Nina Böhm

Negligee

Ich stand gerade mit einem
Negligee in der Umkleidekabine, welches aus so viel Stoff bestand, wie ich ihn
nicht einmal an meinem linken Handschuh gefunden hätte. Es war aus reiner Seide
und floss wie Wasser durch meine Hände. Die schwarze Spitze verlieh dem
schimmernden Grau einen aufregenden Kontrast, wobei man bei „Aufregung“ wohl
eher von dem eingenähten Schlitz sprechen konnte, der fast die gesamte Hüfte
entblößte. Es war wirklich umwerfend sexy. Dreimal im Spiegel drehen, einmal
erotisch Haare schleudern und wieder ab – auf den Bügel damit. Es ist eines,
meiner absoluten High-Lights im Monat, in unserem Einkaufscenter die neusten
Dessous anzuprobieren. Selbstverständlich würde ich niemals auch nur eines
davon kaufen (Das kommt nicht in die Tüte!). Hach, wenn ich nur daran denke,
was Jerry zu solchem Schweinkram sagen würde! Sanft streichelte ich das
Negligee wieder glatt, seufzte tief, und schob den Vorhang der Kabine zurück. Kein
Mensch war in Sichtweite, also eilte ich mich, das Kleidchen schnell wieder an
seinen Platz zu hängen und zumindest für diesen Monat aus diesem Geschäft zu verschwinden.
Nervös schaute ich auf die Uhr, es musste nach acht sein, selbst die Kasse war
nicht besetzt! Jerry wird sich sicher fragen, wo ich bleibe, dachte ich. So
tief in den Gedanken versunken bemerkte ich erst jetzt, dass direkt unter mir
ein Mann in einer embryonalen Stellung zusammengekrümmt lag, die Hände so
krampfhaft über dem Kopf zusammengedrückt, dass die Knöchel weiß hervorstachen,
und mich voller Panik anstarrte.


 
Tja, nun war es zu spät,
die Leute lagen bereits auf dem Boden. Kann ihnen ja schlecht sagen: „Los,
Leute, allemann weitermachen, war nur n‘ Spaß!“ Die 9mm Browning war sicher
nicht allzu vielen Käufern entgangen. Also weitermachen! Ich drehte schnell
noch eine Runde durch die Umkleidekabinen, um sicherzustellen, dass keiner
heimlich Hilfe ruft, und marschierte dann schnell wieder in Richtung der Kassen.
Etwa sieben Leute lagen mit den Händen an den Ohren auf dem Bauch. Ebenso die
Kassiererinnen. Man, das war schon ein blödes Gefühl. Es lag mir noch nie, Menschen
Angst einzujagen, meistens war ich eher der Komiker in der Runde. Gerade bei
den Kassen angekommen, fiel mir im Augenwinkel eine Bewegung auf. Jemand war ohne
meine Erlaubnis aufgestanden!


 
„Was tun Sie denn da?“
fragte ich. Ja, schon klar, die Frage war reichlich blöde, aber was wäre Ihnen
schon in diesem Moment eingefallen? Der Mann zitterte, wie ein frierender Hund.
„Brauchen Sie vielleicht Hilfe? Ich… ich kann schnell jemand holen gehen!“ Der
Mann schüttelte fast unmerklich den Kopf. Er war schon alt, etwa um die
siebzig. Langsam ging ich in die Hocke, tätschelte seine Schulter. Er starrte
mich an, als wäre ich wahnsinnig. „Hören Sie, Sie brauchen keine Angst zu
haben, ich werde schnell einen Arzt rufen. Bleiben Sie… bleiben Sie einfach nur
liegen!“ Schnell war ich wieder auf den Beinen und eilte durch den Laden, es
musste doch wohl irgendwer da sein, Himmel nochmal! Und da war tatsächlich wer.
Es stand ein langer, dünner Mann mitten im Gang und starrte mich ebenfalls an.
Der Unterschied war allerdings, dass dieser Mann totenstill dastand, das Gesicht
mit einer Rentiermaske bedeckt. Was wurde hier gespielt? Das ging doch wohl nicht
mit richtigen Dingen zu! „Hallo?“, sprach ich den Langen an. Zugegebenermaßen
wurde die Stimme langsam schwächer, es war schon ein komisches Gefühl, zwischen
einem Zusammengekrümmten und einem Maskierten zu stehen. „Bitte, könnten Sie wohl
so freundlich sein, mir hier einmal zu helfen?“ Ich ging ein paar Schritte auf
den Mann zu, er regte sich fast unmerklich. „Hier liegt… hier liegt ein Mann am
Boden, wissen Sie? Er braucht sicher einen Arzt!“ Als ich noch näher an den rentierköpfigen
Mann herantrat, bemerkte ich plötzlich einen Gang weiter zwei Frauen, die,
beide mit Kleidung in den Armen, ebenso auf dem Boden lagen, wie der Mann zwei
Gänge weiter hinten! Eine von ihnen hatte das ganze Gesicht mit ihrem dichten
Haar bedeckt, der anderen schossen aus den geschlossenen Augen einige Tränen. Dann
erst begriff ich, wie tief ich an diesem Donnerstagabend in der Patsche saß.


 
Zugegebenermaßen brachte
mich die kleine, dickliche Frau für ein paar Augenblicke mächtig aus dem
Konzept. Ich wusste, dass sie nicht da war, als ich hereinkam, denn ich hatte
mir schnell einen Überblick verschafft. Sie muss in den Kabinen oder auf der
Toilette gewesen sein und eben, als ich dem hinteren Teil des Damenwäschegeschäftes
nur kurz den Rücken zugedreht habe, herausgekommen sein. Sicherlich ist sie
schwerhörig, wie kann sie sonst so unwissend um ausgerechnet meine Hilfe beten?
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.11.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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