Andreas Gritsch

toter Nachbar, liebe Reise

 

 

 

 

 

 

Gestern habe ich erfahren, dass mein Nachbar Herr K. vor drei Wochen gestorben ist. Wir lebten fünf Jahre unter einem Dach, er im vierten, ich im sechsten Stock, doch offenbar trennten uns Welten. Leider verstarb er einsam in seiner Wohnung, erst nachdem sich ein anderer über den Gestank beschwert hatte, wurde seine Wohnung geöffnet. Seine ersten Besucher nach ewiger Zeit fanden eine verweste Leiche.

Denke ich nun an Herrn K, sehe ich einen alten Mann vor mir, mit dem ich mich ein einziges mal unterhalten habe. Wir trafen uns im Park vor dem Wohngebäude, er ging dort wohl regelmäßig spazieren. Ich saß auf einer Bank und sah den jungen Menschen beim Sport, beim Knutschen und Lachen zu. Herr K. setzte sich zu mir und lächelte mich kurz an. Wir haben miteinander geschwiegen, bis er mir eine Zigarre anbot. Dankend lehnte ich mit einer schlechten Erklärung ab, daß ich keine Laster mehr mit mir herumtragen möchte. Wir sahen uns an, und mußten beide lachen.

Natürlich saß ich in diesem Park, weil ich die jungen Menschen nicht den ganzen Tag von meiner Wohnung aus mit dem Fernrohr betrachten wollte. Herr K. hatte diesen Unsinn lange hinter sich, deshalb begann er zu erzählen :

"In ihrem Alter entdeckte ich meine Leidenschaft für Hotels, schreckliche Orte bei Tage, doch wunderbar bei Nacht. Durch meinen Beruf als Handelsvertreter kam ich ein wenig umher, fühlte mich ständig einsam, obwohl ich mit vielen Menschen unter einem Dach nächtigte. Also begann ich zu später Stunde durch die Flure zu ziehen, während meine Mitbewohner schliefen. Die Gafahr, jemandem zu begegnen war relativ klein, doch eben diese Möglichkeit ließ mich wieder etwas leben.

Um diese unerwarteten Momente festzuhalten, nahm ich immer einen Fotoapperat mit auf meine nächtlichen Streifzüge. Ich wollte jeden Kameraden dieser dunklen Stunde festhalten. Meißt waren es Angestellte, doch hin und wieder auch andere Gäste in wunderbar menschlichen Zuständen. Ob es all jenen nun schlecht oder wunderbar ging, gemeinsam hatten sie alle dies nächtlich, einsame Lächeln. So habe ich begonnen, mir diese Fotos an die Wand meiner Wohnung zu kleben. Gerne würde ich Sie einladen, mich im vierten Stock zu besuchen, damit wir vor diesen Bildern gemeinsam weiter schweigen können"

Ich bejahte mit einem Nicken, Herr K. stand auf und verabschiedete sich mich einem Lächeln. Bis zur Nachricht von seinem Tod, habe ich kein einziges mal mehr an meinen Mitbewohner gedacht. Seine Wohnung ist mittlerweile neu vermietet, das Leben unter diesem Dach geht weiter wie zuvor. Aber der Park mit den jungen Menschen wirkt für mich seit gestern wie ein Friedhof ohne Stein auf Gräbern.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.11.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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