Nina Lochmann

Der Spiegel

 

 

Tief im dunklen Wald auf einer Lichtung, verborgen vor den Augen der Menschen, lebte einmal ein Feenvolk in Frieden und Glückseligkeit. Den lieben langen Tag gingen die Feen Dingen nach, welche sie erfreuten. Sie sangen, pflückten die schönsten Sträuße bunter Frühlingsblumen und erfreuten sich an deren Duft. Natürlich gab es auch Arbeit zu erledigen, doch diese erledigten sie stets mit Freude und einem Lächeln auf den Lippen. Das Leben auf der sonnigen Lichtung hätte so schön sein können, wäre da nicht der böse Zauberer Horak gewesen, dem das Feenvolk schon lang ein Dorn im Auge war, und der aus eben diesem Grund seine Zeit damit verbrachte, ein wirksames Mittel zu finden, die Freude für immer aus den Gesichtern der immer glücklichen Wesen zu verbannen. Stunde um Stunde braute er neue Zaubertränke, entwickelte Fallen, jedoch scheiterten all seine Pläne an der Gewieftheit der schlauen Geschöpfe.

 

Außerhalb des Feenwaldes war die Welt wenig paradiesisch. Es gab Kriege und Hungersnöte, Krankheit und Tod. Die Menschen kannten harte Arbeit und hatten oftmals wenig Freude an ihr. Viele lebten in Armut und Hoffnungslosigkeit. Die Feen aber wussten davon nichts. Sie lebten seit jeher auf der Lichtung im Wald, keine von ihnen hatte jemals den Wald verlassen. Es wurde sogar gemunkelt, außerhalb der Baumgrenze sei die Welt zu Ende.

 

Als Horak eines Nachts wieder einmal über seinen Zauberformeln saß und grübelte, überkam ihn eine Idee. Sofort begannen seine eisigen Augen, gefährlich zu funkeln, den großen Mund umspielte ein böses Lächeln. "Dieses Unschulds- Volk weiß nichts von der Welt außerhalb ihres Waldes. Wie die armen Geschöpfe wohl staunen werden, was es in der Welt noch alles zu erblicken gibt. Das Leid und der Schmerz der Lebewesen, derer sie sich nicht einmal bewusst sind. Oh ja, ein Blick auf diese Welt, und ihnen wird ihr scheußliches Lachen bald vergehen." Horak erfreute sich an seinem bösartigen Plan und begab sich sogleich daran, diesen in die Tat umzusetzen. So machte er sich daran, einen Spiegel zu bauen, der dem Feenvolk die Welt außerhalb ihres Waldes offenbaren und die Freude aus ihren Gemütern entweichen lassen solle. Den Spiegel brachte er des Nachts auf die Lichtung, als alle Feen in ihren warmen, weichen Betten schliefen.

 

Am anderen Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen auf die Lichtung fielen, erwachten die Feen. Den Schlaf sich aus den Augen reibend freuten sie sich allesamt über den neuen, sonnigen Tag. Die ersten unter ihnen verließen ihre Hütten und bald folgten auch die Letzten, gelockt vom neugierigen und ungläubigen Geflüster auf der Lichtung. Sie trauten ihren Augen nicht, stand doch mitten auf ihrer schönen Lichtung eine Scheibe von beträchtlicher Größe, in der das Sonnenlicht glitzerte. Gingen sie nahe heran, konnten sich die Feen selbst im Inneren der Scheibe betrachten. Unwissend, was das für eine seltsame und zauberhafte Erscheinung sei, standen sie dicht an dicht, als die Scheibe auf einmal wunderschön, in allen Farben des Regenbogens, zu leuchten begann. Für einige Momente erstrahlte der Spiegel in wundersamem Glanze, dann verschwand das Glitzern, und Bilder wurden sichtbar. Die Feen sahen ihren Wald, dann den Waldrand, und als ihre Blicke diesen zu überschreiten schienen, fuhren einem jeden eisige Schauer über den Rücken. Dann stürzten die Bilder erbarmungslos über sie ein. Sie sahen schwer arbeitende Bauern, deren Blicke leer sich auf den Acker richteten. Abgemagerte Bettler sammelten sich in Scharen an den Eingangstüren alter Kirchen und hielten ihre Hände jenen entgegen, die, den kalten Blick gerade aus gerichtet, an ihnen vorbei hetzten. Weinende Kinder saßen im Dreck, kauten an verschimmelten Brotrinden oder ließen suchend die Blicke schweifen, nach einem Menschen, der sich ihrer annehmen würde. Am meisten brannten sich die Blicke der Menschen in ihre Köpfe ein. Die hoffnungslosen und traurigen Blicke. Und die hartherzige Antwort weiterer Blicke, das Grauen, das Morden. Alsbald waren die Bilder von der großen, runden Scheibe verschwunden, und die Feen sahen sich wieder ihren Angesichtern gegenüber. Doch etwas hatte sich verändert. Ihr Lächeln war erloschen. Nun, da sie um die Welt außerhalb ihrer scheinbar paradiesischen Lichtung wussten, veränderte sich der Feenwald. Die immerwährende Freude gab es nun nicht mehr. Sie lernten Neid, Zorn und Missgunst kennen und befanden sich alsbald ständig wachsam auf der Hut voreinander. Eines gab es, was sie nie wieder vergaßen: Die Augen der Menschen, die ihnen aus dem Spiegel entgegen geblickt hatten.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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