Klaus Eylmann

Eheglück

Das, was ich befürchtet habe, ist eingetroffen. Irgendwann musste es ja passieren. Meine Tochter hat sich verliebt.
“Papa, er heisst Ron, und morgen Nachmittag möchte ich ihn dir gern vorstellen.”
“Wo hast du ihn denn kennengelernt?”
“Im Blind Horse Saloon. Er ist ein so fabelhafter Tänzer.”
Claudia blickte verträumt aus dem Fenster. “Alle Mädchen wollen mit ihm tanzen, doch er hat nur Augen für mich. Womit habe ich das verdient, das grosse Glück?”
“Dass er so gut tanzen kann?” Claudia hörte nicht den zynischen Unterton heraus.
“Was ist denn an ihm so aufregend?”
“Ich weiss es auch nicht.” Claudia schüttelte verwirrt den Kopf, als habe ich sie gewaltsam aus ihrer Träumerei herausgerissen. “Es ist nur so, wenn er mich ansieht, dann verschwindet die Umgebung um mich herum und ich sehe nur ihn, nur ihn allein.”

Am nächsten Nachmittag stand Ron im Flur und schüttelte mir die Hand. Er hatte einen angenehm festen Händedruck. Ich blickte ihn an, dann auf die Garderobe, den Garderobenspiegel, die Lampe und den Teppich, dann auf Claudia, die bebend neben mir stand. Die Umgebung war noch da.
Ron sah gut aus, hatte ein kantiges Gesicht mit einem Schmiss auf seiner linken Wange, dunkle Haare, blaue Augen und eine muskulöse, untersetzte Gestalt, und irgendwie hatte ich das Gefühl, ihn schon mal gesehen zu haben.
“Ron, Sie kommen mir bekannt vor. Sind wir uns schon mal begegnet?”
“Kaum möglich. Ich bin erst seit einem halben Jahr in dieser Stadt.”
“Wo waren Sie vorher?”
“In Spartanburg.”
“Ron, wo haben Sie denn den Schmiss her?”
Ron lachte. “Konstruktionsfehler.”

Ron hatte einen Elektroladen. Das fand ich in unserem Gespräch heraus. Er reparierte Fernseher, Radios, Kühlschränke und Telefone. Im Geiste sah ich Claudia schon hinter der Ladentheke stehen, während er in der Werkstatt dahinter schraubte und lötete. Wieso hatte ich das Gefühl, ihn zu kennen? Ich dachte nach und ging wie von selbst auf einen kleinen Schrank zu, in dem meine Mutter ein Bündel Briefe aufbewahrt hatte. Kannte ich diese? Hatte sie mir die Briefe einmal gezeigt, als ich ein kleiner Junge war?
Ich holte das Bündel aus dem Schrank, zog die Briefe aus den Umschlägen und fing an zu lesen. Ein Foto fiel auf den Teppich. Es zeigte ein Paar, die Frau war nicht meine Mutter. Es war meine Grossmutter mit ihrem Mann. Ich schaute genauer hin. Er sah gut aus, hatte ein kantiges Gesicht mit einem Schmiss auf seiner linken Wange, dunkle Haare, blaue Augen und eine muskulöse, untersetzte Gestalt, und ich wusste, dass ich ihn schon mal gesehen hatte.
Meine Grossmutter hatte ich nie kennengelernt. Sie war vor meiner Geburt nach Spartanburg gezogen. Sie schrieb von ihrem Ron, der ein so guter Tänzer war. Sie schrieb, wenn er sie ansah, verschwand die Umgebung um sie herum, und sie sah nur ihn, nur ihn allein. Ich las alle ihre Briefe, erfuhr, dass sie eine sehr glückliche Ehe führten, dass Ron ein Elektrogeschäft hatte, in dem er Radios reparierte. Während sie hinter der Ladentheke stand, schraubte und lötete er in der Werkstatt dahinter und lud sich während der Mittagspause an der Steckdose auf.

Nach ein paar Wochen heirateten Ron und Claudia. Mir war etwas unbehaglich zumute, doch was hatte ich für einen Grund, dem Glück meiner Tochter im Wege zu stehen?




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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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