Walter saß in der Gefängnisbibliothek und las. Er versuchte es zumindest. Nicht, dass er nicht lesen könnte. Analphabet war er nicht, und damit unterschied er sich von vielen hier. Doch seine Gedanken konnten sich nicht auf die Buchstaben konzentrieren, die vor ihm in Sätzen aufgereiht waren wie Perlen in einer Kette.
Er machte diese Arbeit hier gerne. Was sollte er sonst auch tun ? Einen Schulabschluss nachmachen, wie alle in diesem Trakt ? Er hatte alle Abschlüsse, er hatte auch Diplome, Doktorgrade, Auszeichnungen und auch Verdienstorden. Bevor er hier reinkam, wurde sein IQ gemessen. Das hatte der Gefängnispsychologe empfohlen. 130, soviel wie Albert Einstein. Einstein hatte aber nie im Knast gesessen, er wohl.
Er wusste wie er hier rauskam. Schließlich hatte er in seiner Laufbahn mehr Baupläne von Gefängnissen entworfen als Leonardo da Vinci Gemälde.
Er wußte genau, wo welche Heizungsschächte waren, welche Kanalisationsrohre breit genug zu sein schienen, um ihm, einem doch recht kleinen Winzling, die Flucht zu ermöglichen.
Auch die Wachpläne kannte er in- und auswendig. Die hatte er nirgendwo gelesen, er hatte sich die Zeiten für jeden Trakt einfach gemerkt. Er hatte als Mitarbeiter der Bibliothek überall zu tun. Und so hätte er längst einen detaillierten Plan ausarbeiten können, der die einzelnen Schichtdienste und Wachübergaben beinhalteten. Er tat es nicht.
Hätte eine Flucht etwas geändert ? Sicher nicht. Seinen Geschäftspartner, den Ingenieur Dr. Simmers , würde das auch nicht wieder lebendig werden lassen. Und wie sollte er beruflich wieder Fuss fassen ? Soviele Aufträge wie damals würde er nie wieder kriegen. Ohne Kontakte war es nie gegangen. Doch die hatten sie gehabt und nicht zu knapp. Mit der halben Stadtverwaltung waren sie per Du gewesen, einige Auserwählte bekamen „um die Freundschaft zu erhalten“ regelmäßige Überweisungen. Natürlich war alles aufgeflogen. Die Presse war neugierig, und sein Geschäftspartner konnte die Klappe nicht halten. Und eines Tages war er tot. Schnell klickten die Handschellen und er war dran. Alles schien zu passen, niemand war da, der ihn entlasten konnte oder wollte.
Doch er war es nicht gewesen. Das alles hatte er immer und immer wieder beteuert. Doch wer glaubte ihm schon ? Niemand, natürlich nicht.
Walter packte die Bücher zusammen und stapelte sie auf den Holzwagen. Alles Steuerratgeber. Wozu brauchten Gefängnisinsassen Steuerratgeber ? Ne, Knackis brauchten sowas nicht, aber Gefängnisdirektoren. Dr. Schlegel hatte welche geordert und er würde sie ihm bringen.
Die langen, dunklen Gänge schienen nicht enden zu wollen. Seine Fußschritte hallten durch das einsame Gebäude. Die Wachleute schlossen ihm bereitwillig alle Türen auf. Sie nickten ihm zu. Er nickte kurz zurück und ging weiter. Immer weiter. Bis er in das Vorzimmer von Dr. Schlegel kam.
„Die Steuerratgeber für Herrn Dr. Schlegel !“ sagte er der Sekretärin. Die schaute auf, musterte ihn und zeigte dann mit der Hand auf das Büro: „Ist in Ordnung. Sie können sie hineinbringen!“
Genau das tat er. Er klopfte an die Tür, Dr. Schlegel saß am Schreibtisch. „Ach, die Schmöker ! Kommen Sie herein !“ lachte er laut und winkte ihn zu sich herein. „Sind eine ganze Menge, oder?“
Sein jovialer Ton, sein dreckiges Gelächter, all das hatte sich seit damals nicht verändert. Nein, Dr. Schlegel konnte ihn nicht wiedererkennen. Er hatte sich immer nur mit seinem Geschäftspartner getroffen, mit Walter hatte er nur telefonischen Kontakt gehalten. Und bereitwillig die Überweisungen eingestrichen. Und er war es, der hier wirklich hingehörte, denn seine Tat war ungesühnt geblieben. Walter hatte seine fette Limousine wegfahren sehen. Als er dann das gemeinsame Büro aufgeschlossen hatte, entdeckte er Simmers blutüberströmt. Walter schüttelte ihn, wollte es nicht wahrhaben, was hier passiert sein musste. Natürlich dachte er nicht darüber nach, dass er so überall seine Fingerabdrücke und DNA-Spuren verstreute. Und eh er sich versah, waren auch schon Polizeibeamte vor Ort. Irgendjemand musste sie gerufen haben. Irgendjemand ? Schlegel natürlich ! Ein intelligenter Plan. Aber nicht so intelligent wie er, der Prof. Dr. Architekt und Mathematiker im Knast. Denn jetzt war er hier und hatte den Kerl vor sich. Und der würde jetzt für die Tat büssen. Und wenn er hierfür nochmal verurteilt würde ? Kein Problem, den Fluchtweg hatte er soeben ja schonmal abgelaufen...
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.10.2009.
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