Auf dem Weg zur Arbeit pfeift mir kalter Wind um die Ohren. Ich habe nur
eine dünne Jacke an, und mich friert. Ich verschränke die Arme, um mich
ein wenig zu wärmen.
Als ich zur Kreuzung komme, will mich eine Böe weg wehen. Ich falle
beinahe, balanciere auf einem Fuß, finde mein Gleichgewicht wieder und
warte auf das grüne Licht. Endlose Sekunden, wenn man es eilig hat!
Die Ampel spricht zu mir in aggressivem Rot: "Bleib, wo du bist! Du
könntest dir weh tun!" Ich schaue nach links: kein Auto. Ein Mädchen in
meinem Alter steht neben mir. Auch sie wartet auf grün. Ganz kurz
treffen sich unsere Blicke, und ich weiß: Wenn ich jetzt bei rot gehe,
wird sie auch gehen. Die Leute machen das immer - sobald der erste
seinen Schritt auf die Straße setzt, werden sie neidisch und wollen
nicht zurückbleiben. Ein einzelner kann eine ganze Gruppe mitziehen, nur
weil er keine Lust hat, auf grün zu warten.
Ich schaue nach rechts. Kein Auto. Die Ampel ist immer noch rot. Soll
ich? Ich habe einen Termin in fünf Minuten, und außerdem ist mir kalt.
Aber ich zögere kurz, weiß gar nicht warum. Ich reibe mir noch einmal
die Hände warm. Nur eine Sekunde. Dann siegt die Ungeduld, und als ich
den ersten Schritt auf die Straße mache, geht das Mädchen neben mir mit.
Ich registriere es nur mit einem Seitenblick, bin völlig absorbiert in
meinem Termin.
Da kommen von links 20, 30 Autos. Ihr Ampel hat gerade auf grün
umgeschaltet, und sie kommen in zwei Kolonnen, angeführt von einem Golf
GTI und einem sportlichen BMW. Die beiden jungen Burschen hinter dem
Steuer wollen sich gegenseitig zeigen, wer mehr PS unter der Haube hat.
Sie fahren bereits schneller als erlaubt, und sie haben uns nicht bemerkt.
Kann ich noch über die Straße sprinten? Nein. Ich mache einen schnellen
Schritt zurück auf meinen Gehsteig, und das Mädchen ebenso. Ich schaue
kurz zu ihr und sehe einen leisen Schrecken in ihren Augen. Sie grinst
gequält in meine Richtung und ich lächle zurück. Noch einmal gut gegangen.
Die Kolonne ist vorbei und unsere Ampel zeigt grün. "Du kannst jetzt
kommen," will sie mir sagen. "Es ist sicher. Ich warte auch dich."
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Michael Hartl).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.10.2009.
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