Klaus Lutz

Der Arztbesuch 30

Ich habe endgültig aufgegeben. Ich hätte nicht gedacht,
das mein Ende so aussieht. Das ich es bin. Der einfach
aufgibt. Das ich es bin der zufrieden ist, wenn er ein-
fach nur da liegt. Ohne einen Gedanken. Literweise nur
Tee trinkt. Und nichts mehr will. Ich hätte nie gedacht,
das ich es bin, dem dieses Leben einmal völlig gleich-
gültig sein wird. Der nur noch an Schokolade, Torte,
Pralinen und Frauen denkt. Und an sonst nichts. All das
hätte ich nie gedacht. Das dieses Leben so enden würde!
In Resignation! In Aufgabe! Im Ende von allem was es ist.
Dieses Leben. Im Ende von allem was ein Mensch denken
kann. Was seine Phantasie ihm zeigt. Und was ihm sagt:
"Das will ich!" Ich hätte nie gedacht, das ich es bin
der es ist. Der eines Tages nur noch da ist. Alles auf
sich zukommen läßt. An sich vorbei gehen läßt. An sich
abgleiten läßt. Und das dann Leben nennt. Oder für
den, das dann das Leben sein kann. Ich hätte nie gedacht.
Das ich einmal damit zufrieden bin, mit dem was ich bin.
Das ich den Kampf einfach einmal aufgebe. Und mir ein-
fach sage: "250 Kilo was solls?" Nur noch Fressen. Das
ist dann das Leben. Nur noch Kacken, das ist dann das
Leben. Nur noch Leben, das ist dann das Leben! Und was
solls? Ich hätte das nicht gedacht. All das hätte ich
nie gedacht. Das nur noch das eine bleibt. In all den
Gedanken! In all dem was ich bin! In all dem was ich
will! Fressen und Weiber. Aber ich liege hier. Und al-
les in mir ist so. Es hat etwas endgültiges. Es hat nur
noch Massen. Nur noch Masse an Körper. Massen an Denken.
Massen an Phantasie. Aber so wie die Masse an Körper
ohne Körper ist. So wie die Massen an Denken ohne Den-
ken ist. So wie die Masse an Phantasie ohne Phanstasie
ist. So ist das was ich bin, nicht mehr das was ich bin.
So ist der Mensch der ich noch bin. Kein Mensch mehr.
Aber dann denke ich mir. In dieser untergehenden Sonne.
Im Abendlicht. In dem Rest des Tages. Dem Rest von Licht.
Nimm ihn für einen letzten Versuch. Nimm Ihn! Gehe ein
fach da weiter, wo dein Leben noch Kraft war. Gehe ein-
fach da weiter, wo dein Leben noch Herrlichkeit war.
Aber gehe anders weiter. Und ich sehe mich neu. Und
sehe mich anders. Ich gehe weiter. So als wäre ich
vor langer Zeit einen anderen Weg gegangen.

Ich bin neu in Mainz. Ich bin Allein. In Wahrheit bin
ich vom Leben weit entfernt. So sehr ich auch versuche
zu leben. Die Nervenklinik liegt vier Wochen hinter
mir. Und ich weiß immer noch nicht weiter. So wie ich
bei Nacht und Nebel etwas neues begonnen habe. So ste-
he ich noch da. Ich kenne Mainz nicht. Ich gehe eine
kleine Strasse hoch. Und einfach in eine Kneipe. Sie
ist schlauchförmig. Rechts und Links sind bepolsterte
Sitzbänke. Die Decke hängt mit Gold bemalten Flaschen
voll. Ein paar Typen sitzen an der Theke. Die Musik ist
laut. Ich setze mich hin und trinke etwas. Die Bedien-
ung unterhält sich mit Gästen. Die Beleuchtung und die
Ausstattung haben etwas Ansprechendes. Es hat etwas ge-
mütliches. So eine Wohnzimmeratmosphäre. Ich gehe dann
weiter. Ich kann Stunden so spazieren gehen. Das fin-
den, was ich finden kann. Und wenn ich so Stunden spa-
zieren gehe. Dann finde ich etwas mehr von mir. Oder es
wird mir etwas klarer. Es wird mir etwas bewußter. Et-
was wird mehr. Wenn ich nur spazieren gehe. Und das
was mehr wird gibt mir Leben. Gibt mir Hoffnung. Des-
wegen sind  es immer wieder diese Spaziergänge. Für
Stunden und Stunden. Mit denen ich nicht nur mehr lebe.
Mit denen ich am Ende auch überlebe. Es ist dieses
ohne alles auf der Welt. Das ist die Gratwander-
ung. Es ist das Spazieren gehen, das ohne dieses alles
trotzdem das Leben ist. Das ohne dieses alles trotz-
dem das Leben zeigt. Und ich brauche etwas, das mir
das Leben zeigt. Wenn es sein muß, wird dabei das ganze
Leben zu einem Spaziergang.

Ich gehe zurück in dieses Kolpinghaus. Am Wochenende
bin ich allein auf dem Zimmer. Der Junge, der in die-
sem Fischgeschäft und Fischlokal arbeitet ist aus der
Eifel. Und am Wochenende fährt er dort hin. Ich liege
dann in diesesm Bett. Und denke über etwas nach. Und
bin einfach nur da. Es hat trotz allem eine neue Frei-
heit. Es ist still. Es ist Frieden. So einfach der
Raum auch ist. Oder mit all dem was der Raum nicht hat.
Und er hat überhaupt nichts. So sehr füllt ihn doch
all das aus was ich empfinde. Und wie ich die Freiheit
sehe. Ich stehe auf wann ich will. Gehe vor die Tür
wann ich will. Hole mir ein paar Pommes Frittes. Bum-
mele durch Geschäfte. Bummele durch Kaufhäuser. Und
mit all dem Bummeln.  Und mit all der Freiheit und den
Pommes Frittes, weiß ich es. Es beginnt etwas Neues.
So allein ich auch bin. Aber das Neue ist es. Das mich
alles allein sein vergessen läßt. Das mich alles ver-
gessen läßt. Das Neue beginnt mit mir etwas Neues. Mit
all dem, was das Leben für mich ist. Es beginnt lang-
sam. Aber es beginnt. Es beginnt etwas Neues. Und mit
dem Neuen beginnt all das was nie war. Der Alptraum.
Diese Familie, die meine Pflegefamilie war. Die so zer-
stört und am Ende war. Von Krieg, Arbeit und Überleben.
Wo es nie das Neue gab. Wo nichts zu etwas Neuem ge-
führt hat. Und immer das Vergangene das Leben bestimmt
hat. Ohne einen Neuanfang. Der das Leben richtig zeigt.
Das was war! Das was ist! Das was kommen kann! Für mich
hatte ich den Neuanfang gefunden. Das was mir das Leben
neu gezeigt hat. Diese endlosen Spaziergänge durch
die Stadt.

Das Kolpinghaus war schon interessant. Damals gab es
dort die abenteuerlichsten Typen. Heute weiß ich, die
Jungs waren alle irgendwie auf Drogen. Keine Ahnung
von was die lebten. Aber sie hingen immer am Eingangs-
tor rum. Sahen ziemlich am Ende und geschafft aus.
Und es gab eigentlich nie Kontakt mit Ihnen. Es gab
einen Fernsehraum, wo ich Sie dann noch sah. Aber ich
kam nie mit einem ins Gespräch. Das Kolpinghaus hatte
den einen großen Vorteil. Es lag mitten in der Stadt.
Mitten im Leben. Zwei Minuten vom Kaufhof entfernt.
Alles war nah. Zum Rhein war es nah. Zum Rheincafe war
es nah. Es gab dort wunderbare Lokale und Cafes.
Es gab das Leben. Und das überall. Und überall war die-
ses Leben nah. Atemberaubend und Faszinierend. Gerade
für Jemand, der von einem Dorf, kam war es das. Und das
war alles was es geben konnte. Vielleicht war es auch
deswegen. Das all das was war, alles so schnell ver-
gessen und nichtig war. Ohne Bedeutung. Es gibt dieses
Leben. Alles was möglich zu sein scheint, das ist mög-
lich. Und es scheint so vieles möglich. Und das viele
war auch möglich.

Mainz hat diesen riesigen Dom. Und dieser Dom hat ein-
en Vorteil. Er hat sehr viel Ruhe. In seinem Innenhof
liegen die Kardinäle begraben. Aber die Atmosphäre, so
alles in allem, war etwas Besonderes. Es gab Tage, da
konnte ich da Stundenlang sitzen. Natürlich auch mit
dem Wissen, das am Ausgang gleich das Domcafe war. In
dem konnte ich dann auch Stundenlang sitzen. Das hatte
auch etwas Besonderes. Freundliche  Bedienungen und
wahnsinning guten Kuchen. Und nettes Publikum. Und von
da, war es ein paar Meter bis zu den großen Kaufhäusern.
Und bis zum Rhein oder zum Fastnachtsbrunnen. Mit all
den Geschäften um Ihn her. Und das gefiel mir. Vor al-
lem Freitag Abend und Samstag war es. Das Leben mit all
dem was es ist. Was dazu gehört. Und einfach nur gefal-
len kann. Und das hat mir gefallen: "Eiscafes! Normale
Cafes! Restaurants!" Bummeln und überall das pralle
Leben. All das was schönheit ist. Und was die Schön-
heit des Lebens sein kann. Und ich denke, ich hatte noch
einen riesen Vorteil. Ich war zum Einzelgänger gewor-
den. Ich hatte zwar öfters riesen Zusammenbrüche. Wo mir
das einfachste nicht mehr möglich war. Aber das stimmt
nicht. Meinen Namen konnte ich immer Buschstabieren. Aber
ich bin nie untergegangen. Ich war nur ein einziges mal
in einem Bordell. In Mainz! Und das auch am Anfang. So
dem Wahnsinn nahe. Oder auch mehr aus Abenteuerlust.
Oder dem Wahnsinn nahe und aus Abenteuerlust. Irgendwie
so! Aber sonst habe ich nichts vermißt.

Es war wahrscheinlich das. Ich habe die Poesie des al-
lein seins entdeckt. Für mich gefunden. Ich hatte Cafes
und Bedienungen, die hin und wieder mit mir Lächelten.
Ich ging durch die Strassen und es gab Menschen die
mit mir Lächelten. Und hin und wieder hatte ich ein
freundliches nettes Gespräch, mit einem Fremden. Und
das war es. Der Rest war meine Phantasie. Ich habe aus
Träumen meine Gedanken werden lassen. So lange bis mein
Leben ein Traum war. Und das war Wunderschön. Jahre die
ich nur mit mir zusammen war. Und nicht das es lang-
weilig geworden wäre. Ich konnte einfach nicht genug
von mir kriegen. 

Und heute weiß ich was der Fehler von mir war. Heute
weiß ich was letzten endes zu diesen 250 kilo Überge-
wicht geführt hat. Ich wollte mehr und mehr von mir.
Und ich dachte, ich kriege mehr und mehr von mir. Wenn
ich mehr und mehr in mich hinein stopfe. Und so bin ich
mehr und mehr geworden. Und das was ich mehr war, ist
in mir kleiner geworden. So begann dieses mehr und
mehr in mich reinstopfen. So mit dem Denken, wenn das
mehr in mir verschwindet oder kleiner wird. Dann habe
ich das Andere mehr. Mehr Körper! Mehr Gewicht. Und
wenn in mir alles Tod ist. Dann gebe ich dem Körper
mehr Leben. Ohne zu wissen, das dieses mehr Leben nur
mehr Fett ist. Und auch Tod ist. Wenn alles in mir nur
Tod ist. So ist der Körper zu dem geworden was er ist.
Eine Tode Masse. Ohne alles was Leben ist. Oder das
Leben ist. Ich armes fettes Schwein. Denn das bin ich
heute nur noch! Ein armes fettes Schwein. Und wenn die
Kinder manchmal sagten: "Guck mal die fette Sau! Dann
haben sie recht. Heute bin ich nichts anderes mehr.
Heute bin ich nur noch, eine fette Sau! Eine fette Sau!
Eine fette Sau! Sau! Sau! Sau!

Aber ich denke schon. Deswegen verdiene ich es nicht.
Diese Hochsicherheitsverwahrung. Nur weil ich eine
schwere Syphilis hatte. Nur weil der Körper von mir mit
Würmern veseucht war. Und wegen dieser Herpes Infek-
tion. Und einem chronischen Tripper. Udn ein paar Ek-
zemen. Geschwulsten! Eiterbeulen. Und 120 Fettwülsten.
Und 250 kilogramm Gewicht. Und vermeintlichem Schwach-
sinn. Selbst jetzt, mit dem Rest an Geist, der mir ge-
blieben ist. Sehe ich mir die Welt an. Was ist Wahn-
sinn? Ist es nicht der Mensch überhaupt? Allein was
so alles geschieht. Und wen das noch angeht. Was so
überhaupt geschieht. Auf der Welt. In diesem Land. Je-
der weiß, das der Verzehr von Fleisch nur Gift ist für
die Umwelt. Aber wen stört das? Jeder weiß das Auto
fahren und die Produktion von Autos nur Gift ist
für die Umwelt. Aber wenn stört das? Jeder weiß, das es
keinen Hunger auf de Welt geben müßte. Und das nie-
mand verhungern müßte. Aber wen stört das? Jeder weiß,
das der vernünftige Umgang mit dem Körper, soviel mehr
Lebensqualität mit sich bringt. Aber wen stört das?
Jeder weiß, was gut und was schlecht ist für das Leben.
Und jeder weiß wie leicht es ist dem Leben der Welt
gutes zu tun. Aber wen stört das? Im Vergleich zu dem
bin ich wegen Kinkerlitzchen in diesem Gefängnis. In
dieser Sicherheitsverwahrung. Genauso ist es!

                                 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.09.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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