DAS MONSTER
Irma saß wie gelähmt im Wohnzimmer
und sah aus dem großen Fenster hinaus nach draußen. Dem Himmel sei Dank war ihr
Vater nicht da, er machte gerade eine Kur, und sie musste ihm nicht erklären,
warum sie hier war. Aber irgendwann später dann doch... Was würde er wohl
sagen?
Der Anblick der Landschaft war ihr
vertraut, schließlich war sie hier aufgewachsen. Sie liebte das Haus und den
riesigen Garten, doch sie empfand nicht mehr das gleiche wie früher, etwas war
in ihr kaputtgegangen, nein Quatsch, so leicht war sie nicht kaputt zu kriegen,
da mussten schon schlimmere Dinge passieren. Ein untreuer Mann hatte doch gar nichts
zu bedeuten, die gab es doch wie Sand am Meer, und diesen einen, diesen
besonderen würde sie so schnell wie möglich vergessen, der war es doch gar
nicht wert, dass sie sich deswegen grämte. Dennoch, Mist, Mist, Mist, sie
verbarg das Gesicht in ihren Händen.
„Was ist denn los, mein Schatz?“
Ihre Mutter war hereingekommen und umarmte sie.
„Ach nichts! Ich glaube, ich habe
Kopfschmerzen...“ Irma nahm schnell die Hände von ihrem Gesicht und gab sich
den Anschein, als wäre alles normal. Und wieso hing sie eigentlich hier herum?
Es gab doch bestimmt irgendetwas zu tun, vielleicht im Garten? Es war noch
nicht richtig kalt, jedenfalls fror es nicht. Klar doch, kurz vor Weihnachten
fror es nie, und da schneite es auch nie.
Weihnachten... Als sie mit Chris
hier war, da hatte sie darüber nachgedacht, wie sie wohl Weihnachten verbringen
würden. Wieder stöhnte sie auf.
Martina schaute sie forschend an,
sie verstand sehr wohl, was in Irma vorging, ließ es sich aber nicht anmerken.
Denn Irma hätte sofort alles abgestritten, was irgendwelche miesen Gefühle
betraf. Sie war ja so stark, das behauptete sie immer wieder, und sie würde
damit fertig werden. Martina hatte natürlich vor, ihre Tochter zu unterstützen
und ihr in jeder Weise zu helfen. Sie fühlte eine ziemliche Wut auf den Kerl,
der Irma erst geschwängert, dann sitzen gelassen – und schließlich auch noch
betrogen hatte. Seltsam, ihr Gefühl hatte sie getäuscht. Sie hatte ihn am
Anfang sehr gemocht, diesen Mann, sie ahnte unter seinem arroganten Wesen die
Tiefe seiner Gefühle, und diese Gefühle waren bedingungslos auf Irma gerichtet.
Konnte sie sich so getäuscht haben? Sie schüttelte ratlos den Kopf. Was war
wirklich wahr – und vor allem, was sollte sie tun, um Irma von ihrem Kummer
abzulenken?
„Wie wäre es, wenn wir einen
Kuchen backen?“ Ihre Mutter gab einfach nicht auf. Sie sah besorgt aus, klar
doch, eine schwangere Tochter ohne Mann, das brachte viel Kummer, und dennoch
unterstützte sie Irma, hatte ihr angeboten, wieder hier einzuziehen –
wenigstens für ein Jahr – und das Kind gemeinsam groß zu ziehen. Ein schönes
Angebot, sie sollte es annehmen. Das Kind war nun das Wichtigste in ihrem
Leben, und es musste die besten Bedingungen haben. In der Großstadt wäre sie
alleine, in ihrem Bekanntenkreis gab es kaum Babys, das war hier im Dorf
anders.... Ja, sie dachte darüber nach, und der Gedanke gefiel ihr. Und vor
allem wäre sie dann weit weit weg von Chris und könnte ihm nicht zufällig über
den Weg laufen, wenn er mit dieser Frau unterwegs war und mit ihrem Sohn. Oh Gott,
sie rannte weg! Wollte sich vor ihm verstecken. Soweit war es gekommen!
Chris! Es tat weh, es tat so
weh... Doch sie wollte nicht mehr an ihn denken, sie musste sich ablenken,
musste sich beschäftigen. „Nein, ich mag keinen Kuchen backen. Aber vielleicht
ist ja was im Garten zu tun. Dieser eklige alte Efeu, der sieht ja grauenhaft
aus! Vielleicht könnte ich ihn ein wenig ausmisten...“
Martina dachte nach, es war zwar
eine ungewöhnliche Zeit, um im Garten zu arbeiten, aber die Idee gefiel ihr,
und es würde Irma ablenken. „Hmmm“, sagte sie nachdenklich. „Du hast Recht!
Dieser Efeu untergräbt den ganzen Garten, und er sieht einfach scheußlich aus,
unten hat er nur noch dicke Wurzeln, und oben wächst nicht mehr viel. Na gut,
wenn du willst...“
Aber Irma hörte sie gar nicht
mehr, denn sie war schon aufgesprungen. Sie griff sich eine warme Jacke und
eilte nach draußen. In der Garage fand sie eine große Auswahl an Werkzeugen.
Sie schnappte sich eine dicke Astschere, eine kleinere Zweigschere, einen
Spaten, eine Harke – und nach kurzer Überlegung sogar eine Axt. So, sie war
gerüstet!
Sie beäugte den ekelhaften Efeu.
Er wuchs auf einer erhöhten steinigen Stelle zwischen der Gartenlaube und einem
verwilderten Beet. Er sah wirklich widerlich aus, er klammerte sich eng um ein
junges Bäumchen und erwürgte es fast mit seinen dicken haarigen Trieben, aus
denen nur noch schwächliche krumme Zweiglein wuchsen. Er sah aus wie ein
Monster, das sich diese Ecke des Gartens unterworfen hatte, und Irma hasste das
Monster.
Ich hasse dich, ich hasse ich,
dachte sie. Du kannst mir nichts antun, ich werde schon fertig mit dir!
Mit aller Wut, die in ihr war,
rückte sie dem Monster zu Leibe. Mit einer Zweigschere fuhr sie rücksichtslos
in das Gestrüpp hinein und zwackte es entzwei, bis sie Blasen an den
Handflächen hatte. Mit der Astschere zerkleinerte sie die dicken Triebe, mit
einem Spaten lockerte sie die Wurzeln, die sich tief im Boden festgekrallten
und sich hartnäckig dagegen wehrten, hinausgezogen zu werden. Mit der Axt
hackte sie auf besonders widerspenstigen Wurzeln herum. Ihre Mutter hatte
Recht, er untergrub den ganzen Garten und breitete sich unterirdisch aus. Aber
mit ihr konnte er das nicht machen! Irma stieß mit dem Spaten auf ihn ein,
brach ihn mit der Astschere in Stücke, sie rang mit ihm und zog auch dicke
Triebe aus dem Erdreich, sie wütete förmlich im Efeu, und allmählich türmte
sich hinter ihr ein ekelhaft aussehender Haufen aus monströsen Wurzeln und
haarigen Stängeln auf.
Irma schaute befriedigt darauf
herab. Ihre Handflächen waren zwar mit Blasen bedeckt, der Rücken brach ihr
fast entzwei, und sie war ziemlich außer Atem, aber sie hatte es geschafft: Das
Monster war besiegt. Jetzt musste das eklige Zeug nur noch in den Komposter
geschafft werden.
Sie griff sich triumphierend ein
Bündel voll Efeu und sprang von den Steinen in den Garten hinunter.
Sie hatte nicht damit gerechnet,
dass die Erde immer noch schmierignass vom letzten Regenguss war. Irma rutschte
mit dem rechten Fuß weg, der linke hing in der Luft, und sie stürzte.
Sie stürzte entsetzlich langsam,
so kam es ihr jedenfalls vor, und sie schaffte es noch, sich irgendwie zur
Seite zu drehen, weil sie nicht mit dem Steißbein aufkommen wollte. Sie
streckte beide Arme aus, um den Sturz mit den Händen aufzufangen. Das klappte.
Aber nicht genug – sie knallte mit
der linken Hüfte hart auf den Boden, und es tat so weh, dass sie keine Luft
mehr bekam, so musste ein Fisch sich auf dem Trockenen fühlen, ging es ihr
durch den Kopf, während sie mühevoll nach Luft schnappte, es kam ihr vor wie
eine Ewigkeit, sie hatte Angst zu ersticken - bis sie dann endlich wieder
normal atmen konnte.
Dann lag sie da, geschockt und
verwirrt, wie konnte das passieren. Sie ächzte auf und versuchte langsam, sich
zu erheben. Sie spürte, dass auch ihre rechte Hand furchtbar weh tat, aber sie
musste doch aufstehen. Sie nahm die Ellenbogen zu Hilfe und stützte sich auf
sie, sie sah bestimmt aus wie ein Maikäfer, der versuchte, wieder auf die Beine
zu kommen.
Als sie es gerade geschafft hatte,
sich mit der unverletzten Hand aufzustützen, durchfuhr sie plötzlich ein
ziehender Schmerz. Sie krümmte sich stöhnend zusammen und ließ sich vorsichtig
wieder zurückfallen. Irgendetwas stimmte da nicht. Oh Gott, hoffentlich nicht
das! Irma wollte nach ihrer Mutter rufen, aber ihre Stimme war ihr abhanden
gekommen, sie bekam nur ein heiseres Krächzen heraus, das bestimmt niemand
hören konnte.
Sie lag ganz still da, und nach
einer scheinbar endlosen Weile verblasste der Schmerz etwas, aber sie hatte
Angst, furchtbare Angst. Denn das Monster war immer noch da, sie hatte es gar
nicht besiegt. Sie selber war das Monster.
Martina fand sie ein paar Minuten
später, sie wusste gar nicht, warum sie nach ihrer Tochter schauen wollte, es
war so ein unbestimmtes Gefühl, sie machte sich Sorgen um sie.
Irma lag bewegungslos auf dem
Rücken und starrte nach oben. Ihr Gesicht sah verängstigt und schmerzverzogen
aus, und Martina, der die Tränen kamen, rief einen Krankenwagen an.
~~~~~~~~~~~
Chris trat nervös von einem Bein
aufs andere. Er hoffte, sie hier zu finden, es war die letzte Möglichkeit. Er
hatte sie überall gesucht, zuerst in ihrer Wohnung, dann bei Jessi, bei Anna
und Markus und zuallerletzt bei Ralf, wo er sie am ehesten vermutete – aber
auch dort war sie nicht. Bis ihm schließlich einfiel, sie könnte bei ihren
Eltern sein, wie hieß das Kaff noch? Er musste Ralf anrufen und ihn danach
fragen, und der sagte es ihm schließlich widerwillig. Ralf hasste ihn
vermutlich, und er verstand das gut. Er war hassenswert, er war verrückt, doch
er liebte Irma, und er würde sie nicht so ohne weiteres gehen lassen. Er
versuchte, bei Irmas Eltern anzurufen. Und als auch nach Stunden niemand ans
Telefon gegangen war, entschloss er sich, einfach hinzufahren.
Endlich machte jemand auf, und
Irmas Mutter starrte ihn an. Ihr Blick war abweisend und vorwurfsvoll, und sie
bat ihn nicht ins Haus hinein. Aber er musste mit ihr reden, sie davon
überzeugen, dass er nicht so schlimm war, wie sie vielleicht dachte.
„Ich liebe sie“, sagte er. „Und
ich will das Kind, das weiß ich jetzt. Ich war vollkommen durcheinander, hatte
die Wahnvorstellung, das Kind würde sie töten. Aber jetzt bin ich einigermaßen
klar im Kopf, und ich hoffe, dass sie mir verzeiht.“
Martina fühlte sich gerührt. Sie
hatte sich nicht in ihm getäuscht. Doch da war noch das andere...
„Und die andere Frau?“, fragte sie
ihn unverblümt.
Chris lachte bitter auf. „Sie hat
mich fast hereingelegt. Sie besaß einen Schlüssel zu meiner Wohnung, ich weiß
immer noch nicht, wie sie an ihn gekommen ist. Es hört sich bestimmt blöd an,
aber es ist wahr. Es ist nichts passiert, ich habe es im letzten Moment
gemerkt.“ Er starrte vor sich hin. „Natürlich muss es so ausgesehen haben, als
ob ich... Aber das kann sie doch nicht glauben!“
„Sie will dich nicht mehr sehen.
Sie will hier bleiben, sie könnte dich in der Stadt treffen, davor hat sie
Angst. Sie könnte dich mit dieser Frau treffen und mit ihrem Sohn.“ Martina
wunderte sich nicht darüber, dass sie ihn einfach duzte.
„Das ist doch Quatsch! Ich habe
ihr verboten, jemals wieder auf Sichtweite an mich heranzukommen. Und falls
doch...“
Martina konnte in seinen Augen die
versteckte Drohung erkennen, und sie fühlte sich erleichtert. Er war absolut in
Irma verliebt, und sie glaubte das, was er sagte. Aber ob Irma ihm auch glauben
würde? Sie hoffte es so sehr.
„Aber jetzt will ich wissen, wie
es ihr geht? Es geht ihr doch gut. Und dem Kind geht es auch gut? Sag’ es mir
bitte!“ Chris’ Stimme zitterte. „Und wo ist sie? Ich möchte sie sehen...“
Martina erzählte ihm, was passiert
war und auch wo Irma sich gerade befand. „Sie ist ziemlich durcheinander. Sie
macht sich selber Vorwürfe, und sie hasst den Gedanken an dich. Aber du musst
es natürlich versuchen...“
„Wenn ich Glück habe, werden wir
beide bald richtig miteinander verwandt sein“, er lächelte, doch sein Lächeln
wirkte schmerzlich. „Aber ich muss schon verdammt viel Glück haben...“
Fortsetzung
folgt
Alle
IRMA-CHRIS-Geschichten befinden sich auf meiner Homepage unter: SHORTSTORIES>>> bis auf
diese natürlich ;-))
Vorheriger TitelNächster Titeljetzt sind alle dort:
http://ingridgrote.de/html/bucher.htmlIngrid Grote, Anmerkung zur Geschichte
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Ingrid Grote).
Der Beitrag wurde von Ingrid Grote auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.09.2009.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Ingrid Grote als Lieblingsautorin markieren
Gedichte mit und ohne Depresionen
von Henriette Toska
In ihrem Erstlingswerk hat die Autorin verschiedene Gedichte zusammengefasst.
Sie beziehen sich auf den Lebenslauf und Alltagsgeschichten zu jeder Jahreszeit.
Viel Spass beim Lesen
Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!
Vorheriger Titel Nächster Titel
Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:
Diesen Beitrag empfehlen: