Paul Pistole

Der Autistenkongress

Ich hatte anscheinend die ganze Nacht durch den Mund geatmet. Zumindest sprachen einige Anzeichen dafür: Gaumen und Zunge waren derart mit Staub und Ähnlichem verklebt, dass überhaupt kein Speichelfluss mehr zustande kam. So mussten sich mumifizierte Altägypter fühlen.
Ich ging ins Bad und spülte mir den Mund aus, bis der Geschmack von totem Kamel verschwunden war. Dann schlappte ich los Richtung Küche.
Seit einer gewissen Zeit hatte ich mir die seltsame Angewohnheit zugelegt, am Morgen Selbstgespräche zu führen und mich selbst zu beschimpfen, wenn ich am Vorabend getrunken hatte. Und ich trank oft.

Während ich den Kühlschrank inspizierte, murmelte ich zweimal „Scheiße, nix zu essen im Haus…“ vor mich hin. Dabei bemerkte ich, dass meine Stimme eine Oktave tiefer klang als sonst. Dies war ebenfalls ein zweifelsfreies Symptom schlechter nächtlicher Nasenatmung. Und von reichhaltigem Alkoholkonsum. Irgendwie gefiel mir diese tiefere Stimmlage und so kommentierte ich jeden meiner suchenden Blicke in den leeren Kühlschrank:
„Ah, eine Packung Räucherlachs, wann hab ich die denn gekauft….hmmm, und wozu?“
„...aber wenigstens hab ich noch acht Flaschen Bier im Kühlschrank, das ist schon mal nicht schlecht…“
„Ah, und auch noch eine halbe Flasche Gin…nicht schlecht, das reicht ja für einen bunten Abend…“
Während ich mir über die Gestaltung des bunten Abends Gedanken machte, schnitt ich die Packung Räucherlachs am oberen Ende auf und roch vorsichtig hinein. Dann kam es mir hoch und ich rannte ins Bad.
Nachdem ich den Lachs entsorgt hatte, gab ich den Versuch auf, noch etwas Essbares zu finden und machte mir lieber einen frischen Kaffee. Damit setzte ich mich auf den Balkon und beobachtete meinen Nachbarn, wie er mit Gummihandschuhen und Schürze bekleidet seine Blumenkübel bepflanzte. Ich hatte diesen Nachbarn samt seiner vorbildlichen, kleinen Familie auf den Namen „Flanders“ getauft. Wie die Familie aus der Fernsehserie "Die Simpsons". Er hieß Ned, Ned Flanders, und sah tatsächlich auch ein bisschen so aus.
Die Flanders hatten mich damals – wenn auch etwas widerwillig – nach ihrem Einzug auf ein Glas Sekt in ihr neues Heim eingeladen. Ich hatte mir beim Betreten ihres Hauses Plastikhauben über die Schuhe ziehen müssen. „Wegen dem Dreck“, wie Frau Flanders damals verschmitzt bemerkte. Ich blieb exakt 7 Minuten.

Während ich Ned Flanders bei seinen Begrünungsarbeiten beobachtete tat der Kaffee seine Wirkung und setzte meine Peristaltik in Gang. Ich begab mich zur Toilette und setze einen ordentlichen Morgenschiss. An einem Tag wie heute ging schließlich der tägliche Stuhlgang auch um 15 Uhr noch als Morgenschiss durch.
Nachdem ich meine innere Reinigung vollführt hatte, konnte ich mich jetzt ganz befreit dem Gedanken an etwas Essbares widmen.
Also murmelte ich wieder mit meiner neuen, tiefen Stimme vor mich
hin: „Hmmm, Pizza oder Thai…..oder doch einen Burger….hmmm…“
Ich entschied mich für Thaifood.
Als ich an den Parkplätzen vor meinem Haus ankam, konnte ich mich partout nicht erinnern, wo ich gestern abend betrunken mein Auto geparkt hatte. Ich war ein schwachsinniger, alter Trottel.  Während ich suchend und fluchend die Straße absuchte, blickte Ned immer wieder leicht irritiert zu mir herüber. Schließlich fand ich die alte Karre und es konnte endlich losgehen. Mein Magen knurrte schon.
Ich kannte die Strecke zum Thai- Imbiss auswendig. Während ich etwas teilnahmslos mein Auto steuerte, fiel mir unterwegs ein Schild auf, das den Weg zum „Deutschen Autismus- Kongress“ auswies. Es gab schon wundersame Dinge auf dieser Welt.
Ich spielte kurz mit dem Gedanken, ob ich nicht hinfahren sollte. Es würde dort sicher reichlich zu Essen und zu Trinken geben und mein Bewegungsablauf war heute sowieso nicht weit von Dustin Hofmanns Rolle in „Rain Man“ entfernt. Ich würde dort also sicherlich nicht auffallen. Während ich noch darüber sinnierte, erreichte ich den Thai- Imbiss.
Thailänder waren freundliche Leute. Sie lachten immer nett, wenn ich zu ihnen kam und die Thai- Frauen waren sowieso als sehr genügsam bekannt. Nicht umsonst verbrachten dort viele seltsame, partnerlose Deutsche ihren Urlaub.
Es war heute sehr voll im Imbiss, aber ich fand zum Glück noch einen leeren Tisch. Anschließend bestellte ich Huhn mit Ingwer und Gemüse und ein Bier.
Während ich wartete beobachtete ich ein wenig die Menschen an den anderen Tischen. Am Nebentisch saß ein Pärchen, das sich unentwegt anschwieg. Was verband solche Menschen eigentlich noch? Es war vermutlich die lästige Gewohnheit.
Während ich darüber nachdachte, betraten vier äußerst komische Vögel das Lokal. Sie sahen sich verwirrt um und steuerten dann direkt auf meinen Tisch zu. Ich hatte eigentlich nichts anderes erwartet und hoffte dennoch, dass sie an mir vorbeilaufen würden. Sie setzten sich alle an meinen Tisch.
Ich hoffte inständig, dass sie mich nicht ansprechen würden. Ich hatte jetzt jedenfalls keinerlei Lust auf eine Unterhaltung auf Schuhschachtel- Niveau. Sie sollten bitte einfach nur still dasitzen, essen und die Klappe halten.
Es waren drei Männer und eine Frau. Der eine Mann sah ein wenig sozialpädagogisch aus, trug eine kreisrunde John- Lennon- Brille und hatte eine gestrickte Umhängetasche um den Hals.
Der wahre Knaller waren allerdings seine drei Begleiter. Sie wirkten wie aus einem alten Monty- Phyton- Film. Der erste blickte andauernd seltsam abwesend in die Luft. Der zweite hielt die Hände wie zum Gebet gefaltet und drehte dabei in unglaublicher Geschwindigkeit seine Daumen gegeneinander. Mir wurde schon vom Zuschauen ganz schlecht.
Als ich gerade abschließend die Frau ansah, legte sie plötzlich den Kopf quer, starrte mich an und sagte mit teilnahmsloser Miene „Huhn, Huhn, Huhn“.
Nun war mir alles klar: ich war in eine Abordnung des Autistenkongresses geraten. Dies bestätigte sich offiziell, als wenig später der Betreuer der drei seltsamen Vögel ein Kongressprogramm aus seiner Strickumhängetasche zog.
Während ich in leichter Verzweiflung an meinem Bier nuckelte, kam mir ein erstaunlicher Gedanke: eigentlich passte ich ganz gut an diesen Tisch. Ein Unbeteiligter hätte mich nicht unterscheiden können. Ich war der verwirrte Trinker mit den Selbstgesprächen und hatte endlich passende Freunde gefunden. Der Gedanke ernüchterte mich etwas. Zumindest wusste ich jetzt, dass es auf dem Kongress nichts zu Essen gab.
Nach einem kurzen Moment der Andacht, blickte ich noch einmal in die Runde. Eigentlich war die Lady mit dem quergelegten Kopf gar nicht so übel: sie hatte eine ansehnliche Figur, schaute die ganze Zeit freundlich und hatte außer ihrem „Huhn, Huhn, Huhn“ bisher nichts gesprochen. Das war insgesamt allemal besser als beispielsweise eine tobende Halbspanierin.

Dann kam mein Huhn mit Ingwer. Sie saßen jetzt alle vier da wie die Zinnsoldaten und beobachten mich bei jedem Bissen. Sollte mir recht sein.
Ich lachte die Autistenlady an und sie lachte zurück. Vielleicht war das meine Passion. Ich war schließlich auch nicht ganz dicht. Sie lächelte ununterbrochen freundlich und redete wenig. Soweit ich das laienhaft wusste, waren Autisten nicht wirklich behindert, sondern eher außerhalb der Norm. Sie beherrschten teilweise simpelste Dinge des Alltages nicht und waren stattdessen in anderen Sachen genial. In gewissem Sinne waren sie mir nicht unähnlich.
Ich überlegte mir, in welchen Dingen die Lady gegenüber wohl genial sein könnte. Dabei fielen mir einige Sachen ein, die ausgereicht hätten, um sie sofort mit nach Hause zu nehmen. Aber wahrscheinlich konnte sie nur brillant alle amerikanischen Präsidenten in Lego- Steinen nachbauen. Oder alle Wagner- Opern auf dem großen Zeh pfeifen. Wer wusste das schon.
Ich trank mein Bier aus und bezahlte. Auf dem Heimweg setzte erbeut meine Verdauung ein. Ich wollte dauernd furzen, hatte aber Angst, dass noch andere Dinge außer Luft den Weg ins Freie finden würden. Also kniff ich die Arschbacken zusammen.

Als ich gerade zu Hause einparkte, lief die gesamte Familie Flanders an mir vorbei und grüßte freundlich. Sie sahen aus, wie eine Abordnung aus einem Versandhauskatalog. Wahrscheinlich fuhren sie zum Kaffeetrinken bei den Schwiegereltern. Da waren mir meine neuen Autistenfreunde schon lieber.
Auf dem Weg zum Hauseingang bemerkte ich, dass die Blumenkübel nun vorbildlich bepflanzt waren. Ich schüttelte darüber unsinnigerweise den Kopf: nicht die Flanders waren die Außenseiter, ich war es. Über meinen Lebenswandel wunderten sich die Nachbarn, nicht über den der Flanders'. Irgendwie waren mir die Autisten von eben näher gewesen als solche Leute. Das Leben gab manchmal subtile Hinweise.
Zuhause holte ich mir noch ein Bier aus dem Kühlschrank und dachte über die Autistenlady nach. Mit solch schwerwiegenden Gedanken befasst, schlummerte ich wenig später auf der Couch ein. Ich tat es mit gutem Gewissen.

copyright. revolvergeschichten.com. paul pistole. 2009

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.07.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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