schulter. „Hallo, mein Freund“, sprach nun Oderich, nachdem er sich vorsichtig wieder neben dem Bären aufgerichtet hatte, „hatte ich Honig im Bart oder glaubtest du, mich pflegen zu müssen? Warte, ich habe noch etwas Honig für dich, der wird dich wieder auf die Beine bringen.“
Als hätte der Bär ihn verstanden, drehte er sich wohlig grunzend auf die Seite und schleckte begierig den Honig, den Oderich ihm nun vorhielt.
Drei Tage und Nächte pflegte Oderich so den Bären.

Als der Mönch wieder einmal von seiner Höhle zurückkam, er hatte noch etwas Honig gehohlt, bemerket er zu seinem Erstaunen, dass der Bär nicht mehr in der Grube lag.
„Nun, mein Freund“, so dachte der Mönch, „geht es dir also wieder besser, dass du schon wieder auf den Beinen bist.“ Zufrieden und in dem Bewusstsein, Gutes bewirkt zu haben, ging der Mönch wieder zu seiner Höhle zurück.

Monate um Monate strichen ins Land, ohne dass sich im Leben des Eremiten Wesentliches ereignet hatte.
Oderich hatte den Bären lange nicht mehr zu Gesicht bekommen.







Eines Abends, es war an einem kalten Wintertag, hatte der Hunger einige Wölfe auf die Spur des Mönches gebracht. Dieser hatte schon in der hellen Mondnacht des Vortages mit einigem Grauen dass Heulen der Wölfe vernommen, das seiner Höhle bedenklich nahe gekommen war. Er hatte das Feuer in seiner Höhle nicht ausgehen lassen, doch als er am frühen Abend dieses Tages die Lagerstätte verließ, um in der Nähe seine Notdurft zu verrichten, sah er sich einem Rudel Wölfe gegenüber. Es gab für ihn kein Entrinnen, denn hinter ihm gab es nur schroffen Fels und vor ihm die Wölfe. Noch überlegte der Leitwolf, wann er mit seinem Sprung dem Rudel das Kommando zum Angriff geben sollte. Der Mönch starrte wie gelähmt in die funkelnden Augen des großen Wolfes, als ein mächtiger Bär seitwärts aus dem Wald auf den Leitwolf zustürzte. Jeder der Wölfe hatte sich so auf das menschliche Opfer konzentriert, dass keiner von ihnen bemerkt hatte, wie der Bär ihnen gefolgt war. Nun aber sprang dieser mit einem mächtigen Satz und gefährlichem Brüllen auf die Wölfe und hieb mit seinen gewaltigen Pranken auf diese ein, dass erst der Leitwolf und gleich darauf zwei weitere in hohem Bogen durch die Luft flogen. Die anderen Wölfe suchten flugs das Weite.
Wild brummend und dabei seinen mächtigen Kopf hin und her werfend stand nun der große Bär vor Oderich auf den Hinterbeinen, senkte sich langsam ab und kam nun Schritt für Schritt auf den Mönch zu. Dieser war ängstlich auf die Knie gesunken und verharrte nun in einer gottergebenen geneigten Stellung, als ihn die warme Schnauze des Bären anstieß.
Jetzt erst erkannte Oderich jenen Bären, dem er vor Monaten das Leben gerettet hatte, und der ihn heute aus größter Lebensgefahr errettete. Auge in Auge standen sich die beiden Freunde schweigend gegenüber, und Oderich strich dem Bären liebevoll über die längst vernarbte aber immer noch klar zu erkennende Verletzung am Nacken des Tieres.
„Ja, mein Freund“, sagte Oderich leise dem großen Bären ins Ohr, „heute hast du mich gerettet, jetzt sind wir quitt!“ Wieder brummte der Bär und wiegte sein Haupt hin und her, bevor er sich dann langsam und offensichtlich schwerfällig wieder davon trollte. Der Mönch zog es auch vor, sich schnell wieder in seine Höhle zu begeben, konnte er doch nicht sicher sein, ob die Wölfe nicht doch noch einmal angreifen würden.
Doch die Wölfe hat Oderich niemals mehr zu Gesicht bekommen. Hin und wieder
hörte er des nachts Knackgeräusche im Walddickicht, manchmal ein leises Brummen, doch wann immer er auch vor die Höhle trat, um vielleicht wieder einmal seinem Freund, dem Bären, zu begegnen, suchte er vergebens.

Es war an einem sonneigen Sommermorgen, als Oderich ein leises Scharren vor seinem Höhleneingang vernahm. Vorsichtig erhob er sich von seinem Lager, um nachzusehen, woher das schabende Geräusch im Eingangsbereich herkam. Er traute seinen Augen nicht. Vor ihm stand der große Bär, offensichtlich ein Bärenweibchen, denn neben ihr tummelte sich ein kleiner Bär, ein noch relativ winziges Bündel aus Lebenslust und Neugier.
„Hallo, meine liebe Freundin“, rief Oderich, „wie lange hab ich dich nicht mehr gesehen? Wen bringst du mir denn da? Ist das dein Junges, das du mir heute vorstellst?“






Wieder richtete sich die Bärin hoch auf und postierte voller Stolz, wie es schien.
„Braves Mädchen, dass du mich nicht vergessen hast und mir dein Junges zeigst!“ Noch einmal streckte sich die Bärin in ihrer ganzen Größe dem Himmel entgegen und fuchtelte mit ihren großen Pranken in der Luft. Dann stieß sie ein kurzes aber markantes Brummen aus, senkte sich wieder auf alle Viere, um mit dem jungen Bären im Schlepp wieder zum Wald zu trotten.

Von diesem Tag an hat der Mönch Oderich, der hier noch viele Jahre seines bescheidenen Lebens in Demut und Enthaltsamkeit lebte, seine Freundin, die große Bärin, nie mehr gesehen, so sehr er es sich auch gewünscht hatte, ihr wieder einmal zu begegnen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.07.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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