Jürgen Berndt-Lüders

Das mysteriöse Casting

 

„Ich singe jetzt einen aktuellen Rhythm-and-blues-Titel“, kündigte Bonita aufgeregt an.

 

„Nee, nicht sowas Modernes“, tadelte Charlotte heftig. „Das sind Eintagsfliegen, die morgen vergessen sind. Sing mal „Summertime“ aus Porgy und Bess.“

 

Die Scheinwerfer blendeten Boni Mainard. Sie fühlte sich ausgeliefert und konnte Charlottes Gesicht kaum erkennen.

 

Der Pianist begann. Boni setzte richtig ein und war mit sich zufrieden. Sechzehn Takte später unterbrach Charlotte. Sie hatte Tränen in den Augen, was Boni nicht sehen konnte.

 

„Klasse, ich sehe dich in zwei Stunden.“

 

Boni lief wie in Trance. Sie konnte nicht still stehen, ihre langen Beine transportierten sie durch die Fußgängerzone, schleppten sie durch ein Kaufhaus, ihr Unterbewusstsein registrierte alles, was irgendwie an Afrika erinnerte, und eine viertel Stunde zu früh stand sie wieder vor dem Theater.

 

Noch hörte sie das Klavier wie vom Rande der Welt. Noch war das Casting nicht zuende.

 

Boni zog wie gewohnt den Kopf ein, obwohl der Eingang nun wirklich hoch genug war, und sie betrat das Foyer und lauschte.

 

Die Sache war schon merkwürdig. Sie hatte einen Brief in ihrem Briefkasten gefunden. Sie sind herzlich zum Casting für das Musical MASSAILAND am 13.10.2009 um 10:00 h eingeladen, hatte auf dem Bogen gestanden.

 

Was sollte das? War das ein Werbegag für irgendeine Firma?

 

Boni hatte alle Bekannten mit einer Gesangsausbildung angerufen, zuerst beliebig, und dann nur die, welche wie sie lang, dünn und hoch aufgeschossen waren. Keine hatte eine Einladung bekommen. Keine außer Boni.

 

Es ging also um ein Musical namens Massailand. Die Massai, das war der afrikanische Stamm, der bis vor Kurzem ausschließlich von der Rinderzucht und vom Blut der Stiere gelebt hatte, soviel wusste Boni. Sie hatte den Film von der weißen Massai gesehen.

 

Charlotte kam direkt auf sie zu. Sie war groß, wirkte aber athletisch gegen Bonita und lief geschmeidig wie ein Gepard..

 

„Gehen wir ins Theater-Café“, schlug sie vor. „Da ist jetzt noch niemand.“

 

Charlotte schlug die langen Beine übereinander und zündete sich eine an. Sie tat zwei Züge, schüttelte stirnrunzelnd den Kopf und drückte die Zigarette aus.

 

„Du kannst eine Rolle kriegen“, sagte Charlotte. „Ich überlege noch, welche.“

 

Jetzt kommt der Knackpunkt, dachte Boni. Jetzt muss ich ihr meine Schwäche eingestehen.

 

„Ich habe ein Problem“, bekannte sie seufzend. „Ich darf mich nicht übermäßig stark anstrengen. Meine Arterien sind spröde. Eine Erbkrankheit“, gab Boni zu.

 

Charlotte nickte, als habe man ihr irgendeine Bagatelle erzählt.

 

„Ich weiß“, sagte Charlotte. „Du kannst die Königin singen. Die sitzt fast nur auf ihrem Thron. Ich mache die Hauptrolle, die Große Jägerin.“

 

Boni atmete erleichtert auf.

 

Charlotte holte tief Luft. „Ich habe aber eine Bedingung“, warf sie ein.

 

Charlotte war äußerst nervös, nervöser noch als Boni. Sie versuchte ihre Unsicherheit zu verbergen und steckte sich noch eine an. Und wieder drückte sie sie aus. Es schien nicht die richtige Marke zu sein, und Charlotte schien dies pausenlos zu vergessen.

 

„Welche?“

 

„In gut einem Jahr singst du die Große Jägerin. Dann muss ich zurück.“

 

„Die Jägerin bewegt sich wohl ziemlich viel?“

 

Charlotte nickte. „Die Große Jägerin jagt eben.“

 

Der Pianist kam. Er sah Boni freundlich an, lächelte provozierend. Boni bemerkte den Blick, hatte aber keinen Mut, in gleicher Weise zurück zu schauen. Charlotte quittierte dies mit Genugtuung.

 

Er warf Charlotte eine Packung Zigaretten zu.

 

Diesmal war die Marke richtig. Boni hingegen hatte eine solche Packung noch nie gesehen.

 

„Danke, Jaques“, sagte Charlotte und steckte sich die dritte an.

 

„Weshalb hast du ausgerechnet mich eingeladen?“, fragte Boni.

 

„Weil ich dich liebe“, flüsterte Charlotte und streckte die Hand aus. Boni nahm sie widerwillig.

 

Was kam da auf sie zu? War Charlotte lesbisch und in Boni verliebt? Wo konnte Charlotte sie bemerkt haben?

 

„Ich werde die Jägerin nicht singen können“, murmelte Boni ausweichend. „Eine große Anstrengung und ich muss damit rechnen, dass mir die Aorta reißt. Ich verblute innerhalb von Sekunden. Meine Mutter ist bei meiner Geburt verblutet, meine Großmutter...“

 

„Ich weiß“, unterbrach Charlotte und nahm einen tiefen Zug. „Wir können etwas dagegen tun.“

 

Boni sah Charlotte an, als zweifle sie an deren Verstand. Wie oft und wie lange hatte sie mit Fachleuten darüber diskutiert, und nun kam diese Frau und wollte besser sein als alle Experten.

 

„Du wirst Jaques heiraten. Du wirst schwanger sein. In einem Jahr wird dein Kind geboren werden, und kurz darauf wirst du die Große Jägerin singen, weil ich dann zurück muss. Das ist Fakt.“

 

Boni erhob sich ruckartig, stieß gegen eine Requisite, brachte ein Transparent zum Schaukeln, was von der Decke hing und sah zur Wand. Es fiel ihr schwer, diese Frau weiterhin anzuschauen.

 

War Charlotte irre? Stellte sich die große Chance letztlich als Bluff heraus?

 

Charlotte stellte sich ganz dicht vor Boni. Boni konnte ihren Zigarettenatem riechen. Das Aroma eine Cognacs war auch darunter.

 

„Du musst mir glauben“, sagte Charlotte und drückte ihr etwas in die Hand. „Ich bin extra zu dir in die Vergangenheit gereist. Hier sind Medikamente. Es sind Nano-Tabletten. Sie werden deinen Gen-Defekt ausschalten. Wenn du sie jeden Tag nimmst, wirst du die Große Jägerin spielen und die Geburt meiner Mutter überleben.“

 

„Deiner... Mutter?“

 

„Ja, ich bin deine Enkelin. Zu meiner Zeit stirbt niemand mehr an dieser Krankheit.“

 

Boni wurde schwindelig. Sie starrte auf den Tisch, an dem sie gesessen hatten und auf die Packung Zigaretten, die sie noch nie gesehen hatte.

 

„Tax payed in 12/2063“, stand auf der Zoll-Banderole. Charlottes Angaben schienen zu stimmen. Was blieb ihr auch anderes übrig als Charlotte zu glauben?

 

 „Rette meine Mutter“, bettelte Boni.

 

„Keine Chance“, flüsterte Charlotte. „Sie ist doch schon tot, aber das frühe Sterben von uns Mainard-Frauen muss endlich ein Ende haben.“

 

„Lasst uns fest zueinander stehen“, sang Charlotte mit ihrer geschulten Alt-Stimme. Boni kannte das Lied nicht, aber weil die Harmonien eingängig waren, sang sie mit.

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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