Lou Schult

Elfennacht

Es ist eine Zeit, in der
die Menschen wieder über die Erde herrschen. Doch sie tun es ohne Bedacht. Sie
verseuchen die Welt mit ihren Fabriken
und nehmen der Natur die Luft zum Atmen.
Diese Zeiten gibt es in der Geschichte der Menschen immer wieder. Und jedes Mal
verlassen die Bewacher der Erde diese Welt, um abzuwarten.

                                                                 
*

Eine Gestalt trat aus der Dunkelheit des Waldes auf die Lichtung. Sie hatte
langes hellblondes Haar das ihr über die Schultern
und ins Gesicht fiel. Ihre Haut schimmerte fast so weiß wie ihr Kleid das mit
silbernen Fäden durchzogen war. Es schien ein heller Schein von ihr auszugehen,
der sich mit den Mondstrahlen, die auf die Lichtung fielen, vereinte.
Als ein Windstoß über die Lichtung fegte, wurden ihre Haare nach hinten geweht und
entblößten ihre dunklen Augen, die beharrlich
nach vorne blickten. Um ihren Hals lag eine
Kette, an der ein dunkelblauer Stein hing.
Als sie den Wald verließ, schienen die Bäume ihren Namen zu flüstern: „Evangeline.“
Doch es war kein Willkommensgruß, es war ein Abschied. Sie war als einzige
ihrer Art auf der Erde zurückgeblieben. Doch jetzt war auch für sie die Zeit
gekommen zu gehen. Es war so wie jedes Mal, wenn die Menschen wieder einmal dabei waren,
alles zu zerstören. Die Elfen verließen die Erde und kehrten erst zurück, wenn
sich alles wieder beruhigt hatte und das Leben weitergehen konnte.
Doch es fiel Evangeline nicht leicht zu gehen. Dieses eine Mal nicht. Dabei tat
sie es schon seit Jahrtausenden, denn die Elfen kamen und gingen. Es war ein
stetiger Wechsel.
Aber sie hatte etwas Verbotenes getan, etwas was sie für immer an die Erde
binden würde.


Sie konnte sich noch gut an die Nacht erinnern in der es geschehen war.

Die Nacht war die Zeit der Elfen, nur dann konnten sie die Schatten des Waldes
verlassen. Und Evangeline ging wann immer es ihr möglich war. Sie ging zu den
kleinen Städten und Dörfern. Denn die Menschen faszinierten sie. Ihre Art zu
leben, wie sie sich immer weiterentwickelten und ganz besonders, ihre Art zu
fühlen.  Angst Freude, Glückseligkeit.
Das alles waren Gefühle die Elfen nicht kannten. Sie mussten nicht fühlen um zu
überleben. Denn unter ihnen gab es keinen Streit oder Neid oder Hass.  Aber Evangeline war davon überzeugt, dass
Gefühle ihr Leben bereichern würden. Sie wollte wissen wie es war zu lieben.
Und in dieser Nacht würde sie es herausfinden.

An diesem Abend war der Himmel wolkenverhangen und Evangeline in der kalten und
dunklen Herbstnacht nicht mehr als ein Schatten.
Sie lief auf das kleine Dorf zu, das in einem Tal lag. Dort lebten nicht viele
Menschen, nur eine Hand voll Bauern mit ihren Familien.
Doch noch bevor sie das Dorf erreichte hörte sie ein Geräusch, ein leises
Wimmern, zwischen den Bäumen. Evangeline erschrak, aber das Geräusch klang so angsterfüllt,
dass sie nicht anders konnte, als nachzuschauen was es war. Sie schlich auf die
Stelle zu, wo das Jammern herkam. Dort saß ein kleiner Junge und weinte. Es war
ein Menschenjunge, er war vielleicht drei oder vier Jahre alt.  Evangeline wollte sofort wieder weglaufen, da
jeder Kontakt mit Menschen verboten war, aber sie musste ihn doch wenigstens in
sein Dorf zurückbringen, denn alleine würde er in der Kälte sterben. Sehr
wachsam ging sie auf den Jungen zu und kniete sich vor ihm hin. Das Weinen
verstummte und der Kleine sah zu ihr auf und legte ihr die Arme um den Hals. Er
musste gespürt haben, dass sie niemandem etwas zuleide tun konnte. So etwas zu
spüren war die Gabe der Kinder, denn sie sind noch viel mehr mit der Natur, und
somit auch den Elfen, verbunden als die Erwachsenen. Evangeline hob ihn hoch
und trug ihn in Richtung des Dorfes. Er konnte nur von dort kommen, in der Nähe
gab es keine anderen Menschensiedlungen. „Wer bist du?“ Das waren die ersten
Worte die sie zu ihm sagte. „Ich bin Miles. Ich wollte nur noch draußen
spielen, aber es war auf einmal so dunkel, deswegen habe ich nicht mehr nach
Hause zurückgefunden.“
Mehr sprachen sie nicht auf dem Weg. Als sie ganz in der Nähe der ersten Häuser
waren setzte sie Miles ab, von hier aus würde er alleine zurückfinden. „Danke
Evangeline.“ sagte Miles und lief davon.
Woher
wusste er ihren Namen?
Sie hatte ihm den nicht gesagt. Aber auch das war die natürliche Begabung der
Kinder, sie finden die wahren Namen für alles was mit der Natur zu tun hat. Und
gerade dieses Kind war etwas ganz besonderes.
Evangeline spürte, wie sich eine Wärme in ihr ausbreitete, die sie noch nie
gefühlt hatte. Es fühlte sich schön an, es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit
und Geborgenheit. Es war wie eine Verbindung zwischen ihr und dem kleinen
Jungen, der gerade zwischen den Häusern verschwand.
In dieser Nacht hatte Evangeline die Liebe gefunden.
Evangeline wusste das nicht, aber sie wusste ganz genau, dass sie dieses Gefühl
nie wieder verlieren wollte. Also sprang sie auf eines der Hausdächer und
folgte dem Jungen. Er verschwand in einem der Häuser und es dauerte nicht
lange, da ging in einem der Fenster ein weiteres Licht an und sie sah Miles,
wie er in sein Bett kletterte und sich hinlegte. Seine Mutter deckte ihn zu und
gab ihm einen Kuss. Kaum war sie verschwunden, sprang Evangeline auf den Boden
und lief zu dem Fenster, klopfte an und wurde von Miles hereingelassen.

Sie begann, nur noch für ihren kleinen Jungen zu leben. Tagsüber versteckte sie
sich im Wald, aber in Gedanken war sie immer bei ihm.
Sobald die Nacht hereinbrach lief sie los. Zu ihm. Sie klopfte leise an sein
Fenster und er öffnete es ihr. Jede Nacht wartete er da auf sie und ein
Strahlen breitete sich auf seinem Gesicht aus, sobald er sie sah.
Nachdem sie durch das Fenster in sein Zimmer gesprungen war, hob sie ihn hoch, warf
in ihn die Luft, und wurde jedes Mal mit einem Lachen belohnt. Sie legte ihn in
sein Bett und dann erzählte sie ihm Geschichten aus dem Land der Elfen. Es
wurde zu ihrem Ritual und sie lebten es jede Nacht, ein Jahr lang.

Doch ihr Glück war nicht von Dauer. Denn die ältesten der Elfen versammelten
sich um darüber abzustimmen, ob es wieder an der Zeit war zu gehen. Es war an
der Zeit.
Als die Nachricht von der Rückkehr Evangeline erreichte, lief sie davon. Angst
überfiel sie wie ein Raubtier und trieb sie vorwärts. Dennoch kehrte sie auch
in dieser Nacht zu Miles zurück. Sie versuchte ganz normal zu sein. Aber Miles
war ein Kind, deswegen merkte er natürlich, dass etwas nicht stimmen konnte.
Mit seinen kleinen Händen berührte er Evangelines  Gesicht und fragte sie:“ Evangeline, was hast
du denn?“
Eine Träne lief ihr über die Wange und Miles fing sie auf als sie von ihrem
Kinn tropfte. „ Ach Miles. Ich habe dir doch immer von diesem Ort erzählt wo
ich eigentlich lebe. Ich werde wieder zurückgehen müssen.“
Miles lachte ganz leise “ Aber das ist doch nicht schlimm. Dann gehe ich eben
mit dir dorthin. Und dann zeigst du mir alles. Und in ein paar Tagen kommen wir
wieder zurück.“
Evangeline brachte es kaum über sich es zu sagen, aber irgendwann musste sie es
tun. „ Miles, an den Ort kannst du nicht mitkommen.“ Sie hatte ihm nie gesagt,
dass sie eine Elfe war. Ihm würde es wahrscheinlich nichts ausmachen, aber
gerade deswegen könnte er es jemandem weitererzählen. Sie hatte schon einiges
an Überzeugungsarbeit leisten müssen, damit er niemandem erzählte, dass sie ihn
jeden Abend besuchte.
Aber jetzt war es sowieso vorbei. Sie würde ihn wahrscheinlich niemals wieder
sehen. Das war das letzte Mal, dass sie ihn besuchen konnte.
Der Abschied viel kurz aus, denn sie wollte nicht, dass es dadurch noch
schlimmer wurde, als es ohnehin schon war. Sie nahm Miles in den Arm, strich
ihm über sein weiches blondes Haar und ging dann. Sie drehte sich noch einmal
um, sah ihn am Fenster stehen und ihr hinterher blicken, dann verschwand sie in
den Schatten der Häuser.

Sie ging auf den Teich zu, der auf der Lichtung lag. Es war ein magischer Ort, den sie vor einigen
Jahren entdeckt hatte. Im Wasser spiegelte sich der Mond. Sie kniete sich am Ufer
hin und nahm ihre Kette ab. Es war ein Medaillon aus ihrer Heimat.
Sie öffnete es und flüsterte: „Sereg an geédh in erdhé el chaist.“
Dann nahm sie ein kleines Messer aus einer Tasche ihres Kleides und schnitt
sich in die Handfläche, dabei empfand sie keinen Schmerz, denn sie wusste warum
sie es tun musste. Sie fing mehrere der herabfallenden Blutstropfen mit dem
Medaillon auf, schloss es wieder und wiederholte die Beschwörung.
Danach stand sie auf und lief wieder in den Wald hinein.
Sie musste Miles noch erreichen, dafür sorgen, dass er immer beschützt war.
Wenn ich ihn nicht mehrrechtzeitig erreiche, bevor meine Zeit endgültig um ist? Wenn ich mich nicht mehr in dieser Welt halten
kann? Einmal, noch einmal musste ich ihn sehen.
Ein
Blitz zuckte über den Himmel, gefolgt von einem Donnergrollen und es begannen
schwere Regentropfen auf die Erde zu fallen. Der Regen vermischte sich mit
ihren Tränen, die ihr über die Wangen liefen.

Natürlich wartete er diesmal nicht am Fenster, sie hatte sich ja schon von ihm verabschiedet. Sie sah ihn in
seinem Bett liegen und schlafen. Es gab ihr einen kleinen Stich, dass er auch
ohne ihren Besuch eingeschlafen war. Aber so ist eigentlich am besten, die
anderen Nächte werde ich jetzt auch nicht mehr bei ihm  sein können dachte sie und klopfte leise an
das Fenster. Miles wachte sofort auf, rieb sich über die Augen und erblickte
Evangeline. Mit einem Lachen rannte er auf sie zu, öffnete stürmisch und ließ
sie herein. Auch Evangeline musste lachen, es ging gar nicht anders.
„ Evangeline, du bist zurückgekommen! Dann bleibst du also doch bei mir?“ fragte Miles sie
mit großen Augen.
„Nein Miles, aber ich wollte dir noch etwas geben.“Evangeline nahm ihre Kette
ab und hängte sie Miles um den Hals.“Hier. Die ist für dich. Es ist ein Amulett
aus meiner Heimat.“ Miles sah sie bei dem Wort Amulett verständnislos an. „Ein
Amulett ist so etwas wie ein Glücksbringer. Und dieses hier ist etwas ganz
besonderes. Es wird dich, solange du es trägst, beschützen.“ Und außerdem werde
ich dich immer wiederfinden, egal wo du bist.
Das war der zusätzliche Zauber den sie dem Amulett verliehen hatte, indem sie
sich mit ihrem Blut an die Erde band.
Evangeline war total durchnässt, aber es schien Miles nichts auszumachen, er schloss
sie in seine Arme: „Danke Evangeline.“


Es hatte aufgehört zu regnen als Evangeline Miles Zimmer verließ. Der Mond
schien wieder am Himmel.
Eine Windböe kam und ließ die Blätter des Herbsts um Evangeline tanzen und als
der Wind sich wieder legte, war nur noch ein silberner Schimmer in der Luft zu
sehen.
Doch mit der Hoffnung würden auch die Elfen wieder zurückkehren 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.10.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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