Elfie Nadolny

Die vier Geschwister

Auf der Mondwiese hatten sie sich versammelt - wie sie es alle zwölf Jahrhunderte tuen. In festlichem Gewande traten alle auf zum großen Empfang der Königin der Nacht. Es trat die Natur auf mit all ihren Gewalten und Elementen, die Bewohner aller Spären des Universums waren geladen, nur der Mensch, das unbekannte Wesen, war nicht vertreten.

Immer wieder gab es reichlich Themen, die erörtert und philosophiert wurden, ob Himmel, Erde, Gestirne, Flüsse ein Geschlecht hätten und wenn welches und warum die Menschen diese in den verschiedenen Sprachen zuweilen männlich oder weiblich einordnen würden, sie besprachen die Reihenfolge der Schöpfung und die Stellung des Menschen, niemals gingen die Themen aus. Und diesmal war die große Frage, wer oder was das Schönste ist, was jemals geschaffen wurde.
Sie waren noch gebannt von dem Auftreten der Gastgeberin, die auf ihrem majestätischen Thron Platz genommen hatte. Wie immer war sie aufgetreten in ihrem wunderschönen schwarzen Seidenkleid und mit einem Sternenkranz um die Stirn, ihre schlanke Hüfte zierte ein Mondgürtel und ihre dunkle Gestalt erstrahlte im Licht.

Kurz vor Mitternacht kam der Donnermann mit einem lauten Paukenschlag an, gefolgt von kleinen Sternenkindchen, die viel Licht auf die Mondwiese brachten und feine Glöckchen erklingen ließen. Der Donnermann verkündete mit lauter Stimme:
„Heureka, wir haben das Schönste gefunden, was das Universum zu bieten hat und die Abstimmung hat ein klares Ergebnis gebracht: Die Wahl fiel zu hundert Prozent aus für das Schönste des Schönen.““ Und alle schauten gespannt. „“Nun, lieber Donnermann“ , sagte die Königin liebreizend: „Zeige uns das Schönste der Welt und wir werden ihm huldigen.““

Eine Lichtertür sprang auf und herein schritt ein sehr junges Wesen. War es ein Mädchen oder war es ein Knabe, ein Kind oder ein Wesen in der Blüte seiner Jugend?  Das kleine zierliche Wesen kam recht scheu und langsamen Schrittes herein, hatte ein kurzes grünes Kleidchen an, auf dem viele Blümchen zu sprießen schienen, das Haar war geschmückt mit einem Blütenkranz und das schöne blonde Haar fiel ihm bis über die Schulter. „“Ja, sehr hübsch und anmutig,“  bestätigte die Königin.  „Aber warum sollte dieses Kind das Schönste sein, was das Universum zu bieten hat?““ Aus den Reihen der Juroren kam: „Es ist die Unschuld, die von ihm ausgeht. Es ist die Macht dieses liebreizenden Wesens, alle Bewohner der Erde froh zu stimmen, die Blüten ersprießen zu lassen, den Himmel lachen zu lassen, die Vögel zum Singen zu inspirieren, die Herzen der Menschen zu erfreuen, Amor zu wecken und wenn du, verehrte Königin mal ein Äuglein schließt, dann entsteht aus den Umarmungen der Erdenbewohner neues Leben.““

Und wirklich, auch die große Königin konnte sich dem Zauber dieses unschuldigen Wesens nicht entziehen, ging auf das zarte Wesen zu und fragte nach dessen Namen:
„Ich bin der Frühling, Frau Königin,“  kam leise die Antwort. Alle Gäste klatschten begeistert und die große Königin sagte:  „Von dir hört man nur Gutes, so wollen wir dir huldigen, dich bekränzen und dir einen großen Ehrenplatz einräumen.““

„Nein, bitte tut das nicht, es ist sehr schön, dass ich euch gefalle, aber ich alleine bin nur ein Teil eines Ganzen und ich gehöre untrennbar zu meinen Geschwistern.““ „Ach“, sagte lachend der Donnermann:  „Du zierst dich ein bisschen, wir wissen, dass du zu den vier Jahreszeiten gehörst und du bist nun mal die schönste von allen, du bist der Beginn allen neuen Lebens.““
„"Nein, nein!", antworte das junge Wesen. „"Ich bin nur schön als Einheit."“ Schaut euch mal meine Geschwister an, ich zeige sie euch.
Und herein kam der Sommer mit sehr viel Licht und sehr viel Wärme, es war eine schöne Person mit schwarzen Haaren. Die Beiden umarmten einander herzlich. Der Sommer hatte einen Korb mit vielen Früchten bei sich und der Frühling jubelte: „Aus meinen Blüten hat der Sommer viele Früchte gemacht. Und der Sommer antwortete bescheiden: „Nicht nur ich, meine Kleine, auch der Herbst bringt Früchte und bringt die Ernte ein, die lange vorbereitet wurde.“Da kam der Herbst herein, eine stolze Erscheinung mit rötlichen Haaren, brachte in einem Füllhorn Nüsse und Äpfel und strahlte. Er ging behutsam über ein Ährenfeld, während er Frühling und Sommer an der Hand hielt, fast flogen sie gemeinsam und leichtfüßig darüber.

„"Wozu macht ihr das denn alles?", wurden sie gefragt. „"Damit Menschen und Tiere leben können und die Natur im Einklang ist“, war die gemeinsame Antwort der drei Geschwister. „Tja“, kam es einstimmig von den Juroren, das überzeugt schon. „Aber der Winter ist für nichts nütze, der ist nicht schön, nur kalt, bringt Tod, der passt nicht zu euch, der muss weg.“ Du da riefen die Drei den Winter. Er kam sehr würdevoll und langsam herein, sah mit seinen schlohweißen Haaren sehr eindrucksvoll aus und trug dunkelglänzende Kleidung mit wunderschönem weißen Pelz besetzt. „Ich grüße euch, ich bin der Winter.“ Und die drei Geschwister freuten sich sehr. Die Juroren schüttelten verständnislos den Kopf. Da ging der Frühling auf den Winter zu, umarmte ihn, nahm er seinen Korb ab und zeigte allen stolz, was darinnen war. Darin waren viele Gaben: Getrocknete Datteln und Feigen, Lebkuchen, Spekulatius, Makronen und vieles mehr und aus seinem Pelz rieselten samtweiche Schneeflocken weich auf den Boden. Und Frühling, Sommer, Herbst und Winter bauten einen schönen Schneemann daraus. „Aber der schmilzt doch wieder“, kam es mächtig vom Donnermann „und die Natur geht zu Ende“.“
„Das sieht nur so aus“, antwortete der Frühling. „Er bringt Schlaf und Ruhe, oft auch Erlösung und dann küsst er mich, damit ich neues Leben schaffen kann und ich küsse meine Geschwister und jeder kennt seine Aufgabe.“  Und die Geschwister hielten einander an den Händen.

Die sternenförmige Königin erhob sich und sagte: „Ja, eure Eintracht ist das Schönste.“ Ein silberhelles Lachen erklang über die Sternenwiese und der Paukenschlag des Donnermanns
kündigte Zustimmung aller an.

© Elfie Nadolny

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Elfie Nadolny).
Der Beitrag wurde von Elfie Nadolny auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.08.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Elfie Nadolny als Lieblingsautorin markieren

Buch von Elfie Nadolny:

cover

Unser Literaturinselchen - An vertrauten Ufern von Elfie Nadolny



Bebilderte Gedichte und Geschichten von Elfie und Klaus Nadolny

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Märchen" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Elfie Nadolny

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen von Elfie Nadolny (Weihnachten)
Engelsbonbon von Karin Ernst (Märchen)
Unser Hund Schiefkopf von Karl-Heinz Fricke (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen