Heidrun Gemähling

Dachbodengeflüster

 

Dachbodengeflüster

Seit Tagen hatte eine melancholische Stimmung sie in die Vergangenheit getragen und Gedanken an die Kindheit hervorgewühlt. Wie doch bloß die Zeit vergeht, dachte sie, und stieg eines Tages gedankenverloren die Treppen zum Dachboden hinauf. Sie schob den kleinen Riegel zur Seite und öffnete die Tür. Ihr Blick fiel sofort auf die Kiste unter der Dachschräge. Schnellen Schrittes lief sie darauf zu, hob mit Schwung den Deckel ab und schaute neugierig hinein.

Ihre geliebte Puppe „Ute“ im von der Oma selbstgenähten, roten Kleid lag gleich obenauf. Der seitlich eingedrückte Pappmaché-Kopf kam zum Vorschein mit starren, blauen Augen, die für sie immer noch lebendig wirkten und daneben lag eingequetscht der abgetrennte Stoffarm. Die alt gewordene Marlene durchlebte berührende Momente. Kaum hörbar flüsterte sie:

Ich habe dich immer noch lieb!“, hob ihre Entdeckung heraus und besah sie sich erneut von allen Seiten.

Sie hatte das Gefühl, dass das Püppchen sie verstand, so wie früher, als sie hinter dem alten Sofa Mutter und Kind spielten. Nochmals wühlte sie in der Kiste. Dabei entdeckte sie den bunten Kasper aus Blech, der früher auf dem Rad eine Schnur hatte entlang fahren können. In der unteren Ecke steckte der braune Bär mit nur einem Ohr, das andere war mit einem Heftpflaster beklebt, weil Struppi, ihr damaliger Hund, es voller Begeisterung abgerissen hatte. Die Glasaugen fehlten und aus einem Bein ragte Holzwolle hervor.

Auch euch habe ich lieb!“, sagte sie leise vor sich hin. Es war ihr, als höre sie ihre Liebsten antworten. Wie damals als Kind.

Die Gedanken an frühere Zeiten überwältigten die alte Frau. Sie ging seitwärts, öffnete das Dachfenster, sah den wolkenverhangenen Himmel und fing an zu weinen.

In diesem Moment wurde ihr bewusst, wie lebendig doch Erinnerungen sein können und wandte sich erneut der Schatztruhe zu. Mit noch verschwommenen Augen durchwühlte sie den Rest und hielt plötzlich ein Buch in der Hand, ihr geliebtes erstes Schulbuch mit dem schönen Märchen „Sterntaler“. Sie klemmte es sich unter den Arm und spürte, als sie die Treppe wieder hinabstieg, ein befreiendes Gefühl in ihrem Herzen.

© Heidrun Gemähling

 

 

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