Uwe Fuchs

Der Nächste Winter

„Du suchst Ruhe?“, hat mich Tim gefragt, ein Arbeitskollege. „Fahr raus nach Wedel, mach einen Spaziergang an der Elbe. Abends sind da außer dir nur noch Schafe.“

Als ich die Haustür öffne, bin ich wie geblendet. Greller Sonnenschein, wolkenloser Himmel, dazu eine fast unwirkliche Wärme. Ich will schon wieder kehrtmachen, in den kühlen, schützenden Hausflur zurückgehen, aber im letzten Moment nehme ich mich zusammen. Verdrossen mache ich mich auf den Weg.

Ich habe extra den Ausgang zur Wasserseite genommen, in der Hoffnung, dass hier nur wenig los sein wird. Irrtum! Etliche Leute sind unterwegs, bedecken die Kaimauern, ergießen sich über die hölzernen Pontons, verstopfen die Fußgängerbrücken. Der Sandtorhafen, an den Wochenenden sonst ein beschauliches Plätzchen, gleicht heute einem Bienenstock.

Dabei ist es hier schon unter der Woche recht ungemütlich, wegen des permanenten Baulärms. Gerade werden überall stählerne Duckdalben in den Boden des Hafenbeckens gerammt, um daran später alte, ausgediente Schiffe zu vertäuen – als Attraktion für Touristen. Am Fuß der Magellan-Terrassen hat eine erste, schicke Café-Bar eröffnet. Zahlreiche Leute sitzen auf der Terrasse in der Sonne. Sicher überwiegend Spaziergänger, aber möglicherweise sind auch Anwohner unter ihnen. Meine Nachbarn... bei dem Gedanken muss ich grinsen. Gleichzeitig macht sich ein Gefühl von Bitterkeit in mir breit.

Jenseits des Kleinen Grasbrooks ist alles noch Baustelle. Die Rohbauten ragen wie bleiche Skelette in den Himmel und lassen die Straße zu einer Schlucht werden. Ob die Häuser jemals fertig werden? Das scheint angesichts der sich rapide verschlechternden Wirtschaftslage fraglicher denn je.

Ich haste durch die Speicherstadt, ohne Blick für die pittoresken, backsteinernen Lagerhäuser zu beiden Seiten. Das Gebäude de „Spiegel“ lasse ich rechts liegen. Je weiter ich mich der Innenstadt nähere, desto mehr verdichtet sich das Menschengewühl. Schließlich sind es wahre Massen, die sich über die Straßen und Plätze schieben.

Wie kann es mitten im Oktober so warm sein? Aber die Herrlichkeit wird nicht lange währen: Bereits für heute abend hat der Wetterbericht Regen, Sturm und deutliche Abkühlung vorhergesagt. Der Winter naht, auch wenn man es angesichts des sonnendurchfluteten Straßenbildes gar nicht glauben mag.

„Und nimm besser nicht den Wagen“, hat Konrad mir geraten, ein anderer Arbeitskollege, „da stehst du bloß im Stau. Fahr lieber mit der S-Bahn.“

Jetzt nähere ich mich der Alster. An der Bahnstation werde ich Teil des Menschenstroms, der auf der Rolltreppe in die Tiefe gleitet. Die Sonne verschwindet, kaltes Neonlicht tritt an ihre Stelle.

Am Fuß der Treppe beginnt ein Labyrinth aus Tunneln und Treppen. Als ich halt mache und versuche, das Schilder-Wirrwarr zu verstehen, werde ich von Passanten angerempelt, zur Seite geschubst. Der Geräuschteppich zerrt an den Nerven. Ich bin kurz davor, endgültig die Geduld zu verlieren und umzukehren, als ich die rettende Aufschrift entdecke: „S1/S3“. Neue Hoffnung schöpfend arbeite ich mich weiter voran und finde schließlich den Bahnsteig.

Nun stehe ich zwischen den Wartenden: Shopper mit prall gefüllten Einkaufstüten, Gruppen von gackernden Teenies, eine Meute lärmender Touristen. Viele Leute klackern auf ihren Handys herum oder starren den Werbe-Bildschirm jenseits des Gleises an. Überall laufen Tauben pickend umher.

Wann habe ich zuletzt öffentliche Verkehrsmittel benutzt? In Hamburg jedenfalls noch nicht, obwohl ich hier nun schon vier Jahre lebe. Normalerweise nehme ich das Auto, egal ob ich ins Büro fahre oder zu einem Kunden will. Zum Flughafen rufe ich mir ein Taxi. Über die Jahre ist meine Abneigung, mich in Bussen und Bahnen unters Volk zu mischen, immer größer geworden. Außerdem kann ich mich im Taxi oder im eigenen Wagen besser auf die anstehenden Termine konzentrieren.

Endlich kommt die Bahn. Als ich sehe, wie die Leute ins Innere des Zuges drängeln, zögere ich wieder. Dann steige ich ebenfalls ein.

 

***

 

Die Luft im Zug ist zum Schneiden dick, obwohl alle Fensterklappen offen stehen. Ich sitze eingequetscht zwischen Menschen und Einkaufstüten. Von irgendwoher ertönt meckernder Sprechgesang, unterlegt von rhythmischem Zischen und Klappern. Ich versuche die Lärmquelle ausfindig zu machen, was sich als schwierig herausstellt: Kaum ein Ohrenpaar, aus dem nicht Kabel heraushängen. Besonders junge Leute stopfen sich, kaum dass sie den Zug betreten, fast automatisch die Stecker in die Gehörgänge. Offenbar die Standardausrüstung zum Bahnfahren...

Tim. Konrad. Noch immer denke ich an die beiden als meine Arbeitskollegen. Dabei wird es Zeit, dass ich mich an die neue Situation gewöhne: Sie sind meine ehemaligen Arbeitskollegen! Es ist vorbei. Ich bin raus.

Warum musste die Kündigung gerade jetzt kommen? Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich finanziell etwas gewagt, mich verschuldet. Eigentumswohnung, noch dazu eine so teure. Hätte es nicht etwas bescheidener ausfallen können? Ein schlichterer Stadtteil, in dem die Preise nicht so exorbitant hoch sind? Nein, es musste die Hafencity sein. Wenn schon, denn schon, habe ich mir gesagt. Aber ein gutes Gefühl hatte ich bei der Sache von Anfang an nicht.

Kaum hatte ich mein Vorhaben in die Tat umgesetzt, passierte es prompt: Die Turbulenzen an den Finanzmärkten erwischten unser Unternehmen. Krise – bislang hatte niemand im Kollegenkreis ernsthaft einen Gedanken an diese Möglichkeit verschwendet. Jahrelang immer nur Wachstum, Expansion, steigende Gewinne. Auch nach dem Crash sah es eine ganze Weile so aus, als würde der Kelch an uns vorübergehen. Aber dem war nicht so. Plötzlich hieß es: Die Kunden bezahlen ihre Rechnungen nicht mehr, stornieren die Aufträge reihenweise. Offenbar ging es nun auch bei uns bergab. Alle ahnten, dass bald Köpfe rollten würden.

Es war mein Telefon, das als erstes klingelte. Als ich die Nummer des Chefs auf dem Display las, konnte ich mir denken, was die Stunde geschlagen hatte. Ich ging in sein Büro wie zu einer Hinrichtung. Als erstes schloss er hinter mir die Tür, die sonst grundsätzlich offen stand. Dann kam er ohne Umschweife zur Sache: „Herr Bohland, wir können Sie nicht länger beschäftigen.“

Ich hätte gedacht, dass man bei einer solchen Nachricht von Emotionen schier überwältigt würde. Heillose Verzweiflung spürte, grenzenlose Wut oder etwas in der Art. Aber in mir war nur Leere.

Der Chef schaute mich mit einer maskenhaften, Betroffenheit simulierenden Miene an und wartete. Als offensichtlich war, dass es mir die Sprache verschlagen hatte, nahm er den Faden wieder auf. Er murmelte Plattitüden von Krise, der Notwendigkeit zu schrumpfen, einer auch für ihn unangenehmen Situation und dergleichen. Ich hörte kaum hin.

Erst als er seinen Vortrag mit den Worten „Sie sind ab sofort freigestellt“ schloss, erwachte ich aus meiner Erstarrung. Freigestellt. Das hieß ja wohl, dass ich gehen konnte. Feierabend. Für immer.

„Ihr Gehalt läuft selbstverständlich bis zum Vertragsende weiter.“ fügte er noch hinzu, aber da war ich schon wieder in Gedanken.

Der Gang zurück in mein Büro geriet zu einem Spießrutenlauf. Aus sämtlichen Türen wurden mir mitleidige Blicke zugeworfen. Jeder konnte sich denken, welche Art von Gespräch ich mit dem Chef geführt hatte.

Als ich nach Hause kam, so ungewohnt früh am Tag, machte es endlich „klick“. Ich betrachtete die unausgepackten Umzugskartons, die überall herumstanden, und fing plötzlich an zu zittern. Irgendetwas drückte mir die Luft ab, mir wurde schwindelig, ich bekam Schweißausbrüche. Nachts wurde es so schlimm, dass ich mir nicht mehr anders zu helfen wusste, als den Notarzt zu rufen. Der gab mir eine Beruhigungsspritze und riet mir, einen Psychologen zu konsultieren.

Das war vor vier Wochen. Mittlerweile geht es mir wieder besser. Aber noch immer fällt es mir schwer zu begreifen, was eigentlich passiert ist.


***

 

Der Zug hält an den Landungsbrücken. Angeblich ein beliebtes touristisches Ziel, aber es steigen nur ärmliche, abgerissene Gestalten ein. Einer der Typen stellt sich neben zwei Kinderkarren und öffnet eine Dose Bier. Die beiden dunkelhäutigen Kinder in den Karren schauen ihn aus großen Augen an. Ihre Mütter blicken betreten zur Seite. Anscheinend erleben sie eine solche Situation nicht zum ersten Mal. Es ist grotesk und abstoßend. Ich möchte aussteigen.

Dann wird mir mit Grausen klar, dass solche Situationen von nun an zu meinem Leben gehören werden. Ich kann ihnen nicht mehr ausweichen. Mein Auto, für das ich vor kurzem noch viel Geld bezahlt habe, ohne dass es mir sonderlich weh tat, werde ich wohl wieder verkaufen müssen. Der Wohnungskauf hat mein Konto komplett leer geräumt. Und nun arbeitslos. Ich bin so blank, dass nicht mal mehr ein alter, klappriger Gebrauchtwagen drin ist.

Ein lauter Rülpser. Die Gestalt mit ihrem Dosenbier wankt im Rhythmus des fahrenden Zuges hin und her. Welche Umstände mögen einen Menschen derart verwahrlosen lassen? Was muss passieren, damit man sich dreckstarrend zwischen die Leute stellt und billiges Bier säuft? Hat ein Schicksalsschlag den Kerl aus der Bahn geworfen?

Der Gedanke treibt mir den Schweiß aus den Poren. Da ist es wieder, das Gefühl der Beklemmung. Genau wie vor vier Wochen, als mir gekündigt wurde und ich vorzeitig nach Hause kam, niedergestreckt, gedemütigt.

 

***

 

Dabei bin ich längst nicht mehr der Einzige, den es erwischt hat. Mittlerweile verlieren die Leute reihenweise ihre Arbeit. Auch in meiner Branche, der Softwareentwicklung, hat der Jobabbau voll eingesetzt. Ich bin nur einer von vielen.

Aber warum musste ich der Erste sein? Warum haben sie nicht jemand anderen herausgepickt? Zum Beispiel Tim: Um Punkt 17 Uhr knipst er den Rechner aus und sucht das Weite, mögen die Termine und Deadlines noch so sehr drängen. Er macht nur, was man ihm sagt. Anregungen und Ideen für die Projekte kommen von ihm nie.

Oder Konrad: Ständig inszeniert er sich als den großen Unabkömmlichen, tut so, als liefe ohne seinen genialen Input gar nichts. Die eigentliche Arbeit aber überlässt er stets den Kollegen im Team.

Nein, die Wahl fiel auf mich, Sven Bohland. Und das, obwohl ich mich so reingehängt, oft bis an den Rand der Erschöpfung gearbeitet habe.

Vor allem beim letzten Projekt. Mein Baby! Ein Strategie-Tool zur Optimierung von Kundenansprachen im Finanzdienstleistungssektor. Das System konnte sowohl in Service-entern als auch im Außendienst auf Notebooks und auf Mobiltelefonen eingesetzt werden. In der Branche gab es noch kein vergleichbares Produkt. Ich sah uns schon zum Marktführer aufsteigen.

Aber der Finanzcrash hat alle meine Träume begraben. Plötzlich war Schluss. Nun gibt es kein fertiges Produkt, und einen Job habe ich auch nicht mehr. Ich stehe mit leeren Händen da.

Wie ein Spieler, der alles auf eine Zahl gesetzt hat. Leider ist es die falsche gewesen, und jetzt ist der gesamte Einsatz futsch, verloren, perdü.

 

***

 

Vor den Fenstern Schwärze. Der Zug arbeitet sich unter lautem Rattern und Quietschen durch den Tunnel. Nun verlangsamt er sein Tempo, stoppt schließlich ganz. Keine Station ist in Sicht. Wir sind einfach stehen geblieben, im Nichts.

Man hört Räuspern, Husten, ungeduldiges Seufzen. Dazwischen der nervtötende Geräuschteppich aus den diversen Ohrstöpseln. Die Kinder in ihren Karren werden unruhig. Der Trinker hat seine Dose geleert und blickt ins Nirwana. Dann knistert es in den Lautsprechern und eine Stimme ist zu vernehmen: „Liebe Fahrgäste, vor uns ist auf der Strecke ein Zug der Linie S3 liegengeblieben und muss abgeschleppt werden. Die Weiterfahrt wird sich leider um einige Minuten verzögern.“ Knack – Durchsage beendet.

Allgemeines Aufstöhnen, einige schimpfen. Aber schnell hat sich der Tumult wieder gelegt. Die Leute ergeben sich in ihr Schicksal, starren und brüten stumpf vor sich hin. Was bleibt ihnen anderes übrig? Einige Minuten kann viel heißen. Abschleppen – das ist ja wie beim Autofahren.

Jetzt fängt das erste der beiden Kinder an zu wimmern. Die Mutter versucht es zu trösten. Ohne Erfolg: Das Weinen schwillt an, wird zu gellendem Kreischen. Meine Sitznachbarn versuchen es mit Fassung zu tragen. Aus verschiedenen Ecken hört man die Kopfhörermusik lauter werden.

Ein Fahrrad kracht mit lautem Scheppern um. Die ganze Zeit ist es stehen geblieben, trotz des Gerüttels während der Fahrt, aber nun, da der Zug sich nicht mehr rührt, fällt es einfach lang hin. Eine Tüte Äpfel kippt dabei aus, die Früchte rollen über den Boden. Kurz darauf sieht man eine junge Frau zwischen den Beinen der Leute herumsteigen und, Entschuldigungen murmelnd, das Obst wieder einsammeln.

 

***

 

Ein Spieler, der sich nicht mehr losreißen kann, der durchdreht und alles auf eine Zahl setzt... welche Ironie, dass ausgerechnet mich dieses Schicksal ereilt. Mich, den kühlen Analytiker, den Perfektionisten. „Kontrollfreak“ werde ich gern genannt. Nicht ohne Grund: Herr der Situation zu bleiben ist für mich eigentlich essentiell, lebensnotwendig.

Und jetzt? Wie soll ich die Hypothek für die Wohnung abbezahlen? Von meinem Arbeitslosengeld bestimmt nicht. Und durch die Finanzkrise purzeln die Immobilienpreise gerade ins Bodenlose. Wenn ich jetzt verkaufe, mache ich einen Riesenverlust, den ich im Leben nicht wieder hereinhole.

Verdammt, ich muss doch nur einen neuen Job finden, um aus dem Tief zu kommen!

Aber gerade das erscheint mir auf einmal vollkommen unmöglich.

Ich denke an letzte Woche. Endlich hatte ich mich etwas gefangen. Ich recherchierte im Netz über moderne Strategien zur Stellensuche, brachte meine digitale Bewerbungsmappe auf Vordermann, begann auf Anzeigen zu antworten. Vorgestern hatte ich ein Telefoninterview mit einem Unternehmen in Berlin, nächste Woche fahre ich nach Frankfurt und stelle mich dort vor.

Die Resonanz ist also gut. Trotzdem liegen die Dinge anders als früher.

Bislang habe ich Bewerbungsgespräche immer als Herausforderung gesehen. Kann ich die andere Seite überzeugen? Halte ich dem Druck stand, wenn ich „gegrillt“ werde? Aber plötzlich nervt mich alles, was irgendwie nach Business riecht: die gelackten Managertypen, die protzigen Büros in den Innenstädten, das ganze Karriere-Sprech, in dem es von Floskeln wie „Herausforderung“, „persönlicher Marktwert“ und „gut aufgestellt sein“ nur so wimmelt.

Schlimmer noch: Ich habe Angst. Angst, im nächsten Job in eine ähnliche Situation zu geraten wie beim letzten Mal. Angst, mich wieder zu übernehmen, den Überblick zu verlieren und am Ende zu scheitern. Sind die Anforderungen in diesem Beruf vielleicht zu hoch für mich? Bringe ich es nicht? Bin ich am Ende doch bloß Mittelmaß, wie Tim und Konrad?

Auf einmal wird mir bewusst, wie allein ich bin. Ich habe mich nie um Kontakte zu anderen Menschen gekümmert, nie einen Freundeskreis aufgebaut, mich immer nur auf mich selbst verlassen. Wo ich hinkam, blieb ich Einzelgänger. Für mich gab es nur die Arbeit, alles andere zählte nicht, hielt bloß auf. Ich war mir stets meiner eigenen Kraft und Energie sicher, das genügte. Nicht mal die Stadt, in der ich gerade lebte, interessierte mich. Auch in Hamburg kenne ich bis auf meine Wohnung, das Büro, die Niederlassungen unserer Kunden und den Flughafen nichts.

Von der geplanten Hafencity las ich in der Zeitung. Ich fand das Vorhaben interessant, wagemutig. Im Internet konnte man in aufwändigen 3D-Animationen die geplanten Loft-Wohnungen bestaunen und virtuell durchwandern.

Vor gut einem Jahr fuhr ich zum ersten Mal hinunter an den Hafen und schaute mir die Gegend an. Ich sah die abgeräumten Hafenflächen, sah überall neue Gebäude entstehen, neue Straßen und Kaianlagen, und war beeindruckt. Offenbar wurden die mit viel Pomp angekündigten Pläne tatsächlich umgesetzt. Erst der Potsdamer Platz in Berlin, nun das – endlich musste man nicht mehr bis nach China, Singapur oder Dubai reisen, um Dynamik und Veränderung zu erleben.

Vor vier Monaten schließlich, als die Wohnungen fertiggestellt waren, kontaktierte ich den Makler, um in der Realität zu besichtigen, was bis dato nur im Rechner existiert hatte. In dieser Zeit lief gerade mein Projekt aus dem Ruder, begannen die vielen Nachtschichten, und ich war bereits deutlich angezählt. Wahrscheinlich ließ ich mich bloß deshalb auf den Handel ein.

Denn was am Bildschirm noch so hell und großzügig gewirkt hatte, entpuppte sich sich in Wirklichkeit als klein und eng. Außerdem war das Ganze unverhältnismäßig teuer. Aber ich glaube, ich wollte einmal das Gefühl haben, mein ganzer Einsatz lohne sich. Also schloss ich ab.

Und jetzt habe ich keine Ahnung, wie ich da wieder rauskommen soll. Diese geheimnisvolle innere Kraftquelle, die unerschöpflich schien – plötzlich ist sie versiegt. Alle Dämme scheinen zu brechen, und nichts hält mehr das Gefühl zurück, das eigentlich die ganze Zeit da war: Einsamkeit. Wie ein zäher, kalter Nebel kriecht sie heran...


***

 

Mit einem Ruck setzt sich die Bahn wieder in Bewegung. Befreites Aufatmen unter den Fahrgästen. Nur noch ein kurzes Stück Fahrt, dann haben wir die nächste Station erreicht: Altona. Die Türen öffnen sich, die Leute strömen ins Freie. Am gegenüberliegenden Bahnsteig fährt eine weitere Bahn ein. Auch dort quillt ein ganzer Pulk Menschen aus dem Zug, viele kommen zu uns herüber. Sie tragen Funktions- oder Sportkleidung, haben Rucksäcke geschultert, halten Wasserflaschen in den Händen. Die Zahl der Fahrräder im Gang wird noch größer. Offenbar ist dies die Ausflugslinie. Ich bin richtig.

Weiter geht die Fahrt. Wir verlassen den Tunnel, sehen nach fast halbstündiger Dunkelheit endlich wieder Sonnenlicht. Alte Fabrikgebäude ziehen vorüber, zum Teil renoviert und zu Lofts umgebaut. Für einen Moment verdunkelt der Schatten eines riesigen Bürokomplexes das Wageninnere. Es folgen Neubaublöcke und ein Gewerbegebiet, das von einer weiten, leeren Rasenfläche umgeben ist. Nun überqueren wir die Autobahn. Links ist die Einfahrt in den Elbtunnel zu sehen, vor der sich der Verkehr staut.

Dann scheinen wir in eine andere Welt einzutauchen. Herbstlich eingefärbte Bäume sausen vorbei, Villen, deren weitläufige Gärten bis an den Bahndamm heranreichen. Man sieht Menschen, die sich sonnen, Kinder, die ein Fest feiern, eine Frau deckt Beete ab, jemand mäht den Rasen. Einmal vernebeln blaue Rauchschwaden die Sicht, als in einem Garten gegrillt wird. Immer neue Szenerien gleiten heran, bleiben für Sekundenbruchteile stehen wie von einem Fotoapparat gebannt und verschwinden wieder...

...und auf einmal merke ich, dass dort meine eigene Vergangenheit an mir vorüberzieht. Auch ich habe früher in einem solchen Garten gespielt, bin in einem ähnlich großen Haus aufgewachsen. Dieses wohlhabende Viertel am Fuß der Bahnstrecke könnte das meiner eigenen Kindheit und Jugend sein.

Schon sehe ich mich auf meinem Rad durch die Straßen fahren. Das habe ich damals oft gemacht. Ich fuhr einfach herum, ohne Ziel und ohne festgelegte Route. Im Herbst knisterte welkes Laub unter meinen Reifen, im Frühjahr war die Luft erfüllt von lautem Vogelzwitschern.

Das Viertel lag im Süden meiner Heimatstadt, am Fluss. Die Häuser waren weitläufig, viele Räume in ihnen wurden so gut wie nie benutzt. Alles war reinlich. Putzfrauen, die nur gebrochen deutsch sprachen, machten sauber und verschwanden unauffällig wieder, sobald sie ihre Arbeit verrichtet hatten.

Die Kinderzimmer waren üppig eingerichtet und angefüllt mit dem vielfältigsten Spielzeug. Ich besuchte die Grundschule des Stadtteils und wechselte später auf ein nahe gelegenes Gymnasium. Mein Tagesablauf war, ähnlich wie bei allen anderen, strikt durchgeplant. In der Schule nahm ich an verschiedenen AG's teil, unter anderem Schach. Ich erhielt Unterricht für Klavier und Gitarre. Zudem belegte ich ab der siebten Klasse einen täglichen Kursus in Latein. Das war obligatorisch für Schüler, die Französisch als zweite Fremdsprache gewählt hatten. Ohne Latein, hieß es, hätte man später an der Universität einen deutlichen Wettbewerbsnachteil.

In der wenigen freien Zeit beschäftigte mich mit meinem Homecomputer. Zu meinem zehnten Geburtstag hatte ich einen C64 bekommen, der später durch einen Amiga 500 abgelöst wurde. Mithilfe einer Computerzeitschrift, die ich regelmäßig las, brachte ich mir das Programmieren bei. Nach und nach baute ich meine Kenntnisse aus. Meine Anwendungen, die anfangs noch sehr simpel waren, gewannen bald zunehmend an Komplexität.

Eines dieser Programme simulierte die Funktionsweise eines Getränkeautomaten. Der Benutzer konnte eines der angebotenen Getränke auswählen und dann Geldmünzen verschiedener Größe einwerfen, bis die erforderliche Summe erreicht war. Kleine Münzen wurden nicht angenommen und fielen durch. Nach der Getränkeausgabe wurde sogar Restgeld zurückgegeben. Alles virtuell, versteht sich. Per Zufallsgenerator ließ ich von Zeit zu Zeit bestimmte Getränke ausgehen. Alles sollte so realistisch wie möglich sein.

Später stellte ich die Abläufe eines doppelten Aufzugsystems in einem Hochhaus nach. Wieder setzte ich den Zufallsgenerator ein, um die Bewegungen im Gebäude zu simulieren. Wuselnde Bildpunkte symbolisierten Menschen, die nach oben oder unten wollten und dafür wahlweise den Aufzug oder die Treppe benutzten.

Computerspiele hingegen reizten mich überhaupt nicht, was ungewöhnlich war. Fast alle meine Bekannten, ob in der Schule oder der Nachbarschaft, verbrachten einiges an Zeit mit ihren Adventures, Jump&Runs, Ballerspielen. Aber ich wollte den Rechner lieber für ernsthafte Dinge verwenden, nicht zur Zerstreuung. Das digitale Universum, das ich mir selbst geschaffen hatte, war interessanter als alle Games, es gehorchte nur den Gesetzen meiner eigenen Phantasie, nicht denen irgendwelcher Spieleprogrammierer.

Aber letztlich konnte es mir auch nicht das bieten, wonach ich mich insgeheim sehnte. Etwas fehlte mir. Ich vermochte es kaum in Worte zu fassen. All die Ordnung und Perfektion meiner Umgebung, dazu der Überfluss... es schien, als könne ich dem Ganzen nichts mehr hinzufügen. Alles war bereits da.

Immer wieder gab es Momente, da mir die vier Wände meines Zimmers zu eng, die Leere und Stille der vielen Räume unseres Haus unerträglich wurden. Ich musste hinaus, ins Freie. Ohne einen konkreten Plan setzte ich mich aufs Rad und fuhr ziellos herum. Ließ die Häuser an mir vorüberziehen, deren Eingänge mit Blumentöpfen verziert waren, die gepflegten Auffahrten, die chromblitzenden Autos in ihren Garagen. Beobachtete Nachbarn, die Treppe und Bürgersteig fegten, Hecken akkurat zurechtstutzten, Beete wässerten. Sah, wie der Gärtner im Park seine Runden auf dem Rasenmäher drehte, in gekonnten Manövern Sträuchern und Blumenrabatten auswich.

Irgendwann hatte ich mich wieder beruhigt und kehrte zurück an meinen Computer. Außer es war inzwischen Zeit für den Klavierunterricht, die Schach-AG, die Lateinstunde oder sonst einen der diversen Pflichttermine.

Ungefähr ab dem zwölften Lebensjahr traf ich mich nachmittags manchmal mit Kindern aus dem Viertel. Einfach so, außerhalb des strikten Wochenplans. Wir liefen herum und wussten nicht recht, was wir anfangen sollten. Ich glaubte zu spüren, dass wir alle auf der Suche nach etwas waren, von dem wir ahnten oder hofften, dass es existierte. Oder täuschte ich mich? Bildete ich mir Gemeinschaft ein, wo keine war? Nie sprach ich mit den anderen über dieses Thema.

Dann zog ein Neuer zu uns. Mit ihm drehte sich der Wind, unter seiner Führung wagten wir plötzlich Dinge, die wir uns vorher nie getraut hätten.

Zum Beispiel erkundeten wir heimlich die Gegend jenseits des Flusses. Dieser begrenzte unser Viertel, und natürlich war uns seine Überquerung strengstens untersagt. Wir hatten alle eine Höllenangst bei unserer Expedition ins Unbekannte. Ertappt zu werden, uns schmutzig zu machen, unsere Fahrräder zu beschädigen – genau konnten wir es gar nicht sagen. Der Neue lachte über uns „Hasenfüße“ und winkte verächtlich ab.

Wenig später initiierte er eine weitere Mutprobe. Wir sollten zusammen zur Jahn-Siedlung fahren, einem weithin berüchtigten Viertel, das wir nur vom Hörensagen kannten. Es lag im Norden, jenseits des städtischen Autobahnrings. Diesen hatte bislang noch keiner von uns zu passieren gewagt. Aber wer jetzt kniff, lief Gefahr, sein Gesicht zu verlieren und als Memme abgestempelt zu werden.

Allen war unglaublich beklommen zumute, als wir aufbrachen. Selbst unser Anführer schien plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen zu haben – er wirkte genauso eingeschüchtert wie wir anderen. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr.

Wir durchquerten tatsächlich den engen, dunklen Fußgängertunnel, der unter der Autobahn durchführte. Wieder im Freien fühlten wir uns wie Entdeckungsreisende, die unbekanntes Land betraten. Es begann ein Gewerbegebiet mit Zweckbauten und Fabrikhallen, das sich endlos hinzog. Wir hatten Wochenende, und die Straßen waren wie ausgestorben. Es ging über alte, verwitterte Schienenstränge, vorbei an Autofriedhöfen, wo die Wracks einsam vor sich hin rosteten. Unser Ziel wollte und wollte nicht auftauchen. Missmut machte sich breit; die ersten Leute schlugen vor, das Ganze sein zu lassen und lieber umzukehren, damit man nicht zu spät zum Abendbrot käme.

Irgendwann wurden Wohnblöcke sichtbar, graue, eintönige Altbauten. Der Anblick dieser massigen, hoch aufragenden Kästen hatte etwas Einschüchterndes, Bedrohliches. Je näher wir herankamen, desto verwahrloster wirkten die Häuser. Man sah an vielen Stellen den Putz von den Wänden abblättern, oft waren die Fensterscheiben blind von Schmutz. Viele Ausländer sollten in diesem Viertel wohnen, dazu Punks und allerhand wildes Volk. Eine fremde Welt, die wir bislang höchstens aus den Fernsehnachrichten kannten, wenn von Demonstrationen berichtet wurde. Dort wollten wir uns also hineinwagen...

Die ersten Straßenzüge begannen, und ihr Anblick widersprach all meinen Erwartungen: nirgends herumliegender Hausrat oder Sperrmüll, keine Horden von Punkern und anderen Wilden, die über uns herfielen. Stattdessen, soweit das Auge reichte, Kinder. Kinder, die mitten auf der Straße Fußball spielten. Kinder, die auf einem Spielplatz unbeaufsichtigt im Sand buddelten. Kinder, die in Horden um die Ecken rannten. Herumtollende, schreiende, tobende Kinder. Sie achteten nicht darauf, ob ihr Ball gegen parkende Autos sprang, es interessierte sie nicht, dass sie sich beim Spielen schmutzig machten. Die Straßen waren regelrecht okkupiert von ihnen. Durch ihre schiere Masse hatten die Kinder den Autoverkehr einfach verdrängt.

Ab und zu öffneten sich in den grauen Mietskasernen an verschiedenen Stellen Fenster. Frauenköpfe, oft mit einem Tuch bedeckt, schoben sich heraus, warfen prüfende Blicke nach unten und verschwanden wieder, wenn alles in Ordnung war. Manchmal wurden Anordnungen erteilt, Streithähne mit knappen Worten getrennt oder weinende Kinder getröstet. Nie kam wegen ein paar Tränen eine Mutter von oben auf die Straße herab. Zur Not schritten ein paar Jugendliche ein, die auf einem nahe gelegenen Schulgelände Basketball spielten, wahrscheinlich die großen Geschwister. Ansonsten blieben all diese Kinder sich selbst überlassen. Niemand schrieb ihnen vor, was sie als nächstes machen sollten, niemand kontrollierte und lenkte ihr Tun.

In mir war plötzlich alle Angst wie fortgeblasen. Ich stand nur noch da und betrachtete fasziniert das bunte Treiben. Fast hätte ich vergessen, mit den anderen zurückzufahren.

Noch Tage später ließ mich der Anblick nicht los. Ich entschloss mich, die Fahrt auf eigene Faust zu wiederholen. Als ich zum zweiten Mal den Tunnel durchquerte, diesmal ganz auf mich gestellt, war mir wieder sehr beklommen zumute. Aber jetzt kannte ich die Strecke und wusste, dass sie lang war.

Die Jahn-Siedlung war wieder so faszinierend, so aufregend wie beim ersten Mal. Von nun an fuhr ich regelmäßig hin, postierte mich mit meinem Rad an einem unauffälligen Fleck und beobachtete heimlich das Geschehen in den Straßen.

Mitzumachen traute ich mich nicht. Insgeheim spürte ich, dass dies nicht meine Welt war. Die grauen, verwahrlosten Mietskasernen erdrückten mich, und die Gerüche nach Essen und überquellenden Müllcontainern, die an warmen Tagen durch die Straßenschluchten zogen, stießen mich ab. Auch fand ich die vielen dunkelhaarigen, oft in fremden Sprachen miteinander redenden Kinder unheimlich. Dennoch stellte sich durch mein Zuschauen ein unbestimmtes Gefühl von Zugehörigkeit und Teilhabe ein. Das genügte mir.

Irgendwann wurden die Kinder natürlich auf den stillen, brav angezogenen Jungen aufmerksam, der da mit seinem Rad hinter den Büschen stand und guckte. Einige kamen angelaufen und riefen mir irgendwas zu. Zuerst dachte ich, sie wollten mich auffordern, mitzumachen, nicht abseits zu stehen. Dann verstand ich ihre Worte: „Hau ab“, „was willst du hier“, „Scheiß Streber“. Inzwischen waren auch die großen Jungen vom Sportplatz angelaufenen gekommen. Einer baute sich vor mir auf, packte mich an den Jackenaufschlägen und zog mich ohne jegliche Anstrengung in die Höhe. Das Rad fiel mit lautem Scheppern zu Boden. Der Typ fragte in die Menge, ob er mir den Pimmel abschneiden sollte. Ich sah den Bartflaum unter seiner Nase, die Goldkette um den Hals. Alles johlte und schrie zustimmend. „Du hast gehört“, sagte er zu mir, „Strafe muss sein.“ Mit einer Hand zerrte er mich in ein nahes Gebüsch. In der anderen hielt er plötzlich ein geöffnetes Klappmesser. „Pimmel ab und du darfst weiterfahren.“ grinste er. Beim Anblick des Messers bekam ich Panik und fing an zu heulen. Das Geschrei der Kinder verstärkte sich noch. „Pimmel ab, Pimmel ab!“ grölten sie.

Da ließ mich der Anführer los. „Also gut“, sagte er, „ich hab heute meinen großzügigen Tag. Aber du haust jetzt ab und lässt dich hier nie wieder blicken, verstanden?“ Ich nickte eilig und stolperte zu meinem Fahrrad. Von hinten hagelte es Tritte in den Hintern.

Als ich losfahren wollte, waren die Räder blockiert. Erst jetzt sah ich, dass im Vorderrad eine Acht war. Alles lachte. Ich stieg ab, hängte mir das Rad über die Schulter. Ein Bein wurde mir gestellt, ich schlug samt Fahrrad zu Boden, zerriss mir dabei die Jacke. Das Lachen schwoll an, wurde zu hysterischem Kreischen. Ich rappelte mich hoch, schulterte erneut das Rad und rannte weiter. Diesmal ließen sie mich fort. Aber noch lange verfolgten sie mich, ertönte das höhnische Geschrei in meinem Rücken.

Endlich erreichte ich den Tunnel. Auf der anderen Seite war außer dem Autobahnlärm nichts mehr zu hören. Ich hatte ihr Gebiet offenbar verlassen.

Mit der Erleichterung kam die Scham. Ein Gefühl tiefer Erniedrigung durchflutete mich. Zugleich ärgerte ich mich über meine eigene Dummheit. Obwohl ich insgeheim das Unheil längst hatte kommen sehen, war ich immer wieder in die Jahn-Siedlung gefahren. Ich hatte dieser seltsamen Sehnsucht nachgegeben, die doch nicht gestillt werden konnte. Und nun war es passiert.

Trotz aller Verletztheit und Wut war da auch Traurigkeit. Ich durfte nicht mehr wiederkommen. Die schöne, unheimliche Welt der Jahn-Siedlung war mir von nun an verschlossen.

Ob es wegen des kaputten Rades und der zerrissenen Jacke zu Hause Ärger gab, weiß ich heute nicht mehr.


***


Die S-Bahn hält am Botanischen Garten. Viele Wanderer und Radfahrer verlassen hier den Zug, aber genauso viele steigen neu ein. Es wird kaum leerer, auch die Zahl der abgestellten Räder in den Gängen nimmt nicht ab.

Weiter geht es. Die Anwesen entlang der Strecke werden immer ausgedehnter, scheinen langsam zu einem einzigen, großen Park zusammenzuwachsen. Und die Häuser darin ähneln zusehends verwunschenen Schlössern...


***


Als es bei uns mit den Mädchen losging, entwickelte ich zum ersten Mal etwas wie Ehrgeiz. Ich hatte bereits viel gehört über „Liebe“, im Fernsehen, von Bekannten oder sonst woher. Dieses Thema, das spürte ich, ging mich an, hier konnte ich möglicherweise das finden, wonach ich schon die ganze Zeit suchte. Und so biss ich die Zähne zusammen, überwand meine Schüchternheit und suchte mir Freundinnen, meistens aus der Schule. Sobald die Formalitäten geregelt waren, wir also miteinander „gingen“, probierte ich hastig alles aus, wovon meine diversen Quellen berichteten. Es war, als habe ein Supermarkt der Lüste seine Pforten geöffnet, in dem man alles bekommen konnte.

Aber schon bald merkte ich, dass es nicht funktionierte. Irgendetwas fehlte – wie immer. Ich tauschte mich mit den anderen Jungen aus, lautstark und zugleich verkrampft, und erfuhr indirekt, dass es ihnen nicht viel anders ging als mir. Vielleicht ist die Richtige noch nicht dabei gewesen, dachte ich, vielleicht muss ich nur warten, bis es endlich klappt. Ich wartete vergeblich. Liebe – etwas so Großes, Intensives verirrte sich nicht in unsere durchorganisierte, sterile Umgebung.

Schließlich hatte ich genug mit dem anderen Geschlecht herumexperimentiert, um mir sicher zu sein, dass es die Mühe nicht wert war. Ich schloss dieses Kapitel – endgültig, wie mir damals schien.

Auch wenn ich es nicht zugeben wollte: Ich war enttäuscht. Wieder hatte ich mich von einer Sehnsucht leiten lassen, die im wahren Leben nicht gestillt werden konnte. Wieder war ich einer Illusion aufgesessen.

Von nun an wollte ich nur noch meine eigenen Wege gehen. Ich begann mich dem strikten Wochenschema zu entziehen, nahm nicht mehr an den Schul-AG's teil, hing Lateinstunde und Musikunterricht an den Nagel. All diese Dinge hatten nie zu mir gehört, waren von Leuten arrangiert worden, die mich nach irgendeinem Bild formen wollten. Einem Bild, dem ich nicht entsprach, das musste die Welt einfach akzeptieren.

Stattdessen unternahm ich jetzt oft Radfahrten und Wanderungen ins Umland. Je besser ich die Gegend kennen lernte, desto länger dehnte ich meine Touren aus. Bald entdeckte ich den Elm, ein nahe gelegenes Landschaftsschutzgebiet, in dem das Grün endlos ist. Ich stellte das Rad ab und wanderte durch die Einsamkeit. Es konnte Stunden dauern, ehe ich einer Menschenseele begegnete. Die Natur zog mich magisch an. In ihrer Stille und Tiefe glaubte ich mich selbst wiederzuerkennen.

Zum achtzehnten Geburtstag bekam ich ein Auto und fuhr nun bis in den Harz und den Solling. Ich verbrachte ganze Wochenenden dort, wanderte tagsüber und schlug zur Nacht irgendwo in der Wildnis mein Zelt auf. Manchmal nahm ich nicht mal Proviant mit, ernährte mich von dem, was ich fand: Pilze, Nüsse, Beeren. Es war ein Spiel, eine Mischung aus Askese und Survivaltraining. Würde ich mit dem auskommen, was die Natur mir gab? Würde ich standhaft bleiben, wenn sie mich leer ausgehen ließ, den Hunger aushalten und nicht geschlagen nach Hause zurückfahren? Meistens schaffte ich es. Und fühlte mich hinterher wieder ein Stück abgehärteter, gestählter.

 

***


Das Grün entlang der Bahnstrecke zieht sich langsam zurück. Die Dichte der Häuser nimmt wieder zu, ein neuer Ort entsteht. „Nächster Halt Blankenese“, ertönt es aus den Lautsprechern. Von rechts sieht man ein einzelnes Gleis heranlaufen, das sich mit unserer Strecke zu einem breiten Schienenstrang vereinigt. Der Zug rumpelt über ein Geflecht aus Weichen, schließlich fahren wir in eine Station ein, die der Bahnhof einer Kleinstadt sein könnte. Es gibt mehrere Bahnsteige, die von jagdgrün gestrichenen, hölzernen Baldachins geschützt werden. Weiter hinten spannt sich eine gläserne Fußgängerbrücke über die Gleise, die zu einem stattlichen, wenn auch renovierungsbedürftigen Bahnhofsgebäude führt.

Die meisten Fahrgäste steigen aus, plötzlich ist es sehr still. Sonnenschein fällt auf die leeren Sitzbänke. Durch die offenen Fensterklappen hört man Fetzen eines Gesprächs, das auf dem anderen Bahnsteig geführt wird. Seltsam losgelöst irrlichtern die Stimmen durch die drückende Mittagsluft.

Auf der Rückbank des Wagens sitzt noch immer diese blonde Frau, die in Altona zu uns umgestiegen ist. Eigentlich ist nichts besonderes an ihr. Sie dürfte ungefähr in meinem Alter sein, ist weder auffallend attraktiv noch ungewöhnlich gekleidet. Aber wieso muss ich andauernd hinsehen? Liegt es am hellblonden Haar, das in der Sonne leuchtet? Oder ist es eher wegen des großen, schwarzen Hundes, der zu ihren Füßen ausgestreckt liegt und von weitem an einen flauschigen Bettvorleger erinnert?

Die Frau dreht sich zum Fenster, schaut hinaus. Im Halbprofil bekommt ihr Gesicht einen Zug ins Melancholische, die Augen wirken auf einmal traurig. Dieser Eindruck ist es, der mich gefangen nimmt. Ich kenne diesen Gesichtsausdruck, diese großen, traurigen Augen...

Sabine – ist sie es? Kann das sein? Ich wage kaum, es zu glauben.

Ich überwinde meine Scheu, sehe genauer hin. Falls sie es wirklich ist, hat sie sich sehr verändert. Sie ist um einiges voller geworden. Um die Augen und Mundwinkel zeichnen sich deutliche Faltenmuster ab. Schließlich ihre Wangen – früher waren sie glatt und frisch, jetzt wirken sie aufgeschwemmt und gerötet, wie bei jemandem, der gern zu tief ins Glas schaut. Mit der Sabine meiner Erinnerung hat die alternde Frau dort hinten nicht viel gemein.

Aber die Augen, sie sind dieselben geblieben, sie haben allem Verfall getrotzt.

Es ist Sabine, jetzt bin ich mir sicher. In meinem Kopf arbeitet plötzlich alles durcheinander. Unglaublich, dass wir uns hier begegnen, in dieser Stadt, diesem Zug! Ich muss sie ansprechen, muss die Gelegenheit unbedingt nutzen. Welche Möglichkeiten sich durch diesen unwahrscheinlichen Zufall eröffnen! Wie viele abgerissene Fäden, die ich vielleicht wieder aufnehmen könnte...

Es ist nicht zu fassen!

 

***

 

Der Zug hat die Richtung gewechselt, ich fahre jetzt rückwärts. Erneut rumpeln wir über das Weichengeflecht. Es geht in eine langgezogene Kurve, wir gewinnen wir an Fahrt. Blankenese schnurrt in sich zusammen und verschwindet.

Am Ende des Wagens sitzt nach wie vor diese fremde, vertraute Frau. Ich habe Sabine noch immer nicht angesprochen. Soll ich es wirklich tun? Würde sie sich überhaupt an mich erinnern? Es ist alles so lange her...

Nichts deutet darauf hin, dass sie meine Gegenwart bemerkt. Sie schaut beharrlich aus dem Fenster, mit ihrem typischen, melancholischen Gesichtsausdruck, den traurigen Augen. Diese Augen – selbst aus der Entfernung kann ich ihre blaugraue Farbe erkennen. Wie sehr sie denen ihrer Schwester ähneln, Katja...

Endlich gebe ich meinen inneren Widerstand auf. Katja – sie war es, an die ich sofort denken musste, als ich Sabine erkannte. Auf einmal stehen längst verblasste Bilder wieder in aller Deutlichkeit vor mir: der historische Saal voller festlich gekleideter Menschen, die prachtvollen Kronleuchter, unter denen Katja mit sich selbst tanzt, traumversunken, ganz der Musik hingegeben...

Der große Abschiedsball, am Ende des Studiums. Danach liefen die Kommilitonen in Windeseile auseinander... nichts ist geblieben aus dieser Zeit, rein gar nichts, auch keine Erinnerungen. Wenigstens dachte ich das bis eben. Aber plötzlich scheint es, als habe sich alles gestern zugetragen und nicht vor zehn Jahren.

Wo Katja jetzt wohl sein mag? Ob ihre Träume sich erfüllt haben? Ob ihr Leben sich so entwickelt hat, wie sie es sich damals wünschte? Da vorn sitzt die Person, die mir alle Fragen beantworten könnte. Ich muss nur hingehen und sie ansprechen. Das Leben kann so einfach sein.

Vor den Fenstern des Zuges wachsen jetzt Hochhäuser wie riesige Steinfinger aus dem Boden. Eine Betonwüste breitet sich ringsumher aus, eine Plattenbausiedlung. Plötzlich ist die Stadt wieder da. Man hatte nach den üppigen Stadtgärten vor Blankenese schon nicht mehr daran gedacht. Wir fahren in die nächste Station ein, wieder verlässt ein Schwung Fahrgäste den Zug. Einsteigen tut niemand. Offenbar wohnen hier keine Leute, die Ausflüge ins Grüne unternehmen.

Das Leben mag einfach sein. Aber es ist auch ernüchternd, wie man an der rapide gealterten Sabine sehen kann. Was, wenn Katja sich ebenso sehr zum Nachteil verändert hat? Will ich mir meine Erinnerungen zerstören lassen durch eine möglicherweise graue, trostlose Realität?

Außerdem: Ist es klug, die alten Geschichten wieder aufwärmen, nach allem, was damals passiert ist? Sollte man die Vergangenheit nicht besser ruhen lassen?

Die Siedlung endet, das Grün fängt wieder an. Aber nun sind es keine Parklandschaften mehr, sondern die ersten Felder und Koppeln, die an uns vorüberziehen. Neben den Schienen verläuft ein Weg, auf dem viele Radfahrer unterwegs sind. Wir passieren eine hölzerne Scheune, vor der man Kinder in Reitkleidung auf Pferden sieht. Wieder fahren wir in einen Bahnhof ein. „Sülldorf“ heißt er. Bis Wedel dürfte es jetzt nicht mehr weit sein.

Nun kommt Leben in das schwarze Bündel zu Sabines Füßen. Der Hund springt auf, zieht Sabine an der Leine hinter sich her in Richtung Tür. Dann sind die beiden verschwunden.

Das war's. Chance vertan. Ich wollte es ja so.

Außer mir ist niemand mehr im Wagen. Still tröpfeln die Minuten dahin. Warum fahren wir nicht weiter? Dann fällt mir ein, dass seit Blankenese die Strecke eingleisig ist. Vielleicht müssen wir einen entgegenkommenden Zug durchlassen.

Ich blicke zur Tür. Noch steht sie offen, noch kann ich hinaus....

Gegenüber fährt nun tatsächlich ein Zug ein. Kaum hat er gehalten, ertönt bei uns das Signal zum Schließen der Türen. Im letzten Augenblick springe ich auf und laufe zum Ausgang. Die Türflügel gleiten bereits nach innen, aber ich kann noch hindurchschlüpfen. Draußen trifft mich gleißendes Sonnenlicht. Die Luft ist erfüllt vom Lärm der abfahrenden Züge, dem Kreischen der Räder, dem Rumpeln der Wagen.

Dann ist es wieder still. Der Bahnsteig liegt leer und verwaist da. In der aufsteigenden Hitze zittert die Luft. Irgendwo dudelt ein Radio vor sich hin. Es riecht nach frischem Heu und ganz schwach nach Rauch.

Ich blicke über den Bahnsteig, erkenne an seinem Ende ein kleines Stationsgebäude. Gerade öffnen sich dort die Schranken, die Traube der Wartenden beginnt sich aufzulösen. Als ich das Gebäude erreiche, ist niemand mehr da. Hastig durchquere ich eine enge, dämmrige Passage, komme auf eine dicht befahrene Straße. Ich blicke mich suchend um und entdecke Sabine auf der anderen Seite. Sie geht mit ihrem Hund gerade an einem Eiscafé vorüber, vor dem sich eine Warteschlange gebildet hat. Die beiden verschwinden um eine Hausecke.

Endlich springt die Fußgängerampel auf Grün. Ich laufe über die Straße, vorbei an dem Café, achte nicht auf die verwunderten Blicke der Wartenden, haste um die Ecke.

Da ist sie. Nur ein kurzes Stück vor mir geht sie durch eine schmale Vorortstrasse, neben sich den den Hund an der Leine. Erleichtert atme ich aus. Jetzt werde ich sie nicht mehr verlieren.

Die beiden biegen nach links ab, steuern auf einen kleinen, unbenutzten Parklatz zu. Dahinter beginnt dichter Wald. Sabine beugt sich hinab und lässt den Hund von der Leine. Sofort rennt er los und verschwindet zwischen den Bäumen. Sie geht langsam hinterher. Bald ist auch sie nicht mehr zu sehen.

Ich warte noch einige Sekunden und erreiche dann selbst den Parkplatz. Seitlich des Pfades, der in den Wald führt, registriere ich an einem Baum ein kleines, mit weißer Farbe aufgemaltes Kreuz.

Bislang hätte ich nicht sagen können, was ich hier eigentlich treibe. Ich war nur darauf bedacht, Sabine nicht aus den Augen zu verlieren. Als ich aber dieses Kreuz sehe, formt sich in meinem Kopf verschwommen eine Idee...

Im Wald ist es herbstlich kühl und feucht. Mächtige Laubbäume wechseln sich mit hochgewachsenen Fichten ab. Der Boden ist mit einer Schicht aus Tannennadeln und Blättern bedeckt, die unter jedem meiner Schritte nachfedert. Vereinzelt hört man das Zwitschern von Vögeln, ansonsten ist es still.

Ich entdecke ein neues, weißes Kreuz an einem der Stämme. Wie ein Zeichen, eine Spur. Natürlich, es ist die Markierung eines Wanderweges! Bereits früher, auf meinen Expeditionen in den Elm oder Harz, sind mir solche Wegweiser aufgefallen. Sie symbolisierten für mich immer die vorgezeichneten, festgelegten Routen. Gerade die wollte ich verlassen und mich ins Dunkel des Waldes hineinwagen, wo niemand einem den Weg vorgab, wo man auf sich selbst gestellt war, seine Angst vor dem Unbekannten überwinden musste.

Aber heute wird es anders sein. Mein bislang nur schemenhafter Einfall hat sich konkretisiert. Ich bin ein Spaziergänger, ein Wanderer, der das schöne Herbstwetter nutzt und diesen Weg erkundet. Mehr nicht.

Weiter geht es, jetzt durch jungen, lichten Birkenwald. Die schlanken, weißen Stämme werden von der schräg einfallenden Herbstsonne beleuchtet. Am Boden liegt erstes Laub. Bald taucht ein gutes Stück vor mir wieder die Gestalt einer Frau auf. Der große, schwarze Hund an ihrer Seite hält von Zeit zu Zeit inne, reckt den Kopf in die Höhe, schnüffelt kurz und läuft dann weiter.


***


Wann habe ich Sabine und Katja zum ersten Mal getroffen? Ich weiß nur noch, dass es ziemlich bald nach Studienbeginn gewesen sein muss.

Oder vielmehr: nach meinem Studienortwechsel. Zunächst hatte ich mich ja, nach Abitur und Zivildienst, zu Hause an der Technischen Universität eingeschrieben. Für Diplominformatik – aus Mangel an besseren Ideen.

Ich hatte in dieser Zeit einfach kein Interesse an all den Veränderungen, die anstanden, den Lebensentscheidungen, die gefällt werden mussten. Zukunftsplanung und Berufswahl – diese Dinge nervten, ich wollte mich nicht damit befassen. Auch den überfälligen Auszug von zu Hause schob ich vor mir her. Meinen Zivildienst absolvierte ich bei der örtlichen Arbeiterwohlfahrt, wo ich Essen auf Rädern ausfuhr. In dieser Situation bedeutete eine Einschreibung an der heimatlichen TU größtmögliche Kontinuität.

Aber ich sollte schnell merken, dass ich einer Illusion aufgesessen war. Von Beginn an hatte ich das Gefühl, in der Anonymität der Massen-Uni, wie es die TU nun mal war, regelrecht zu verschwinden. In den Vorlesungen saß man mit 200 Leuten und mehr, auch die Übungsgruppen waren hoffnungslos überlaufen. Kontakt zum Lehrpersonal gab es so gut wie keinen. Endlos irrte ich durch die riesigen Betongebäude, schleppte mich von Lehrveranstaltung zu Lehrveranstaltung, und hatte doch keine Hoffnung, je irgendwo anzukommen, weder räumlich noch in Sachen Studienziel. Mit jedem Tag wuchs das Gefühl der Resignation. So konnte es nicht weitergehen. Ich musste mich nach Alternativen umsehen.

In dieser Zeit suchten die Hochschulen der neuen Bundesländer gerade händeringend nach Studenten, auch im Westen. Sie hofierten einen geradezu mit ihren Infoständen, den bunten Broschüren auf Mensa-Tischen und an Schwarzen Brettern. Sogar Zeitungsanzeigen schalteten sie. Gleichzeitig waren die West-Hochschulen froh über jeden Schulabgänger, der sich nicht bei ihnen einschrieb. Was gab es da noch zu zögern und zu zaudern?

Aber war nicht allein schon der Gedanke, in den Osten zu gehen, absurd, komplett verrückt? Wer wollte da schon hin, nach allem, was man hörte über die Provinzialität der dortigen Menschen, ihren Hass auf alles Fremde und über Horden von Nazis, denen die Straße überlassen war? „Wilder Osten“ – diese Bezeichnung schien mir passend. Würde man dort überhaupt mit heiler Haut wieder rauskommen?

Ich beschloss, mir selbst ein Bild zu machen. Fuhr nach Leipzig, Dresden und in einige kleinere Städte mit Hochschulen. Es gab wirklich überall das berüchtigte Grau. Die Bausubstanz zeigte Stadien des Verfalls, die ich bis dahin nur aus Filmen über die Kriegs- und Nachkriegszeit kannte. Und häufig sah ich Gruppen kahlgeschorener Gestalten in Bomberjacke und Springerstiefeln auf öffentlichen Plätzen herumsitzen, in Fußgängerzonen, auf Bahnhöfen. Es schien alles so schlimm zu sein wie anfangs befürchtet.

Hätte es nicht zugleich diese aberwitzige Bautätigkeit gegeben. Es wurde renoviert, restauriert, ausgebessert, neu errichtet was das Zeug hielt. Der Osten schien sich vorgenommen zu haben, der bessere Westen zu werden. Eine derartige Dynamik hatte ich noch nicht erlebt in meiner fest gefügten, erstarrten, müde gewordenen Welt.

Wessis schienen an den Hochschulen der neuen Länder Mangelware zu sein, trotz der massiven Werbekampagnen. Mir lief kein einziger über den Weg. Im Gegenteil: Fast alle Studenten kamen aus der näheren Umgebung. Und so hörte ich auf meiner zweiwöchigen Rundreise fast ausschließlich sächsische und thüringische Idiome. Am Schluss hatte ich mich daran gewöhnt – ein kleines Wunder, wenn man bedachte, wie schauderhaft alle Ost-Dialekte vorher für mich geklungen hatten.

Jetzt fand ich es gemütlich, es passte zu den Menschen. Man kam leicht mit ihnen in Kontakt, in den Hochschulen, den Geschäften, beim Zugfahren. Ihre Gutmütigkeit, die manchmal ein bisschen naiv wirkte, war mir ungemein sympathisch. Nirgends erlebte ich Hochnäsigkeit oder Arroganz. Ich fühlte mich, als sei ich vierzig Jahre oder mehr in die Vergangenheit zurückversetzt worden.

Was mich am Osten regelrecht begeisterte, waren die Studienbedingungen. Sie „gut“ zu nennen wäre eine glatte Untertreibung gewesen. Bezeichnend war eine Szene, die ich in Jena erlebt hatte. Ich wollte mir dort die Vorlesung „Einführung in die Informatik“ anschauen. Vorlesungen, so kannte ich es von zu Hause, waren in der Regel Massenveranstaltungen. Niemand merkte es, wenn man sich dazusetzte, niemand fragte nach.

Ich fand den Weg problemlos, öffnete die Tür – und betrat einen Raum von der Größe eines Klassenzimmers, in dem eine Handvoll Menschen zusammensaß. Alle schauten mich an, offenbar in der Annahme, ich hätte mich verirrt. Stammelnd trug ich mein Anliegen vor und wurde prompt eingeladen, mich dazuzusetzen.

Es handelte sich tatsächlich um die fragliche Vorlesung. Wo an der heimatlichen TU Heerscharen von Studis den größten Hörsaal füllten und zum Teil auf Treppen und Fensterbänken saßen, fanden sich hier ganze sechs Leute – der Dozent eingeschlossen. Letzterer war sich auch nicht zu schade, mit den Studis die kürzlich geschriebene Klausur zu besprechen und die Aufgaben persönlich zu erläutern.

Und so wie hier schien es überall zu sein. Lehrveranstaltungen von – vorsichtig gesprochen – übersichtlicher Größe, modernste Ausstattungen und neueste Technik in den Seminarräumen und Hörsälen, frisch renovierte oder gleich ganz neu errichtete Gebäude. Oft sah man keinen Menschen auf den Fluren, es herrschte gespenstische Stille. Nur zum Ende der Lehrveranstaltungen öffneten sich überall die Türen, und meist kleinere Gruppen von Studenten traten aus den Räumen. Das Ganze erinnerte eher an Schule als an Uni.

Bald gab ich meine letzten Vorbehalte auf und beschloss, in den Osten zu gehen. Vielleicht konnte ich hier doch noch etwas aus meinem Leben machen. Nach Hause zurückgekehrt, verschickte ich sofort Bewerbungen an fast alle Hochschulen, die ich mir angeschaut hatte. Ich hatte mir in den Immatrikulationsbüros die nötigen Formulare gleich mitgenommen, sodass ich nun keine Zeit mehr verlor.

Ob Leipzig, Dresden oder Chemnitz – ich bekam überall nur Zusagen. Meine Wahl fiel schließlich auf Wirtschaftsinformatik an der Fachhochschule in Mittenwerda, einem sächsischen Provinznest. Den entscheidenden Ausschlag gab das Beratungsgespräch, das ich dort mit Professor Spengler geführt hatte.

Er besetzte den Lehrstuhl „Mathematik für Informatiker“. Als ich in sein Büro trat, brütete er gerade über irgendeinem Problem. Ein vor ihm liegendes Blatt Papier war mit Formeln und Figuren bedeckt. Sein Haar war zerzaust, in der Rechten hielt er eine fast abgebrannte Zigarette. Seine kauzige, humorvolle Art war mir auf Anhieb sympathisch. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, als würde sich durch ihn in meinem Leben einiges ändern.

Auch eine Unterkunft fand ich rasch, im Studentenwohnheim am Schwanenpark. Dort kostete das Zimmer lächerliche 100 D-Mark monatlich.

Ich packte zwei Reisetaschen, setzte mich in mein Auto und zog um.

 

***


Kaum zu glauben, dass dieser Wald noch Hamburger Stadtgebiet sein soll! Es ist so einsam, dass ich mich genauso gut im Harz oder Elm befinden könnte, auf einer jener ausgedehnten Wochenendtouren, wie ich sie früher so oft unternommen habe.

Sabine habe ich längst wieder aus den Augen verloren. Aber sie ist bestimmt noch vor mir und folgt den weißen Kreuzen am Wegrand. Wie ich.


***

 

Das erste Semester in Mittenwerda begann. Tatsächlich erinnerte hier vieles an die Schule: der feste Stundenplan, die strikte Einordnung der Studenten in Jahrgänge, die in der Regel bis zum Diplom zusammenblieben, und schließlich das Selbstverständnis der Dozenten, nicht in erster Linie gute Fachwissenschaftler sein zu wollen, sondern auch und vor allem Wissensvermittler, Lehrer. Sie waren aufrichtig bemüht, in uns ein grundlegendes Verständnis für ihr Fachgebiet zu erzeugen. Welch ein Unterschied zu meiner alten Hochschule, wo die Profs oft nur pflichtschuldig und gelangweilt von der Kanzel herab doziert hatten!

Der Studienbetrieb wurde in den unterschiedlichsten Formen abgehalten, von denen Vorlesungen und Seminare bloß zwei waren. Oft arbeitete man im Rahmen von Projekten an Themen, zudem es gab zahlreiche Praktika. Diese fanden anfangs noch innerhalb der Fachhochschule statt, sollten später aber in Unternehmen oder Behörden durchgeführt werden.

In Mittenwerda interessierten sich die Dozenten zum ersten Mal dafür, was man an Grundlagen für das Studium mitbrachte. Es zeigte sich, dass mir viele der anfänglichen Studieninhalte schon von meiner Beschäftigung mit dem Computer her bekannt waren. So hatte ich mir neben der Programmierung, ohne es zu ahnen, bereits wichtiges Basiswissen für Logistik und Geschäftsprozessmanagement erarbeitet.

In diesem Klima blühte ich auf. Zum ersten Mal brachte mir Lernen Spaß. Plötzlich gehörte ich zu den Guten, denjenigen, die es „drauf“ hatten. Ich konnte es kaum fassen.

Das Herumirren in labyrinthischen Betonbunkern, das für mich bislang den Uni-Alltag symbolisiert hatte, gehörte nun der Vergangenheit an. Die Seminargebäude waren klein und übersichtlich und lagen nie weit voneinander entfernt.

Auch zum Wohnheim war es nur ein Katzensprung. Wir Informatiker brauchten aus unserem Fachbereichsgebäude sogar nur über den „Schulhof“ zu gehen und hatten schon das Quarrée erreicht, das eine Handvoll dreistöckiger Wohnheimgebäude bildeten. Zurzeit wurden die Häuser renoviert, eines nach dem anderen. Mein Haus war das letzte, das sich noch in seinem alten, hinfälligen Zustand befand, daher die günstige Miete. Es war interessant zu beobachten, wie unterschiedlich die Ossis und die wenigen Wessis, die außer mir hier wohnten, mit dieser Situation umgingen. Die Wessis hatten an allem etwas auszusetzen. Sie fluchten über die einfach verglasten, zugigen Fenster, monierten die verkalkten Klos und Waschbecken, störten sich an den rostigen Armaturen, den altersschwachen Möbeln und Gerätschaften, der maroden Hauselektrik. Die Studenten aus dem Osten hingegen fügten sich ohne großes Murren in die gegebenen Umstände.

Und seltsam: Auch mir, der ich doch in einigem Wohlstand aufgewachsen war, genügte völlig, was ich an meinem Zimmer hatte. Das Baufällige, Improvisierte des Wohnheims lag mir irgendwie. Ich fand es geradezu befreiend, endlich der Rundum-Sorglos-Situation entronnen zu sein, die ich von klein auf gewohnt gewesen war.

Überhaupt schien mir der Osten viel näher und vertrauter zu sein, als es meine Heimat je gewesen war. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich in Mittenwerda zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Interesse am Gemeinschaftsleben entwickelte. Gleich in den ersten Tagen kam ich mit Christoph und Rico ins Gespräch, meinen unmittelbaren Zimmernachbarn zur Rechten und Linken. Christoph hielt ich zuerst für einen Dozenten. Er war jenseits der 30 und hatte sich erst jetzt zu einem Sozialpädagogik-Studium entschlossen. Seine gemütliche Art erinnerte ein wenig an Professor Spengler. Wie ich stammte er aus dem Westen. Bei Rico hingegen verriet schon der Name den Ossi. Er war Fußballer und hatte angeblich ernsthafte Aussichten auf eine Profikarriere. Aber zunächst wollte er ein „ordentliches Studium hinlegen“, wie er in breitestem Sächsisch erläuterte. Er war für BWL eingeschrieben.

Nach und nach entstand ein kleiner Kreis von Leuten. Auch René gesellte sich in dieser Zeit zu uns. Er studierte E-Technik und kam aus der näheren Umgebung von Mittenwerda. Für mich war er ein typischer Vertreter des grundsoliden, herzensehrlichen Ossis ohne Allüren und Eitelkeiten.

Was unternahm man in einer Kleinstadt wie Mittenwerda? Es gab hier fast keine Kneipen und Clubs, abends waren die Straßen der Innenstadt wie ausgestorben. Studentisches Flair suchte man vergebens.

Man traf sich im Wohnheim, zum Quatschen und gemeinsamen Kochen. Oder man ging zusammen in die „Filmbühne“, Mittenwerdas einziges Kino. Einige Kilometer außerhalb fand sich der „Grüne Hund“, ein alter Dorfkrug, den ein mutiger Gastronom nach der Wende in eine Musikkneipe verwandelt hatte. Anfangs war dort wohl so gut wie nichts los gewesen. Aber nach und nach hatte sich die Existenz des Grünen Hundes herumgesprochen, immer mehr Leute waren gekommen. Inzwischen lief es bestens. Der große, fast unverändert belassene Gastraum war fast jeden Abend voll, nur saßen dort jetzt keine Landwirte mehr, sondern fast ausschließlich junge Leute aus der Region. In einer angrenzenden, ehemaligen Scheune wurde am Wochenende getanzt, auch fanden hier zahlreiche Konzerte statt.

Einen bedeutenden Nachteil hatte der Grüne Hund: Man kam nur schlecht hin. Zu Fuß war es zu weit, eine Busverbindung gab es nicht. Wenn man mit dem Auto fuhr, konnte man nichts trinken. Also nahmen wir meistens das Rad.

Und schließlich gab es in Mittenwerda die Gartenstadt. Sie lag nicht weit entfernt von Hochschule und Wohnheim, in Richtung des Bahnhofs, und bildete eine kleine Welt für sich. Die niedrigen Reihenhausblöcke des Viertels waren zur Jahrhundertwende für die Bediensteten der Hochschule errichtet worden. Aber schon zu DDR-Zeiten war ein Großteil der Bausubstanz verfallen. Nach der Wende hatten viele der Alteinwohner das Weite gesucht, und Studenten waren an ihre Stelle getreten, Künstler und „zwielichtiges Volk“, wie es hieß. Jetzt gab es hier überwiegend WG's, Kommunen und andere, zum Teil recht exotische Wohnprojekte.

Die Gartenstadt war wie geschaffen für die zahlreichen Feten und Picknicks, die zu Semesterbeginn stattfanden. Jedes Haus hatte eine geräumige Terrasse, die sich zum Grillen anbot. Hinzu kam das großartige Wetter. Bis in den Oktober hinein blieb es warm, auch abends konnte man sich lange im Freien aufhalten. Und so schien eine Gartenparty auf die nächste zu folgen. Als es schließlich zu kalt wurde, verlagerte sich das Geschehen kurzerhand in die geräumigen Wohnzimmer. Gerade wir Neuen waren wie berauscht von der ungewohnten Freiheit, die der Auszug von zu Hause mit sich gebracht hatte. Alles schien zu passen, fügte sich harmonisch und leicht ineinander. Wie im Traum.

Es muss in dieser Zeit gewesen sein, da ich Katja und Sabine kennenlernte. War es bei einem der besagten Grillfeste? Oder war es auf der Einweihungsparty, die die beiden selbst gaben? Denn sie wohnten zusammen in einer der Gartenstadt-WG's. Von Beginn an hatten mich die ungleichen Schwestern interessiert.

Wie ich gehörten sie zur seltenen Spezies der Wessis, die sich zum Studieren in den „Wilden Osten“ aufgemacht hatten. Sie kamen von der Küste, aus einer kleinen Stadt an der Ostsee in der Nähe von Kiel. Sabine studierte bereits seit einem Jahr in Mittenwerda. Zu Beginn des Wintersemesters war das Zimmer ihrer Mitbewohnerin freigeworden, und kurzentschlossen war Katja, die sich ebenfalls für Mittenwerda entschieden hatte, dort eingezogen.

Katja wirkte auf den ersten Blick unauffällig und zurückhaltend, fast schüchtern. Als ich noch nicht viel über sie wusste, hatte ich das Gefühl, man müsse ihr jede Schwierigkeit abnehmen, sie vor des Lebens Unbilden beschützen. Aber rasch stellte sie sich als sehr resolut und zupackend heraus. Vor dem Studium hatte sie einige Zeit in einer Autowerkstatt gejobbt und wollte das in den Semesterferien weiterhin tun, um sich einige Extragroschen zu verdienen. Sie studierte BWL, und anfangs hatten wir viele gemeinsame Lehrveranstaltungen.

Sabine war ein ganz anderer Typ: extrovertiert, laut, immer vorn dabei. Vehement vertrat sie ihre Ansichten und setzte sich meistens durch. Man hatte Respekt vor ihr. Die Zeit des Studiums wollte sie voll auskosten, sie wollte feiern, Spaß haben. Aber auch das politische Engagement kam nicht zu kurz. Die Region um Mittenwerda galt als rechtsradikale Hochburg, und Sabine war Aktivistin in der lokalen Antifa. Als eine der wenigen in meinem Bekanntenkreis setzte sie sich mit diesem Thema auseinander, nahm an Kundgebungen teil, veranstaltete Infoabende. Ich bewunderte insgeheim ihren Mut. Gleichzeitig fand ich sie manchmal anstrengend. Wer sich nicht eindeutig links äußerte, war bei ihr schnell unten durch. Ihr Studienfach nannte sich „Soziale Arbeit“, was mir nicht viel sagte.

Trotz aller äußerlichen Unterschiede – die zurückhaltende Katja, unscheinbar gekleidet, mit dunkelblondem, unauffälligem Haar, neben der lauten, offensiven Sabine mit ihren bunten, alternativen Klamotten und dem strohgelb leuchtenden Haarschopf – erkannte man bei genauerem Hinsehen die Verwandtschaft zwischen den beiden. Sie hatten die gleichen blaugrauen Augen, die ihr Gegenüber neugierig und zugleich scheu musterten. Und beider Schwestern Gesichtsausdruck bekam im Halbprofil diesen Hauch ins Melancholische, fast Traurige. Wenn man eine der beiden länger betrachtete, vergaß man fast, wen man vor sich hatte: Katja oder Sabine.

Die Geschichte kann weitergelesen werden unter https://old.bookrix.de/_ebook-uwe-fuchs-der-naechste-winter/

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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