Klaus Lutz

Arztbesuche 14 (zwei Texte)

Arztbesuch 48

Heute waren drei Wärter da. Ich mußte eine Zwangs-
jacke anziehen. Dann, eine halbe Stunde später kam
der Direktor. Mit Sekretär! Dem Chefarzt! Dem Psy-
chologen Und drei Leibwächtern. Er hat sich in eine
Ecke gestellt. Die am weitesten von mir entfernt
war. Dann hat der Psychologe einige Fakten von sich
gegeben. Mein psychologischer Zustand: "Kurz zusam-
men gefasst!" Es ist so. Gut, ich will es klar sag-
en. Ich gebe einfach das wieder was der Psychologe
gesagt hat. Für meine Umwelt bin ich nicht mehr
tragbar. Es ist wegen diesem Profil. Das mich als
allgemein gefährlich ausweist. Das sind 50% der Be-
völkerng sagt er. Die meisten Leute sind einfach
durchgeknallt. Aber die werden noch durch ein so-
ziales Netz aufgefangen, das sie vor dem schlimm-
sten bewahrt. Arbeit! Stammtisch! Ehestreit mit
Prügeleien. Die haben also noch das Leben, wo sie
das Ganze so ausleben können. Und das fehlt mir
ganz. Meine Situation ist mehr die eines Vulkans.
Ich zerstöre nicht endgültig, eine eh schon kaputte
Familie, wie das in den meisten Fällen ist. Bei mir
könnte es Unschuldige treffen. Irgend ein Großva-
ter, dem ich den Stock entwende. Um ihn dann zu ver-
prügeln. Seine Zigarren nehme. Und ihn dann einfach,
hilflos auf der Strasse liegen lasse. Oder irgend
eine Verkäufern, in einem Laden. Die ich einfach da
stehen lasse. Ohne zu zahlen. Nur wegen der Frisur,
die mir nicht gefällt. Oder einen Softeis Automa-
ten, den ich demoliere. Nur da meine Vorstellung von
Softeis und Qualität nicht indentisch ist mit der
des Automaten. Also kurz gesagt: "Ich bin allge-
mein gefährlich!" Wie 50% der Bevölkerung. Aber mir
fehlt die Familie, der Stammtisch, die Arbeit und
sonstige Kontakte, wo ich das auslassen kann. Da-
durch werde ich gefährlich. Das Andere, was mein,
oder das psychologische Profil von mir aufweist,
ist meine 150 kg Übergewicht. Die beschäftigen mich
so sehr, das mich nie etwas anderes mehr beschäfti-
gen wird. Und 150 Kilogramm Übergewicht, ist kein
Grund, sich so sehr damit zu beschäftigen, das al-
les sonst nicht mehr beschäftigt. Auch da bin ich
eine Ausnahme. All die Masse der Übergewichtigen
fetten schwabbeligen Menschen. Die gehen anders
mit ihrem Übergewicht und ihrem Leben um. Die Quä-
len sich nicht so damit: "Ist das jetzt das vierte
oder fünfte Schnitzel. Das siebte oder achte stück
Torte. Die dritte oder vierte Tüte Gebäck!" Die
nehmen das zu sich und geniessen das einfach. Und
zerstören ihr Denken nicht, wegen ein paar Kilos
mehr. Die Leben und sind Glücklich damit. Und es
ist ein Unterschied. Ob eine Fettsucht mit
Glück schwabbelt. Und irgendwan einfach mit ein-
em Herzinfarkt endet. Oder ob ein Leben schwab-
belt! Und sich mit dem Schwabbeln quält! Und sich

seelisch zerstört. Das andere sind die Aussagen
ehemmaliger Nachbarn, die mich belasten. Das ich
einigen Frauen den Ehemann ausspannen wollte.
Und da so gut bin, das einige Ehemänner schon
in mich verliebt waren. Und das 90% der Bewoh-
ner meines Hauses zu Alkohol und Drogen grei-
fen. Um meine Anwesenheit überhaupt zu ertra-
gen. Und die Nervenkrisen und Nervenzusammen-
brüche unter den Männern überdurchschnittlich
hoch seien. Was wohl daran liegt, das meine An-
wesenheit Phantasien auslöst, die keine Frau er-
füllen will. Das war der Psychologe. Dann kam
der Direktor. Freundlich! Gediegen! Elegant!
Aufrecht! Mit dem Adel höchster Bildung in der
Stimme. Und den Bewegungen, die das selbstbe-
wußtsein einiger geglückter Promotionen waren.
Und dem Timing, bei allen Aussagen. Mit dem jedes
Wort so ergriffen war, das es selbst noch ge-
sprochen unausgesprochen blieb. Und den Sätzen
die Krone gab. Mit denen alles Licht und Geist
und lebendig wurde. Und dann kam das schwei-
gen. Wenn sein Mund sich schloß. Und mit zwei
Schritten, war er wieder in der Ecke. In der er,
mit dem Thron seiner Macht einfach den Platz ein-
nahm. Und ein Lächeln, mit dem das Schweigen
sich in seiner Ehrfurcht erhob. Und was er sagte,
war einfach. Das ich nicht mehr entlassen werde.
Aus den schon erwähnten Gründen. Dann kam der
Alltag. Ein Wärter öffnete die Tür. Einer hatte
den Schlüsel. Und einer sicherte den Raum.
Dann waren sie verschwunden. Eine Stunde spä-
ter, wurde ich aus der Zwangsjacke befreit.
Und lag dann auf der Pritsche. Für Stunden und
Stunden! Und es war mir klar. Jetzt hatte ich
alle Zeit der Welt. Um mir über vieles klar zu
werden. Und vieles zu sagen. Denn eines war
diese Zelle auch. Der Schutz vor der Welt.

Der Arztbesuch 49

Es ist wie immer dieser Nachmittag. Die Stunden von
13:00 bis um 18:00 Uhr wo ich niemanden mehr sehe.
Ich liege dann einfach auf dieser Pritsche. Und was ge-
schieht und wie es geschieht in meinem Kopf. Ich neh-
me es einfach. Ich habe mich damit abgefunden. Es bleibt
Chaos. Ich nehme das, was da auf diesem ganzen Be-
wußtsein schwimmt. Und sehe es mir an. Und denke da-
rüber nach. Heute regnet es auch. Und das sehr stark.
Und ich höre jeden Tropfen. wie er gegen das Fenster
klatscht. So als wolle er die Scheiben einschlagen.
Und in diesen Raum treten. Warum auch immer. Kann
sein er will das Fragen. Das was mich die ganze Welt
fragen will. Das was mich das ganze Leben fragen
will. Jeder Regentropfen will Wahrheit. Er will alles
wissen. Er klopft an dieses Fenster. Als wäre es in
diesem Raum. Diese Zelle. Wo er überlebt. Wo er
das erfährt. All das Wissen. All das große und klei-
ne. Das was nichtig ist. Das was wichtig ist. Die-
ses ganze unfassbare Universum. Jeder Regentropfen
droht die Scheibe einzuschlagen. Jeder Regentrop-
fen will irgend etwas finden. Will irgend einen
Sinn. Irgend eine Wahrheit. Etwas das ihm eine Be-
deutung gibt. Jeder Regentropfen schlägt an die-
ses Fenster. Als wäre dieser Raum die Welt. Das
Univerum. Alles Wissen. All die Worte, Worte und
Worte. So endlos. Und ohne dieses eine Wort nur
Sinnlos. Ohne dieses eine Wort, das am Ende allen
Denkens steht. Ohne dieses Wort: "Liebe!" Jeder
Regentropfen droht diese Scheibe einzuschlagen.
So als vermute er hier das Ende allen denkens. So
als vermute er hier die Liebe. Als wäre diese
Zelle, das Universum, wo er all das findet. Und
ich sehe mir das alles an. Was gerade so da
schwimmt, auf diesem Bewußtsein! Und sehe dieses
Leben neben mir. Und doch so weit entfernt. So
unauffindbar. In diesem ganzen nichts das alles
ist. Und alles ist. Mit dem Wissen, mit
dem Glauben, es ist da. Es ist das Leben. Es ist
dieses Universum, wenn du sie findest. Wenn du sie
nimmst. Wenn Du sie willst, die Liebe. Und ich hö-
re jeden einzelnen Regentropfen wie er gegen das
Fenster schlägt. So als wolle er in dieses Zimmer.
So als finde er hier das Leben. So als wäre das
hier die Rettung. Das Universum. Die Liebe. Sein
ewiges Leben. Und ich beobachte wie die Tropfen
am Fenster herunter laufen und langsam gehen. Und
langsam Sterben. Ich beobachte Millionenfach den
Versuch zu leben. Und wie dieses Leben einfach so
stirbt. So liege ich Stunden und Stunden auf die-
ser Pritsche. Eingeschlossen in diesem Kerker. Und
lasse ein Universum nach dem anderen Leben. Und las-
se ein Universum nach dem anderen Sterben. Und den-
ke mir, das ist das Leben. Das ist es, was bleibt.
Ganz am Ende. Dann ist es das was bleibt. War al-
les Lüge. War alles Wahrheit. Und die Antwort kann
schlimmer sein als dieser Kerker. Und die Antwort
kann das Paradies sein. Sie ist die Tür mit der
ich diesen Kerker verlasse. Die Antwort, wird das
Paradies sein. Nach all den Lügen und Dummheiten
hier wird es die Wahrheit sein. Es wird das Paradies
sein!

Aber dann will ich es auch mehr und mehr wissen.
Wenn ich hier liege. All die Stunden. Und Tage.
Wo ist dieser Anfang. Wo beginnt mein Leben. Es
würde mich interessieren. Aber es ist auch das
Wissen. Wie weit muß ich zurück gehen. Ich muß
so weit zurück gehen. Und was bleibt dann von
meinem Leben. Von diesem Hier und Heute. Es bleibt
nichts. Es wird mich restlos Vernichten. Aber es
wird die Wahrheit sein. Deswegen gehe ich zurück.
Weit und weiter und weiter. Es wird nichts von
mir bleiben, den nur ich werde es verstehen und
wissen was war.

Ich bin in einem Dorf. Ich renne über die Strassen.
Ich komme von irgendwo her. Ich bin zwischen drei
und vier Jahre alt. Und die Familie von mir ist Arm.
Ich finde immer Leute, wo ich was zu Essen kriege.
Meine Familie lebt in drei kleinen Zimmern. Über so
einem Schuppen. Es sind sieben Kinder. Und die Wohn-
ung ist über eine Eisentreppe an einer Mauer zu er-
reichen. Die Wohnungstür führt direkt in die Küche.
Und von der Küche führt eine Tür in ein Wohn und
Schlafzimmer. Alles hat nur das Nötigste. eine Eck-
bank. Ein Tisch. Ein Herd. Eine Couch. Ein Sofa und
ein Bett. Die neueste Anschaffung ist ein Radio mit
Plattenspieler. Das Lieblingslied des Vaters ist et-
was von Harry Belafonte. Er liegt auf dem Bett. Die
Mutter ist in der Küche. Sie ist den ganzen Tag mit
Waschen und Kochen beschäftigt. Hin und wieder hilft
sie bei einem Bauern. Die erwachseneren Kinder sind
meistsns weg. Bei Freunden. Wie es auch hin und wie-
der etwas zu Essen gibt. Sie gehen zur Schule. Sind
dann weg. Und kommen gegen Abend nach Hause. Also
Mittags kommen sie von der Schule. Legen ihren Ranzen
irgendwo hin und verschwinden. Und gehen irgendwo
hin zu Freunden. Ich bin der vierte von den sieben.
Die Mutter sieht immer verzweifelt aus. Der Vater
hat so den Kontakt zum Leben verloren, oder nie ge-
funden. Er ist 36. Er ist Flüchtling aus dem Osten.
Er hat sieben Kinder. Aber er ist irgendwie zerstört.
Er spielt nur mit den Kindern. Er kann gut mit ihn-
en umgehen. Aber der Rest ist Chaos. Krank und
Arbeitslos. Was ich noch vergessen habe, das dritte
Zimmer ist nur über einen Balustrade zu erreichen.
Einen Aussengang. Der von der Küchentür am Wohn-
zimmer vorbei führt. Der also an der Vorderseite
des Schuppens angebracht ist. Ein einfaches Gelän-
der. Der Gang führt direkt zu dem dritten Zimmer.
Dort stehen etwas zwei gröserer Betten. sonst nichts.
Dort schlafen die sechs Jungs. Die eine Schwestrer
schläft im wohnzimmer bei den Eltern. Das Zimmer ist
ohne Ofen oder Heizung. Im Winter ist es wahnsinnig
kalt. Und im Sommer wahnsinnig heiß. Im Winter hel-
fen heiße Backsteine als Wärmflaschen. Und im Sommer
gibt es hin und wieder Wasser. Also die Mutter bringt
manchmal nachts Wasser zum Trinken. Das Zimmer hat
ein Fenster.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.08.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Wie herbstlich wird die Dämmerung,
wie gläsern ihrer Lüfte Kühle,
die Schatten liegen auf dem ›Grün‹
und rufen leis’ »Auf Wiederseh’n!«

Der Sommer sagt: »Adieu, macht’s gut,
ich komme wieder nächstes Jahr!«
Entflammt noch einmal mit aller Macht
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