Nina Lochmann

Rote Lava

 

Es sollte unsere erste Begegnung sein. Er hatte mir geschrieben, das war nun schon über eine Woche her. Eigentlich war es nichts ungewöhnliches, einen Brief von ihm in meinem Briefkasten zu finden. Doch dieser hatte mein Herz zum rasen gebracht. "ich komme nächsten Samstag" stand darin. Die Selbstverständlichkeit, mit welcher er seinen Besuch ankündigte, gefiel mir.

 

Die ganze Woche war ich nervös gewesen. Mehr als einmal hatte ich mit dem Gedanken gespielt, die Türe nicht zu öffnen. Einfach aus dem Fenster zu sehen, versteckt hinter dem dicken roten Vorhang, und auf den Moment zu warten, in dem er den Hof überqueren und an meiner Tür klingeln würde. Und ihm hinterher zu schreiben, sein Brief hätte mich nicht rechtzeitig erreicht. So war es beim letzten Mal gewesen. Vor zwei Monaten. Ich war gerade von einem Besuch bei meinen Großeltern zurückgekehrt, als ich damals seinen Brief im Briefkasten fand. "Ich komme nächsten Samstag" hatte darin gestanden. Es war Sonntag. Ich erinnere mich an den Schauer, der mir, noch am Briefkasten stehend, über den Rücken lief. Ich erinnere mich, wie ich über den Hof und über die Felder gesehen hatte, als könne ich ihn irgendwo erblicken. Und an mein aufrichtiges Bedauern, das ich im nächsten Brief äußerte. Nein, diesmal würde ich da sein. Diesmal würde ich die Tür öffnen und endlich in das unbekannte Gesicht zu diesem vertrauten Menschen blicken.

 

Wir kannten uns bereits seit zwei Jahren. Wir kannten uns und waren uns doch fremd. Die Annonce hatte ich damals nur zufällig entdeckt, als ich auf den Bus warten musste. Sie klang so traurig und schien gleichzeitig vor Selbstmitleid überzuquellen, was mich wütend werden ließ. Wütend auf den Verfasser und wie es ihm einfallen konnte, mich traurig zu stimmen mit seinem Selbstmitleid, hatte ich ihm einen Brief geschrieben. Ich hatte ihn gefragt, wieso er sein Selbstmitleid nicht für sich behalten und unschuldige Leser damit in Frieden lassen könne. Ich hatte ihm geschrieben, dass ich wütend auf ihn sei. Mit einer Antwort hatte ich nicht gerechnet. Nicht einmal eine Woche später erreichte mich sein erster Brief.

 

Seither ist viel Zeit vergangen. Es war nie ein Thema gewesen, dass wir uns treffen. Auch Fotos hatten wir uns nie geschickt. Nur Briefe. Mindestens einen in der Woche. Seit zwei Jahren. Unsere Freundschaft war von Anfang an sehr leidenschaftlich. Wir stritten uns häufig in unseren Briefen. Obwohl ich bis dahin nicht gewusst hatte, dass so etwas geht. Aber es ging. Wir schrien uns oft schriftlich an und entschuldigten uns danach. Er war sauer, wenn ich ihm betrunken schrieb und mich gehen ließ. Ich wurde wütend und verzweifelt, wenn er mir ausführliche Berichte seiner Selbstmordversuche darlegte oder wenn er ein Gedicht in Blut schrieb. Oft wurde ich vor ihm gewarnt. Meine Mutter sah es nicht gern, wenn ich ihm schrieb. Sie mochte die Tränen nicht, die ich um einen Fremden vergoss. Manchmal spielte ich mit dem Gedanken, ihm nicht mehr zu schreiben. Es schien uns nicht gut zu tun. Und doch merkten wir beide sehr bald, dass wir nicht mehr ohne den anderen konnten. Er war mein bester Freund.

 

Je später es wurde an diesem Samstagnachmittag, desto mehr stieg meine Nervosität. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, wenn ich vorsichtig den roten Vorhang zur Seite schob, um einen kurzen Blick auf den leeren Hof zu werfen. Ich ging in meinem Zimmer umher, ruhelos und zitternd. Alles war schon lang fertig. Ich hatte Tee gekocht, der in der Kanne auf dem Stövchen darauf wartete, getrunken zu werden. Die sanften Klänge von Pink Floyd erfüllten den Raum und es roch angenehm nach Nag Champa. Die Kerzen hatte ich in der Zwischenzeit wieder ausgemacht, weil es viel zu warm wurde im Raum. Nur die Lavalampe verbreitete ein angenehmes Licht, durch welches ich das ausgesperrte Tageslicht ersetzte. Ich lauschte gerade den sanft vor sich hinplätschernden Klängen von Echos, als es an der Tür klingelte. Mein Herz hörte für einen Moment zu schlagen auf.

 

Als ich an der Wohnungstür stand, wartend, bis er den Weg in den ersten Stock finden würde, wurde mir erstmals seit langem bewusst, dass ich ihn noch nie gesehen hatte. Für den kurzen Moment des Wartens, der mir vorkam wie eine Ewigkeit, dachte ich darüber nach. Dann stand er vor mir. Schüchtern begrüßten wir uns und ich bat ihn herein. Mein Freund hatte nun ein Gesicht und ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Ich bot ihm vom Tee an und goß mir selbst auch eine Tasse ein. Wir saßen auf der alten Matratze, die mir, ausgestattet mit vielen bunten Kissen, als Sofa diente. Leise Musik erfüllte den rauchgeschwängerten Raum. Mein Freund blickte sich um und hin und wieder sagte er etwas. So leise jedoch, dass ich ihn kaum hörte. Meistens saßen wir schweigend, die rote Lava in der Lampe betrachtend. In sanften, roten Wellen floss die Lava zur Musik, wie es uns schien. Stunden vergingen, in denen wir dieses wunderschöne Schauspiel gemeinsam betrachteten. Stunden, in denen wir schwiegen, ohne dass eine unangenehme Stille entstand. Wir saßen und staunten, und es war, als würden wir uns schon immer kennen.

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Wenn erst ein laues Lüftchen weht,
das sich naturgemäß dann dreht
und schnelle ganz geschwind,
aus diesem Lüftchen wird ein Wind,
der schließlich dann zum Sturme wird,
und gefahren in sich birgt-
Dann steht der Mensch als Kreatur,
vor den Gewalten der Natur.
Der Mensch wird vielleicht etwas klüger,
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