Hannis Eriksson

Und der letzte löscht das Licht

Leopold saß in der Küche seines kleinen Hauses. Er wohnte schon lange allein hier. Vor über zehn Jahren war seine Frau gestorben und seine einzige Tochter lebte mit ihrem Mann in der Stadt. Ab und zu holte ihn seine Tochter zu sich. Zuletzt hier besucht hatten sie und seine Enkel ihn, da lebte seine Frau noch. Auch einer seiner Urenkel war einmal mit hier gewesen, der älteste musste es wohl gewesen sein.

   Irgendwann hatte ihm seine Tochter angeboten, zu ihr und ihrem Mann zu ziehen, aber Leopold hatte abgelehnt. Damals hatte das Dorf noch mehr Einwohner gehabt.

   Einer von ihnen war Karl gewesen. Wie Leopold war Karl hier geboren. Sie waren zusammen aufgewachsen, hatten, als sie Kinder waren, immer auf den Feldern im Osten gespielt. Doch das war lange her. Inzwischen war Karl gestorben. Achtundsiebzig Lebensjahre hatte die Welt ihm vergönnt. Nun hatte er seine letzte Ruhe auf dem kleinen Friedhof neben der kleinen Kirche gefunden, in der schon lange keine Gottesdienste mehr abgehalten wurden.

   Ein anderer war Martin. Er stammte aus einem Nachbarort und hatte hierher geheiratet. Grete hieß seine Frau. In den letzten Jahren, bevor Martin in ein Altersheim gegangen war, seine Frau war auch schon länger tot, hatten er und Leopold abends oft den Ausblick übers Land genossen. Sie sahen hinüber zum beleuchteten Kreuz und philosophierten über die vergangenen Jahrzehnte. Martin war der letzte gewesen, der gegangen war.

   Irgendwann, es muss wohl so um neunzehnhundertneunzig gewesen sein, also kurz nach der Wende, vielleicht auch schon einige Zeit davor, hatte es begonnen. Erst zogen die jungen Leute von hier weg. Einige der älteren verließen das Dorf in Richtung Altenheim. Busse kamen immer seltener hier vorbei.

   Leopold hatte gehört, dass in anderen Dörfern hier in der Gegend und auch weiter südlicher etwas ähnliches passierte. Die Menschen zogen in die Städte, und die meisten verließen gleich das Bundesland und ließen sich im Westen nieder. Einige verschlug es sogar in andere Länder. Wohin die Leute aus seinem Ort gezogen waren, wusste er nur selten. Manchmal konnte er sich auch nicht mehr erinnern.

   Immer wenn er so in seiner Küche saß, dachte er nach, versuchte sich an die Gesichter zu erinnern, doch es fiel ihm immer schwerer. Im Augenblick wartete er auf eine der Pflegeschwestern. Den Pflegedienst hatte seine Tochter engagiert. Er selbst hätte nie an so etwas gedacht. Es ging ihm gut, er fühlte sich keineswegs krank, nur manchmal ein wenig einsam. Dann ging er durch die Straße und sah bei jedem Haus nach, ob alles in Ordnung war. Er kümmerte sich um das, was die anderen zurückgelassen hatten.

   Zwei bis dreimal pro Woche ging er auf den Friedhof um nach den Blumen auf den Gräbern zu sehen. Lange hielt er sich dort selten auf. Nur bei dem Grab seiner Frau, oder bei Karls Grab blieb er manchmal längere Zeit stehen und dann redete er mit ihnen, so als ständen sie direkt neben ihm.

   Und ab und zu ging er auch in die Kirche, nur um zu sehen, wie sie langsam in sich zerfiel. Eigentlich zerfiel hier alles um ihn herum. Er war der Nachtwächter, er konnte nichts tun, nur daneben stehen und zusehen.

   Jetzt klopfte es an der Haustür. Leopold stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. Die Pflegeschwester trat hinein. Sie hatte ihm einige Einkäufe mitgebracht. Sie stellte die Sachen ab und machte ihm Frühstück. Nebenbei erzählte sie etwas, doch Leopold hörte nicht zu. Er blickte aus dem Fenster und war wieder eins mit seinen Gedanken.

   Irgendwann verließ die Schwester das Haus und dann das Dorf wieder. Leopold atmete tief ein. Das Marmeladenbrot, das ihm die Schwester hingestellt hatte, war kaum angerührt. Von dem Kaffee hatte er nur genippt.

   Leopold dachte nach. Was machte er eigentlich noch hier? Für wen hielt er hier Wache? Es würde sowieso niemand mehr zurückkommen. Hätte er nicht das Angebot seiner Tochter annehmen sollen?

   Er verließ seinen Fensterplatz, ging ins Schlafzimmer und holte den alten Koffer vom Kleiderschrank herunter. Er packte die Dinge zusammen, die ihm wichtig schienen und verschloss den Koffer. Mit dem gepackten Koffer ging er zurück in die Küche. Er nippte noch einmal vom Kaffee. Dann drehte er sich zur Haustür. Er schaltete das Licht in der Küche aus, ging auf den Flur, zog sich seinen alten Mantel über und löschte dann das Licht auf dem Flur. Er öffnete die Haustür, trat vor das kleine Haus und schloss die Tür wieder hinter sich. Er drehte den Schlüssel im Schloss, zog ihn ab und steckte ihn in seine Tasche. Dann ging er die Straße hinunter in Richtung Westen.

   Am Ortsschild drehte er sich noch einmal um. Eine Träne rollte über seine Wange. 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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