Nina Lochmann

Blaue Zuckerwatte

 

Die blaue Zuckerwatte mochte er am liebsten. Er genoss es, wenn die beleibte Verkäuferin den Holzstab einen Augenblick länger in der Zuckermasse drehte, als es üblich war. Er mochte ihr strahlendes Lächeln, welches sie ihm dann, beim Überreichen der Leckerei, schenkte. Damals war er ein Kind gewesen. Jetzt schmunzelte er, als er am Zuckerwatten-Stand vorbei kam. Ein junger Japaner verkaufte gerade einem kleinen Mädchen eine rosa Zuckerwatte, die größer war als ihr Kopf. Die Frau gab es nicht mehr. Zumindest nicht hier. Es war Jahre her gewesen, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, hier auf der jährlichen Kirmes. aber jedes Jahr, wenn er an dem Platz vorbei lief, an dem früher ihr Stand gewesen war, dachte er an sie. Und lächelte.

 

Er war schon weiter gelaufen, als er doch noch einmal wendete und bei dem freundlich lächelnden Japaner eine blaue Zuckerwatte bestellte. Auf die alten Zeiten. Die blaue Köstlichkeit in der Hand, ging er über den Dorfplatz und sah sich die Buden und Karuselle an. Überall hörte er das hysterische Kreischen Achterbahnfahrender Mädchen und auch Kinderlachen drang von allen Seiten an sein Ohr. Eigentlich mochte er diese ganzen Fahrgeräte nicht. Früher war er ab und zu in der Achterbahn mitgefahren, wovon ihm jedoch meistens nur übel wurde. Und in das Kettenkarusell traute er sich wegen seiner abstrusen Höhenangst nicht hinein. Seine Kumpels verbrachten die meiste Zeit der einen Jahrmarktswoche beim Boxauto. Auch diesem konnte er jedoch nichts abgewinnen, da er von den heftigen Stößen in die Bandscheiben Rückenschmerzen bekam. Also ließ er es bleiben. Er stand sowieso am liebsten daneben und beobachtete. Er beobachtete seine Kumpels beim Flirten, die Mädchen aus seiner Schule, wie sie miteinander tuschelten und zwischendurch immer wieder Blicke zu den Jungs warfen, die sie gerade scharf fanden. Er beobachtete die Kinder, die sich einen Luftballon in Tiergestalt kauften und diejenigen, deren Ballon über den Platz davon flog, weil sie ihn nicht genügend festgebunden hatten.

 

Er hatte den Stand mit den Boxautos fast erreicht. Die Discomusik drang dröhnend in sein Ohr und vermischte sich mit der vielen anderen Musik, die von überall her zu kommen schien. Der Atem stockte ihm und das Herz schlug ihm bis zur Brust, als er sie erblickte. Am Stand der Geisterbahn stand sie und verkaufte Fahrtickets. Sie rief die näher stehenden Menschen zu sich und lächelte dabei das süßeste Lächeln, das er jemals gesehen hatte. Ihr braunes Haar wehte im Wind, den der drei Meter hohe Frankenstein aus Pappe verursachte, er hatte noch nie in seinem Leben schöneres Haar gesehen. Sie scherzte mit einem jungen Pärchen, welches sich gerade in einen frei gewordenen Wagen setzte. Sie sah einfach bezaubernd aus in der ausgeblichenen Jeans und dem grauen Shirt. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sie mit offenem Mund ansah, die Zuckerwatte zum Abbeißen bereit in Höhe des Gesichtes haltend. Doch auf einmal sah sie zu ihm hinüber und er wurde sich diesen Bildes bewusst. Schnell senkte er die Süßigkeit und wünschte, er hätte lieber eine Flasche Cola in der Hand, als das dämliche Kinderzeug. Doch das Mädchen lächelte. Sie winkte ihm zu und rief ihren Spruch, etwas lauter als vorhin. "Kommt alle her, die ihr euch gruseln wollt, wie ihr es nie vorher im Leben habt. Nur zwei Euro und ihr erlebt den absoluten Schauderspaß." Er stand wie angewurzelt, die blaue Zuckermasse lief ihm langsam und klebrig die Kehle hinab. Als sie gerade den Blick von ihm wenden wollte, kramte er hastig in seiner Hosentasche nach Kleingeld. "Einmal?" fragte das Mädchen, als er mit der Geldmünze vor ihr stand und kein Wort über die Lippen brachte. Er nickte nur und wurde sodann von weiteren Anstehenden in das Innere der Geisterbahn geleitet.

 

Als er im Wagen saß und langsam durch die dunklen Gänge fuhr, versuchte er, seine Gedanken zu ordnen. Die Fahrt würde in wenigen Minuten zu Ende sein- und dann? Er hatte noch nie ein Mädchen angesprochen und ihm zitterten allein beim Gedanken daran die Knie. Schon wurde es wieder hell um ihn und er bekam es mit der Angst zu tun. Er dachte noch nach, als er das Mädchen wieder sah. Sie sah zu ihm hinüber und lächelte, als er keine Anstalten machte, den Wagen zu verlassen, kam sie zu ihm hinüber. "Noch ne Runde?" fragte sie, er nickte nur und kramte nach einem weiteren Geldstück. Ein Stein fiel ihm vom Herzen, als der Wagen seinen Weg fortsetzte. Gerettet! Für weitere drei Minuten. Er versuchte, zu denken, überlegte, was er als nächstes tun soll. Diesmal schien die Fahrt noch schneller zu vergehen, oder seine Gedanken noch langsamer zu routieren, jedenfalls wurde es schon bald wieder hell um ihn.

 

Als er sich umsah, entdeckte er sie nicht. Er erschrak. Hastig blickte er sich um und wollte gerade aus dem Wagen springen. Da spürte er hinter sich einen leichten Luftstoß. Als er sich umsah, saß das Mädchen neben ihm im Wagen. "Möchtest du heute wieder nur den ganzen Abend fahren, oder möchtest du vielleicht mit mir eine Cola trinken gehen?" fragte sie und lächelte ihn an. Er lächelte zurück. Auf einmal wusste er, dass sich die sechsundvierzig Euro, die er während der letzten drei Tage ins Geisterbahn fahren investiert hatte, gelohnt hatten.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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