Yvonne Habenicht

Oh, du fröhliche...



Oh, du fröhliche...

Jetzt hätte sich Rita zurücklehnen können, um zu sagen: „Das war ein schönes Fest.“ Nach dem wochenlangen Marathon durch Geschäfte und Kaufhäuser, nach klebrigen Backblechen vom Plätzchenbacken, der steten Angst, bei all der Hektik doch etwas ganz Entscheidendes vergessen zu haben, war der Heilige Abend wirklich gelungen. Keines der drei Kinder hatte ein langes Gesicht angesichts seiner Geschenke gezogen, Hannes hatte willig all die gewünschten Fotos gemacht, der Kartoffelsalat war entgegen ihrer Bedenken nicht zu säuerlich gewesen, kein Würstchen war geplatzt. Es hatte morgens sogar zu schneien begonnen, und die Tannen im Garten, von denen eine lichtergeschmückt war, sahen märchenhaft aus unter dem frischen, weißen Schnee.
Ja, dachte Rita, es wäre wunderschön, diesen Abend und die folgenden Feiertage zu genießen. Stattdessen schwebte der Gedanke an den morgigen Tag schon seit Wochen wie ein Damoklesschwert über dem Fest, denn alle Jahre wieder fiel ihnen das gesammelte Geschwader der Familien Schiller und Korte zum Weihnachtsessen und Familientreffen ins Haus. Kein Weg führte daran vorbei. Früher hatte die Weihnachtsessen bei Hannes’ Großeltern, Wilhelm und Elfriede Korte, stattgefunden. Die holte Hannes nun allweihnachtlich aus dem Seniorenheim ab, und von Mal zu Mal waren sie verwunderter, dass Weihnachten war. Die Wahl für die Treffen war auf sie und Hannes gefallen, weil sie das große Haus hatten. Weder ihre noch Hannes’ Eltern hätten Verständnis gehabt, nicht eingeladen zu werden, und in ihrem Gefolge setzten etliche Anverwandte samt Gatten und Nachwuchs die Einladung weiterhin als selbstverständlich voraus.
Die Familienspeisung wäre noch hingegangen, wenn nicht vielfache kleine und große Zwistigkeiten zwischen den einzelnen lieben Angehörigen scheinbar nur auf dieses Essen als Austragungsort gewartet hätten. Zu gerne malte sich Rita aus, wie es wäre, wenn sie allen eine angebrannte, versalzende Erbsensuppe vorsetzen würde, damit die unselige Sitte endlich ein Ende habe. Doch am folgenden Tag stand sie in aller Herrgottsfrühe auf und mühte sich, Tisch, Gans und Pute mit größter Perfektion herzurichten. Die Kinder machten keinen Hehl aus ihrem Widerwillen gegen die bevorstehende Invasion. Die Eltern versuchten mühsam gleiche Gefühle zu verbergen.
Schon bei der Begrüßung der ersten Gäste fühlte Rita sich hundemüde, und glaubte außerstande zu sein, von den bereiteten Braten, Klößen und Beilagen auch nur das Geringste hinunter zu bekommen. Kaum war die schnatternde Verwandtschaft um den großen Tisch gruppiert, Platten und Schüsseln herumgereicht, hatte Hannes Wein eingeschenkt und aufgefordert „auf ein schönes Fest und frohes Beisammensein zu trinken“, da flogen schon die ersten unsichtbaren, kleinen Giftpfeile zwischen den Müttern Schiller und Korte hin und her. Nein, für offene böse Worte waren sich beide zu schade, sie stichelten und piesackten. Leider ließen sie dabei auch Rita und Hannes nicht aus. Wenn Mutter Korte an Ritas Kindererziehung – na ja, wenn eine Mutter auch unbedingt arbeiten wollte – „gutgemeinte Kritik“ übte, standen Mutter und Vater Schiller nicht nach hervorzuheben, wie enorm beruflich erfolgreich dieser und jener, der zufällig in Hannes’ Alter war, gerade sei.
Rita saß neben ihrem Bruder Herbert, eifrig bemüht, ihn in unverfängliche Themen zu verwickeln, denn er war schon leicht angesäuselt zum Essen erschienen, hatte bereits das vierte Glas Wein geleert und konnte cholerisch werden, wenn es gegen seine große Schwester ging. Hannes hatte den unerfreulichen Platz neben Onkel Frank und Tante Anita erwischt. Die beiden waren, jeder für sich, liebenswerte Menschen, zusammen aber ein Pulverfass. Hannes, um Schlichtung bemüht, dachte bei sich, dass es am besten wäre einen von ihnen am Anfang, den anderen am Ende des Jahres einzuladen. Die Großeltern gaben ein blendendes Beispiel, wie es möglich war, nach so vielen Ehejahrzehnten einvernehmlich aneinander vorbei zu reden. Während Opa seine Kriegserinnerungen brummelte, erzählte Oma mit Fistelstimme etwas von Kuchen und einem lila Seidenkleid und der verblichenen Schwester Martha. Niemand hörte ihnen zu, aber sie plauderten unvermindert fort zwischen Gänsebraten und Apfelsaft.
Hannes’ Neffe Max ließ einen Kloß in die Soße fallen, und seine Mutter musste sich verzweifelt mühen, die Fettflecken einigermaßen aus dem Hemd ihres Angetrauten zu entfernen. Herbert erhob sich schwankend und hob sein Glas, wobei der Rotwein auf die Tischdecke kleckerte: „Llliebe und n-nichtliebe Verwandte. Meine liebe, liebe Schwester Rita – Rita – ja, sie hat, na, alles so schön. Hoch soll sie leben!“
Rita zog den Bruder auf den Stuhl und meinte, sie werde jetzt einen schönen Mokka brühen. Die liebe Schwiegermama folgte ihr auf dem Fuß: „Rita, also der Herbert. Also, so was gab es bei uns nicht. Hannes sollte ihn heimfahren.“
Doch Ritas Mutter ließ nicht zu, die Tochter allein dieser „ungebildeten, giftigen Frau“ zu überlassen.
„Mein Sohn arbeitet die ganze Woche schwer. Wenn er mal zu tief ins Glas schaut... schließlich ist Weihnachten. Und lass Rita damit in Ruhe, die hat genug zu tun. Komm Kind, ich helfe dir.“
Auch darauf hätte nun Rita liebend gern verzichtet. Lieber Gott, dachte sie, lass die alle doch bloß schnell verschwinden. Die Kinder hatten es richtig gemacht. Tanja, ihre Große war nach dem Essen gleich zu einer Verabredung mit der Freundin losgezogen, und David und Jan hatten sich mit Max an ihre neuen Computerspiele verkrümelt.
Als Rita mit dem Kaffee ins Zimmer trat, prallte sie den beiden Mädchen ihrer Kusine zusammen, die einander gerade um den Tisch jagten. Der frische Mokka ergoss sich über die kreischenden Kinder und Ritas Kleid, eine Tasse ging zu Bruch. Während die schimpfende Mutter die Mädchen ins Bad schleifte, Rita Tassen und Kanne vom Boden sammelte und ihre Mutter wütend die Flecke auf dem Teppich bearbeitete, ging es am Tisch zu wie auf dem babylonischen Turm. Es hatte den Anschein, alle würden gleichzeitig sprechen, kaum einer was Gutes oder Vernünftiges, dafür aber einer lauter als der andere, ohne dass irgendwer bemüht war, mehr als sich selbst zu verstehen.
„Diese Kinder sind eine Pest, keine Erziehung.“
„Rita hätte auch aufpassen können. Sie weiß ja, dass Kinder hier sind.“
„Ihre waren früher auch nicht besser. Weißt du noch, als...“
„Immer musst du auf ihr rumhacken. Dabei macht sie sich solche Mühe...“
„Ach nee, auf einmal. Zu Hause hast du noch...“
„Hast du gehört, dass Werner schon wieder einen Unfall gebaut hat?“
„So, wie der fährt. Aber ich war kürzlich bei...“
„...der ist ein Erbschleicher...“
„Sei du ruhig, du hast doch selber...“
„Herbert, trink nicht so viel.“
„Anders ist der Haufen hier ja nicht zu ertragen.“
„Also, das ist doch... Das musst du gerade sagen, wo du...“
„Ach, der Schnee. Ja, was wollte ich doch noch sagen..., da war doch in Russland einer neben mir, der hat doch...“
„Wo nur diese Brosche ist, Martha hat sie mir versprochen. Sie wollte doch ein Testament...“
„Ritalllein, Schwesterchen, soll ich dir helfen?“
„Schon gut, Herbert.“
Rita verteilte neue Tassen, frischen Kaffee, Zucker und Sahne, um sich schnellstens wieder in die Küche zu verziehen. Nein, auch keine Lösung, schon war ihre Mutter ihr auf den Fersen. Sie flüchtete ins Bad und verriegelte aufatmend die Tür. Im Spiegel schaute ihr eine blasse Frau mit geröteten Augen entgegen. Sie fuhr mit der Bürste durchs Haar, ließ sich auf den Wannenrand fallen und heulte ein paar Minuten vor sich hin. Diese Weihnachtsessen alljährlich waren eine Strafe, die sie nicht verdient hatte. Wochenlang davor und danach lagen sie ihr im Magen wie verdorbenes Essen. Wozu waren diese Treffen gut, wenn sich am Ende nur alle in die Haare kriegten. Und vor allem: warum musste sie dafür stundenlang am Herd stehen, zuvor Unmengen von Stollen und Plätzchen backen? Warum blieben die nicht alle zu Hause, ödeten sich an oder stritten und schmorten ihre verdammten Gänse selbst?
Durch die Tür drang weiter das Stimmengewirr, schwoll auf und ab. Rita stand auf. Nein, entschied sie bei sich: Es ist einfach zu viel. Diesmal mache ich das nicht mit, nicht bis zum Ende. Sie trat wieder an den Spiegel, zog ihre Lippen nach und schüttelte trotzig den Kopf. Für einen Augenblick fühlte sie etwas wie ein schlechtes Gewissen, Hannes allein dieser Schar zu überlassen, sagte sich dann aber, dass ihre Anwesenheit die Situation kaum verbessern konnte.
„Wo willst denn du hin?“
Tante Anita hatte Rita gerade erwischt, als sie in den Mantel schlüpfte.
„Raus“, meinte Rita kurz.
Die Schwiegermutter in all ihrer respektablen Leibesfülle erschien in der Zimmertür.
„Aber Rita, was soll das denn? Du kannst doch nicht... Wir trinken doch gerade Kaffee. Es ist doch so gemütlich...“
„Gemütlich? Na, wie du meinst. Mich braucht ihr dazu nicht. Ihr habt zu essen und zu trinken, von mir aus schlagt euch die Köpfe ein. Wünsch allen weiter ein schönes Weihnachtsfest. Ich gehe ins Kino, da sind die Leute wenigstens während der Vorstellung still.“
Ihr entgingen nun die vielstimmige Empörung, auch das Mitleid mit der „armen, überarbeiteten Frau“, und wie sich die Schillers und die Kortes ausnahmsweise mal einig waren, weil sie Ritas Abgang ungehörig fanden. Ihr entging auch, wie ihr Mann heroisch den Rest des Abends mit der schnatternden und stichelnden Verwandtschaft durchstand. Jedenfalls machten sie alle so weiter, aßen was die Küche hergab und leerten die Weinflaschen, um beim Abschied zu bemerken, wie schön, dass man mal wieder beisammen war.
Als Rita heimkam, waren Hannes und die Kinder dabei den Tisch abzuräumen. Hannes unterbrach ihren Versuch, eine Entschuldigung vorzubringen: „Lass gut sein, ich wäre am liebsten mitgekommen. Nur, ich musste ja Oma und Opa zurückfahren. Aber eines verspreche ich dir: nächstes Jahr bleiben wir Weihnachten unter uns, und wenn ich mir eine Cholera andichte um die Bande fernzuhalten.“
Rita lehnte den Kopf an seine Schulter. Sie wusste schon jetzt, weder er noch sie würden den Mut dazu haben. Aber bis dahin waren es ja noch 12 lange Monate.

Copyright © by Yvonne Habenicht
Deutschland, Berlin 2002

Auf den Heiligen Abend folgt für die Familie Korte alljährlich ein weniger erfreulicher Feiertag im nicht so trauten Familienkreis.Yvonne Habenicht, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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