Klaus-Peter Behrens

Artefaktmagie, Teil 13

 

 

Aufbruch ins Unbekannte

Der Spuk war natürlich nicht vorbei. Als Michael am nächstem Morgen erwachte, fiel sein erster Blick auf das erloschene Feuer. Leider hatte er nicht geträumt. Er befand sich immer noch an einem Ort, den es gar nicht geben dürfte.
Konnte ein Tag schlechter anfangen?
Mühsam erhob er sich und streckte seine von der Nacht auf dem harten Boden steif gewordenen Glieder. Ein Bett war eindeutig bequemer. Sein Blick fiel auf Glyfara, die bereits am Fluß stand und nachdenklich die aufgehende Sonne betrachtete. Michael zog kurz seine verstaubten Pfadfinderkenntnisse zu Rate und orientierte sich. Wenn die Sonne hier genauso wie zu Hause im Osten aufging, dann verlief der Fluß relativ genau Richtung Norden.
„Wir müssen dem Flußlauf stromabwärts folgen“, bestätigte Glyfara seine Vermutung, als er sich zu ihr gesellte.
„Dann sollten wir uns ein Boot mieten“, schlug Michael zynisch vor. Soweit er das nunmehr bei Tage beurteilen konnte, waren sie in einer menschenleeren, völlig abgelegenen Gegend gelandet.
„Ich hoffe, du bist gut zu Fuß“, erwiderte die Elbin humorlos, worauf Michaels Blick unwillkürlich zu seinen Füßen wanderte. Wenigstens trug er bequeme Turnschuhe, Jeans und eine regenfeste Jacke. Es hätte schlimmer kommen können.
„Schlechter als du mit Sicherheit nicht“, erwiderte er gereizt. Die Aussicht auf einen tagelangen Fußmarsch durch die Wildnis entsprach nicht wirklich seiner Vorstellung einer optimalen Freizeitgestaltung. Lustlos folgte er der Elbin, die sich bereits einen Weg durch das Gestrüpp am Flussufer bahnte. Bis zum Mittag marschierten sie schweigend durch die Wildnis, ohne daß sie auch nur die Spur einer menschlichen Besiedlung sichteten. Was hätte Michael jetzt für den Anblick einer öffentlichen Telefonzelle gegeben? Ein paar Mal hatte er versucht, mit Glyfara ein Gespräch anzufangen, doch die Elbin hatte entweder gar nicht oder nur einsilbig geantwortet, und so hatte Michael es irgendwann aufgegeben.
Am Nachmittag ging das urwaldähnliche Gestrüpp endlich in einen Wald über, der sich nun am Flußlauf entlang wand. Auch hier galt es, etliche Hindernisse zu überwinden, gleichwohl kamen sie nun deutlich schneller voran. Gegen Abend errichteten sie ein kleines Nachtlager. Glyfara hatte tagsüber ein paar Wurzeln und Beeren gesammelt, die sie nun schweigend verspeisten. Diese schmeckten zwar grauenvoll, Michael war jedoch zu müde, um sich darüber zu beschweren, und außerdem war er hungrig. Verstohlen beobachtete er beim Essen die Elbin, um aus Ihrer Mimik abzulesen, wie es um sie bestellt war, aber ihr Gesicht blieb verschlossen. Lediglich die gefurchte Stirn und die Unruhe ließen das Schlimmste befürchten. Vermutlich stand ihnen ein wochenlanger Marsch bevor.
Die nächsten drei Tage bestätigten seine Befürchtung. Mittlerweile hatte auch die Elbin einräumen müssen, daß sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie weit es bis zu ihrem Ziel sein könnte. Dieser Teil des Landes war ihr völlig unbekannt. Nicht einmal etwas gehört hatte sie hierüber. Das war nicht gerade ermutigend. Hinzukam die ständige Angst, der Wandler könnte ihre Spur aufgenommen haben.
Am Nachmittag des vierten Tages trafen die Gefährten endlich auf die ersten Anzeichen einer Zivilisation. Der Wald war hier an vielen Stellen gerodet. Offenkundig hatte man die abgeholzten Bäume über den Fluß zur weiteren Verwendung abtransportiert. Dann gab es in der Nähe vermutlich eine Siedlung. Das war endlich mal etwas Erfreuliches. Erleichtert atmete Michael bei der Aussicht auf, zur Abwechslung wieder einmal in einem normalen Bett zu schlafen und ein warmes Essen zu genießen. Er war überzeugt davon, in seinem restlichen Leben keine Wurzeln oder Beeren mehr hinunter zu bekommen.
„Sei nicht zu euphorisch“, bremste Glyfara seine Begeisterung. „Wir wissen nichts über diese Gegend. Ab jetzt müssen wir uns noch vorsichtiger bewegen und auf alles gefaßt sein. Leute, die in einer so abgelegenen Gegend wohnen, haben möglicherweise einen sehr guten Grund dafür.“
Michael winkte ab.
„Ja, vermutlich können sie die Grundstückspreise in der Großstadt nicht mehr bezahlen oder wollen einfach ihre Ruhe haben. Vielleicht sind es aber auch ein paar Aussteiger, die hier eine alternative WG gegründet haben.“
Glyfara sah ihn humorlos an.
„Ich hatte eher an Flusspiraten, Zigeuner oder Sklavenhändler gedacht. In dieser Welt leben mehr Halsabschneider, als du dir vorstellen kannst. Möglicherweise arbeiten einige sogar mit unseren Feinden zusammen. Und vergiß nie, für solche Elemente zählt ein Leben nicht viel.“
Das ernüchterte Michael ein wenig. Trotzdem hielt er die Befürchtung der Elbin für übertrieben, wenngleich er zugeben mußte, daß ein wenig Vorsicht noch keinem geschadet hatte.
„Wie du meinst“, gab er nach. „Schleichen wir uns also vorsichtig an.“
„Ich denke, wir machen besser einen weiten Bogen um jede Zivilisation, bis wir in wirklich belebte Regionen vorstoßen. Hier fallen wir zu sehr auf. Der Wandler hätte dann keine Schwierigkeit, unserer Spur zu folgen.“
„Und wir werden immer noch nicht wissen, wo wir sind“, hielt Michael dagegen. „Ich glaube, du bist zu ängstlich. Wir haben seit Tagen keine Anzeichen des Wandlers oder seiner Kreaturen mehr gesehen. Also, wo ist das Problem? Vielleicht ergibt sich sogar die Möglichkeit, mit einem Boot in den Norden mitzufahren.“
„Ich habe hier bis jetzt noch kein Boot gesehen.“
„Vielleicht fahren sie nur flußabwärts.“
Glyfara dachte nach. Die Möglichkeit, mit einem Boot vorwärts zu kommen, war verlockend, zumal die Bruderschaft dringend auf ihre Rückkehr wartete. Vielleicht sollte sie angesichts der Umstände ein Risiko eingehen.
„Gut, wir sehen uns einmal an, was uns dort erwartet. Vielleicht gibt es ja auch gar keine Siedlung mehr. Aber wenn ich es für zu riskant halte, suchen wir uns einen anderen Weg.“
Michael grinste.
„OK“, sagte er.
Vorsichtig schlichen sie daraufhin weiter durch den Wald, der nun nach und nach immer lichter wurde. Glyfara sah sich immer wieder sichernd um, aber außer dem Zirpen einiger einsamer Grillen und dem Flattern aufgescheuchter Vögel, die sich lautstark über die Eindringlinge beschwerten, blieb es ruhig. Ein wenig zu ruhig für Glyfaras Geschmack. Irgend etwas stimmte hier nicht.  
Einige Zeit später stießen sie auf die erste Behausung. Es handelte sich um eine aus Holz gefertigte Hütte, die auf kurzen Pfählen stand und sich geradewegs voraus am Flussufer befand. Sie war gesäumt von einer wackeligen Veranda zu deren Füßen ein verwahrloster Garten lag. Michael hatte noch nie eine trostlosere Behausung gesehen. Während seine Hoffnung auf ein bequemes Bett gerade rapide sank, musterte Glyfara aus der Deckung einiger Sträucher heraus mißtrauisch die Umgebung. Michael fand das ein wenig übertrieben.
„Kein Grund zur Sorge, von allen Hütten, die ich in meinem Leben gesehen habe, macht diese den verlassensten Eindruck“, bemerkte er zynisch.
„Vielleicht, doch der erste Eindruck kann täuschen. Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll.“
Glyfara wirkte unentschlossen, Michael nicht.
„Mach was du willst, aber ich gehe jetzt dort hin und sehe mir die Sache an. Vielleicht enthält die Hütte ja wider Erwarten irgend etwas Brauchbares.“
Entschlossen trat er aus der Deckung heraus und marschierte auf die Hütte zu. Glyfara zögerte einen Moment, dann folgte sie Michael verärgert. Es paßte ihr nicht, daß der Junge einfach jede Vorsicht mißachtete. Als jedoch außer einem aufgeschreckten Rebhuhn, das sich protestierend in die Luft erhob, niemand von ihrer Anwesenheit Notiz nahm, mußte Glyfara sich eingestehen, daß sie es vielleicht ein wenig mit der Vorsicht übertrieben hatte. Inzwischen war Michael im Inneren der Hütte verschwunden, die aus der Nähe betrachtet noch trostloser wirkte. Glyfara bezweifelte, daß er dort etwas Brauchbares finden würde, trotzdem konnte sie ihre Neugierde nicht zügeln.
„Und, hast du was entdeckt?“, rief sie, während sie die Rückseite der Hütte in Augenschein nahm. Ihre Hoffnung, hier ein Boot vorzufinden, wurde enttäuscht.
„Nichts“, erklang es dumpf aus der Hütte. Das morsche Holz knarrte so laut unter Michaels Füßen, daß die Elbin es sogar draußen vernehmen konnte. Enttäuscht verließ er die Hütte und sah sich nach Glyfara um, die gerade die wackelige Veranda entlang kam.
„Wenn das restliche Dorf auch so aussieht, soweit es überhaupt ein Dorf geben sollte, dann gute Nacht“, seufzte er.
„Das steht zu vermuten. Trotzdem sollten wir vorsichtig sein. Die Tatsache, daß diese Hütte aufgegeben wurde muß nicht bedeuten, daß diejenigen, die hier gelebt haben, auch die Gegend verlassen haben. Besser wir entdecken sie zuerst, als sie uns.“
„Worauf warten wir dann noch? Hier gibt’s jedenfalls nichts zu holen.“
Von der Hütte führte ein fast zugewachsener Pfad am Ufer entlang. Neugierig folgten die Gefährten seinem Verlauf. Nach gut zweihundert Meter wurde der Pfad breiter und führte nun im fünfundvierzig Grad Winkel vom Fluß weg. Nach weiteren hundert Metern bedeutete die Elbin Michael anzuhalten.
„Wir sind da“, flüsterte sie. „Siehst du die Hütten?“
Angestrengt spähte Michael nach vorne. Es dauerte eine Weile, bis er circa fünfzig Meter voraus die Hütten, die rechts und links des Weges so in die Vegetation eingepaßt worden waren, daß sie fast unsichtbar waren, bemerkte.
„Nicht schlecht“, sagte er anerkennend. „Soviel zum Thema des unentdeckten Anschleichens. Wenn dort jemand lebt, hat er uns längst gesehen.“
Glyfara nickte widerwillig.
„Wer so baut, freut sich bestimmt nicht über unangekündigten Besuch.“
„Zumindest hat sich bis jetzt noch keiner beschwert.“
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch gingen sie weiter. Glyfara hatte vorsorglich ihr Schwert gezogen. Aber mit jedem Schritt, dem sie sich dem Dorf näherten wurde deutlicher, daß sie hier nichts zu befürchten hatten. Das Dorf war aufgegeben worden. Mißmutig sah Michael sich um. Die meisten der Hütten waren in einem erbärmlichen Zustand. Einige waren offenkundig abgebrannt, denn nur ein paar verkohlte Reste zeugten davon, daß hier einst Gebäude gestanden hatten. Andere sahen so aus, als ob ein Fußtritt gegen die Wand genügen würde, um sie zum Einsturz zu bringen.
„Nach einem Robinson-Club sieht das hier nicht gerade aus.“ Niedergeschlagen ließ Michael sich auf den ausgetretenen Stufen einer vermoderten Veranda nieder. „Und was machen wir jetzt?“
„Wir durchsuchen hier alles systematisch. Vielleicht finden wir Werkzeug, um uns ein Boot oder Floss zu bauen.“
„Was zu Essen wäre mir lieber.“
Glyfara zog die Stirn mißbilligend kraus, während sie nachdenklich die teilweise stark zerstörten Häuser betrachtete.
„Irgend etwas stimmt hier nicht. Warum sollten in einer so feuchten Region wie dieser gleich mehrere Hütten abbrennen.“
„Vermutlich hat jemand seine Streichhölzer liegen lassen.“
„Mußt du eigentlich immer alles ins Lächerliche ziehen?“
„Ist so meine Art, mit derart bescheidenen Situationen umzugehen, oder glaubst du vielleicht, ich bin glücklich über diesen ganzen Mist hier?“, fauchte Michael zurück. „Schließlich bin ich nur deinetwegen in dieser miesen Lage.“ Wütend verschränkte er die Arme vor der Brust.
„Schon gut, beruhige dich, aber wenn du mich fragst, dann gab es hier einen heftigen Kampf, und den haben die Bewohner hier offensichtlich nicht gewonnen.“
Das dämpfte Michaels Streitlust ein wenig.
„Kampf“, ächzte er und sah sich beunruhigt um. Plötzlich war der Wald um sie herum nicht bloß eine Ansammlung dichter Pflanzen, sondern ein Ort, in dem sich alles mögliche Bedrohliche verbergen könnte, nur darauf lauernd, sie umzubringen. „Das gefällt mit aber gar nicht.“
„Mir auch nicht, also laß uns zusehen, daß wir uns hier nicht zu lange aufhalten.“
Die Durchsuchung des Dorfes förderte zwar weder Werkzeug noch etwas zu Essen zutage, dafür entdeckte Michael aber am Ende einen ausgetretenen Pfad, der zum Fluß hinunter führte ein altersschwaches Fischerboot, das an einem wackeligen Holzpier festgebunden war und träge im Wasser vor sich hin dümpelte. Es war circa fünf Meter lang und stank erbärmlich nach Fisch. Auf dem Boden befanden sich zwei Ruder und in der Mitte ragten die Überreste eines Mastes in die Höhe. Ein Segel war nicht vorhanden. Unter normalen Umständen hätte Michael keinen Fuß in diesen Kahn gesetzt. Angesichts ihrer Situation erschien ihm das lecke Gefährt jedoch wie Luxusdampfer. Das mühsame Wandern hatte fürs Erste ein Ende. Auch Glyfara war erfreut, als sie sich Michaels Entdeckung musterte.
„Das ist eine echte Verbesserung“, räumte sie ein. „Morgen machen wir uns damit auf den Weg.“
„Morgen?“
Glyfara wies zum Himmel, an dem die Sonne schon ziemlich tief stand. Es war nicht zu übersehen, daß in Kürze die Abenddämmerung hereinbrechen würde.
„Im Dunklen ist es zu riskant, um auf einem unbekannten Fluß zu fahren.“
„Aber in einem verlassenen Dorf zu übernachten, das möglicherweise von irgendwelchen finsteren Gestalten heimgesucht wird, nicht“, erwiderte Michael sarkastisch. Glyfara schmunzelte.
„Ich dachte, ich sei zu ängstlich. Waren das nicht deine Worte?“
„Die Situation hat sich geändert. Ich konnte ja nicht wissen, daß dieses Dorf überfallen wurde, und ich verspüre kein Verlangen, die Angreifer kennenzulernen.“
„Wirst du schon nicht. Die Kampfspuren sind schon älter. Wer immer dieses Dorf überfallen hat, hält sich mit Sicherheit nicht mehr in dieser Gegend auf. Ich denke, für heute Nacht sind wir hier sicherer, als auf einem unbekannten Fluß. Ich jedenfalls habe keine Lust, im Dunklen in irgendwelche Stromschnellen zu geraten. Abgesehen davon, habe ich eine Hütte entdeckt, die noch ganz passabel ist. Sie enthält sogar einen Kamin und zwei Pritschen zum Schlafen.“
Michael zögerte immer noch.
„Einen fetten Vogel zum Braten habe ich bei der Gelegenheit auch noch geschossen“, lockte Glyfara. Das gab den Ausschlag. Die Aussicht, endlich einmal wieder etwas anderes, als Beeren, Pilze und Kräuter zu verspeisen, war einfach zu verlockend.
„Na schön, aber morgen brechen wir auf. Ich will endlich nach Hause.“

Die Hütte war in der Tat noch in einem relativ gutem Zustand. Glyfara entfachte in schon gewohnter Weise in dem aus groben Steinen errichteten Kamin ein Feuer, über dem sie geschickt den zubereiteten Vogel briet. Michael lief bei dem Geruch das Wasser im Mund zusammen, und für einen Augenblick vergaß er sogar die ganzen Probleme um sie herum.
„Du scheinst eine gute Köchin zu sein“, bemerkte er anerkennend.
„Ich bin in vielen Dingen gut“, gab sie mehrdeutig zurück.
Zu Michaels Entzücken schmeckte der Vogel noch besser als er roch. Wehmütig betrachtete er die abgenagten Knochen zu seinen Füßen, nachdem sie ihr Abendessen beendet hatten.
„Daran könnte ich mich gewöhnen“, lobte er Glyfaras Kochkünste. Die nahm das Lob mit einem Nicken zur Kenntnis.
„Ich bin auch kein Freund von Beeren und Pilzen“, räumte sie lächelnd ein. Inzwischen war das Feuer herunter gebrannt, und die restliche Glut warf ein anheimelndes Licht, das Michael zum Gähnen veranlaßte.
„Nach einem guten Mahl soll man ruhen.“ Müde streckte er sich auf der Holzpritsche aus, die mit altem, trockenen Stroh gefüllt war und einer Vielzahl von Insekten einen Lebensraum bot, doch das war ihm egal. In den letzten Tagen hatte er ausschließlich auf dem nackten Boden geschlafen, so daß ihm diese Liegestätte wie ein Himmelbett vorkam. Müde schloß er die Augen. „Vielleicht bin ich bald ja schon wieder zu Hause“, war das Letzte, was er murmelte, bevor er einschlief.

Ein Rütteln an der Schulter riß Michael mitten in der Nacht aus dem Schlaf. Gerade hatte er von seiner Playstation geträumt, um nun abrupt mit der Realität konfrontiert zu werden. Das Feuer war inzwischen erloschen, und nur das blasse Mondlicht erhellte ein wenig das Innere der Hütte. Verblüfft realisierte Michael, daß sich auf seinem Mund eine feste Hand befand.
„Hmmmmmm“, beschwerte er sich, worauf ihn eine bekannte Stimme „Sei still“ ins Ohr zischte. Michael entspannte sich ein wenig und nickte zum Zeichen, daß er verstanden habe. Vorsichtig hob die Elbin daraufhin die Hand von seinem Mund.
„Was ist los?“, hauchte er.
„Draußen ist jemand“, erwiderte die Elbin ebenso leise. Der Tonfall, in dem sie das sagte, ließ Michael schaudern.
„Na großartig“, murmelte er, während er der Elbin leise zum Fenster folgte. „Soviel zum Thema: Wir haben heute Nacht hier nichts zu befürchten.“
Mit klopfenden Herzen spähte er durch das Fenster. Im fahlen Licht des Mondes wirkten die verlassenen Hütten unheimlich. Michael erwartete förmlich, eine ganze Ansammlung von Gespenstern über den Pfad ziehen zu sehen, um ihn zu holen. Aber da war nichts, außer dem ewigen Zirpen der Grillen.
„Du siehst schon Gespenster.“
„Das will ich nicht hoffen“, erwiderte die Elbin humorlos. In diesem Moment huschte ein großer Schatten über den Pfad. Erschrocken hielt Michael die Luft an.
„Was war das?“
„Das werden wir bald erfahren. Unser Besucher ist auf dem Weg hierher.“
Entschlossen griff Glyfara nach ihrem Bogen und legte einen Pfeil auf die Sehne.
„Wer auch immer dort draußen ist, wird sich bald wünschen, hier nie auf gekreuzt zu sein.“
„Woher willst du wissen, ob er uns feindlich gesonnen ist?“
„In meiner Welt stellt man solche Fragen immer erst hinterher. Außerdem, wer sich nachts an ein Lager anschleicht, hat selten vor, nur einen schönen Tag zu wünschen.“
Dagegen konnte Michael schlecht etwas einwenden. Trotzdem widerstrebte ihm Glyfaras Haltung.
„Dort drüben.“
Die Worte der Elbin sorgten dafür, daß Michaels Adrenalinspiegel sprunghaft anstieg. Unbestreitbar bewegte sich etwas in dem Gebüsch links des Weges, keine zwanzig Meter von ihrer Position entfernt, etwas Großes, und es kam stetig näher. Glyfara spannte ihren Bogen und zielte sorgfältig. Durch ihr unfreiwilliges Bad im Fluß waren ihr die meisten Pfeile abhanden gekommen, und so konnte sie es sich nicht leisten, daneben zu schießen. Besorgt warf Michael einen Blick auf den Köcher, der neben der Elbin an der Wand lehnte. Nur zwei Pfeile ragten aus ihm heraus. Das war nicht gerade ermutigend.
„Vielleicht solltest du noch ein wenig warten“, schlug er zögernd vor. In diesem Moment trat der Unbekannte erneut auf den Weg, und Michael realisierte erleichtert, daß es zumindest kein Dämon war. Das Wesen, daß dort im blassen Licht des Mondes auf dem Pfad stand und unentschlossen zu ihrer Hütte herüber sah, stand auf vier Pfoten. Soweit Michael das beurteilen konnte, sah es aus wie eine Mischung aus einem Braunbären und einem Wolf in der Größe eines kräftigen Schäferhundes. Neben Michael stieß Glyfara verächtlich die Luft aus.
„Bloß ein Wühler, und deshalb habe ich fast einen Pfeil verschwendet.“
Der Pfeil verschwand wieder im Köcher. Michaels Blick irrte zwischen der gelangweilten Elbin und dem Wesen auf dem Weg hin und her. Es sah irgendwie niedlich aus, mit seinen plüschigen Ohren, den braunen Augen und den großen Tatzen, andererseits hatte es aber auch eine relativ große Schnauze, und die spitzen Zähne, die im Mondlicht tückisch blitzten, ließen vermuten, daß dieses Wesen nicht ganz so harmlos war, wie es aussah.
„Was ist ein Wühler?“
„Ein Tier, das hauptsächlich nur in südlichen Regionen vorkommt, was dafür spricht, daß wir ziemlich weit von unserem Ziel entfernt sind. Es ist selten. Ich selbst kenne es nur von Zeichnungen her. Man behauptet, daß einige von ihnen sogar sprechen könnten, zumindest einige wenige Worte.“ Glyfara zuckte mit den Achseln. „Aber das ist wahrscheinlich bloß eine dieser vielen Sagen.“
„Und warum heißt es so?“
„Weil es unheimlich verfressen ist und nicht eher Ruhe gibt, bis es alles durchwühlt und etwas Eßbares gefunden hat. Ein Wühler soll eine ziemliche Plage, aber ansonsten harmlos sein. Vermutlich hat ihn der Geruch unseres Bratens angelockt. Am besten verscheuchen wir ihn.“
„Warte“, hielt Michael die Elbin zurück. Eilig begab er sich zu den Resten ihrer Mahlzeit vom Vorabend und hob die Knochen auf.
„Ich denke, du machst einen Fehler“, warnte Glyfara.
„Ich hatte einen Hund. Zumindest für eine kurze Zeit. Ich weiß, was ich tue.“
Mit Schwung warf er die Knochen durch das Fenster auf den Pfad. Zögernd, mit erhobener Nase, näherte sich der Wühler. Dann siegte die Gier, und er stürzte sich förmlich auf die Reste.
„Scheint hungrig zu sein“, stellte Michael fest.
„Als nächstes frißt er dich“, ertönte es aus dem anderen Ende der Hütte, wo sich Glyfara wieder zum Schlafen niedergelegt hatte.
„Hey, ich denke, die sind harmlos.“
„Vielleicht bildet der eine Ausnahme. Wer kann das schon wissen? Wie schon gesagt, ich habe keinerlei Erfahrung mit den Biestern.“
Michael schluckte. Zu seiner Beruhigung war der Wühler inzwischen wieder verschwunden und so sehr Michael auch nach ihm Ausschau hielt, er konnte kein Lebenszeichen mehr entdecken.
„Undankbarer Kerl“, murmelte er, bevor er zum zweiten Mal in dieser Nacht in den Schlaf fiel, allerdings nicht ohne zuvor die wackelige Eingangstür mit einem Balken notdürftig zu sichern und die wurmstichigen Holzläden zu schließen.

 

 

 

 

Und schon bald gibt es mehr vom Wühler.....

 



 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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