Sascha Kahl

Rodrigo

Als Rodrigo aus der Ferne ein lautes Grollen hörte, wusste er genau, dass es sich nicht um ein aufkommendes Unwetter handeln konnte. Trotzdem schaute er nach oben und sah wie die Sonne am frühen Mittag unbeirrbar ihre Energie entlud - es tat fast in den Augen weh. Nein - der Lärm hatte einen ganz anderen Grund. Im Herzen des Berges, dem er und sein Bruder Paolo sich Schritt für Schritt näherten, wurde nach Edelsteinen gegraben. Das Grollen stammte von berstendem Gestein, welches mit Hilfe von Sprengstoff in tausend Stücke zerrissen wurde.
Als sie den Eingang zum Bergwerk erreicht hatten, kam ihnen die Gruppe Erwachsener entgegen, die für die Sprengung zuständig war. Qualm und Ruß stieg aus dem Stollen empor. Nachdem sich die Rauchschwaden wieder verzogen hatten, gingen sie in den Stollen - so wie sie es seit knapp einem Jahr jeden Tag tun mussten, um sich ein wenig Geld zu verdienen. Sie nahmen sich Hacke und Schaufel. "Hoffentlich haben wir heute mehr Glück, als in den vergangenen Wochen. Wenn wir weiterhin mit so wenig Geld nach Hause kommen, setzt es irgendwann Prügel - du weißt ja wie Vater ist", meinte Rodrigo. Dem konnte sein zwei Jahre älterer Bruder nur zustimmen. "Hör bloß auf von Vater zu sprechen. Denk lieber an die Arbeit, die wir vor uns haben", meinte Paolo, und so begannen sie.
Als Rodrigo voller Wut mit seiner Spitzhacke ins Gestein stieß, dachte er an die zurückliegende Zeit. Vor einem Jahr sah sein Leben noch ganz anders aus. Da lebte er mit seiner Familie in einem kleinen Vorort von Rio de Janeiro. Er hatte ein kleines Zimmer ganz für sich allein, ging zur Schule und spielte in der Freizeit im örtlichen Fußballverein. Doch seit der Arbeitslosigkeit seines Vaters ging es steil bergab. Sie konnten sich die Miete nicht mehr leisten und wohnten seitdem in einem der Armenviertel - in Brasilien Favelas genannt. Das Geld, das sie besaßen, reichte nicht einmal zum Sattwerden. Somit musste Rodrigo, obwohl erst zehn Jahre alt, praktisch den ganzen Tag im Bergwerk mithelfen. Als ihr Vater vor sechs Monaten bei einem Grubenunglück sein rechtes Bein verlor und seitdem nicht mehr arbeiten konnte, verschärfte sich die finanzielle Situation von Tag zu Tag. So mussten Rodrigo und sein Bruder zusammen mit einer Handvoll anderer Kinder und Jugendlicher in den schmalen, spärlich beleuchteten Gängen für einen Hungerlohn arbeiten. Nach jeder stündlich stattfindenden Sprengung hieß es für die zumeist minderjährigen Arbeiter nach geeigneten Steinen zu suchen.
Rodrigos Hände, nach kurzer Zeit ebenso verdreckt wie zerkratzt, schmerzten sehr. Schweiß floss von seiner Stirn herab. Doch trotz dieser unerträglichen Mühen war die Ausbeute bis zum Abend wie zumeist sehr mager. Gerade einmal vier geeignete Rohlinge fand er - sein Bruder sogar nur drei. Sie waren kaum größer als Erbsen und so bekamen sie für diese auch nur ein paar Münzen.
Während des abendlichen Heimweges dachte Rodrigo aufgrund der geringen Ausbeute bereits an die Standpauke seines Vaters. Und tatsächlich: Noch bevor er den Griff der aus ein paar Brettern zusammengezimmerten Holztür in die Hand bekam, hörte er seinen Vater, wie er seinen Bruder, der vorausgegangen war, beschimpfte. Seine Mutter, die seine beiden kleineren Geschwister zu versorgen hatte und daher kein Geld verdienen konnte, versuchte vergeblich Ruhe auszustrahlen. "Ihr müsst einfach noch mehr arbeiten - wie sollen wir sonst über die Runden kommen", versuchte sein Vater seinen Ärger Luft zu machen. Doch was sollten sie ihm entgegnen? Jeden Tag waren sie viele Stunden auf den Beinen. Niemand durfte ihnen nachsagen, dass sie nicht alles versuchen würden, um genügend Geld für Essen und Trinken aufzutreiben. Doch ohne Schulabschluss fanden sie in Rio de Janeiro keine ordentliche Arbeit - erst recht nicht, da sie schon über einen längeren Zeitraum im Armenviertel leben mussten. Entschuldigungen gab es also nicht, und Kritik gegenüber dem Vater, das wussten sie nur zu genau, konnten sie sich sparen. Somit schwiegen sie.
Nachdem mit dem hart erarbeiteten Geld Essen besorgt worden war, welches den stetigen Hunger aber nur im Ansatz zu stillen vermochte, gingen Rodrigo und Paolo wieder auf die Straße. "Endlich haben wir mal Zeit für uns. Lass uns mal zu den anderen Kindern hingehen", schlug Paolo vor.
Es war bereits spät geworden und die Sonne senkte sich Richtung Horizont. Obwohl beide einen harten Arbeitstag hinter sich hatten, wollten sie doch zumindest ein wenig Spaß haben. So schlenderten sie gemächlich zu einer offenen Fläche, die am Rande des Armenviertels lag. Besonders gegen Abend trafen sich dort viele Kinder, um sich die Zeit mit Fußballspielen zu vertreiben. Auch heute waren wieder einige Kinder da. Sportlich oder gar kräftig sahen sie, ebenso wie die beiden Brüder, wahrlich nicht aus. Zumeist ohne Schuhwerk, mit kurzen Hosen und kurzärmligen T-Shirts bekleidet, traten sie voller Euphorie gegen einen kleinen Lederball. Dieser war mit Rissen übersäht, und auch seine ehemals weiße Farbe war nur noch mit viel Phantasie zu erahnen. Trotzdem erfüllte er seinen Zweck. Zwei Holzstangen bildeten die Pfosten auf einem Platz, der weder besonders eben noch als weiträumig zu bezeichnen war. Die willkürlich zusammengestellten Mannschaften gaben trotzdem ihr Bestes. Aufgrund des Platzmangels wurde nur auf ein Tor gespielt, und auf eben dieses durfte Rodrigo nach Absprache mit den anderen Kindern spielen. Sein Bruder wurde in die andere Mannschaft aufgenommen und hatte somit die Aufgabe Tore des Gegners zu verhindern.
Obwohl es schon fast dunkel war - einzig die spärlich beleuchteten anliegenden Hütten spendeten noch ein wenig Licht - war Rodrigo nun völlig in seinem Element. Die Kinder feuerten sich immer wieder gegenseitig an und forderten den Ball. Oft versprang dieser, und doch verstand Rodrigo es immer wieder seine Mitspieler geschickt in Szene zu setzen. Manchmal gelang ihm auch ein Tor - doch das war hier nicht die Hauptsache. Vielmehr ging es den Kindern darum, für eine kurze Weile ihren tristen Alltag zu vergessen.
Erst als der Ball in der Dunkelheit kaum noch zu sehen war, ging es nach Hause. Das älteste Kind nahm die kleine Lederkugel mit. Als Rodrigo und Paolo ihren gut zehnminütigen Heimweg antraten, blieben sie jedoch nach der Hälfte ihrer Wegstrecke, die Straßen waren bereits verlassen, abrupt stehen. Aus einer unauffälligen kleinen Hütte erklang Jubel - eine Stimmungsäußerung, die in den Favelas nicht besonders häufig anzutreffen war. Neugierig wie sie waren, näherten sie sich dem kleinen Holzhaus. Ein kleiner Spalt an der Außenwand ermöglichte es einen Blick auf denjenigen zu werfen, der sich auch dreißig Sekunden nach dem ersten Aufschrei kaum einkriegen konnte. Zuerst hatten die beiden Brüder keine Ahnung, was der Anlass für den Jubel sein konnte, den sie gerade vernommen hatten. Doch als sie aus etwa drei Metern Entfernung sahen, was dort auf einer kleinen Kommode stand, ahnten sie etwas. Sicher, noch vor einem Jahr war ihnen dieses Gerät ebenso bekannt wie ihr eigener Name. Doch dass jemand in dieser unwirtlichen Gegend wie dieser einen Fernseher besaß, der auch noch funktionierte, war ihnen bisher völlig neu. Als sich Rodrigo den Bildschirm betrachtete, wusste er auch, welchen Grund der unerwartete Aufschrei hatte: Ein Fußballspiel lief im Fernsehen. Zwar war der Bildschirm nur schwer zu erkennen, erst recht aus spitzem Winkel - trotzdem war er sich sicher, dass es sich um ein Spiel der gerade stattfindenden Fußballweltmeisterschaft in Frankreich handelte. Und die Trikotfarben des einen Teams ließen keinen Zweifel aufkommen: Es war seine Mannschaft - die Nationalelf Brasiliens. Wie oft hatte er schon davon geträumt zumindest einmal im Stadion zu sein, wenn Spieler wie Bebeto, Rivaldo oder Ronaldo für Brasilien um Punkte kämpften.
Doch bevor Rodrigo weiter träumen durfte, stieß ihn sein Bruder an: "Rodrigo - komm. Wir müssen nach Hause. Sonst gibt es wieder Ärger mit Vater." Doch Rodrigo, der seine Augen nicht vom Bildschirm lösen konnte, wollte noch nicht und vertröstete seinen Bruder: "Geh schon mal vor. Ich komme gleich nach." Nachdem sich Paolo auf den Weg gemacht hatte und außer Sichtweite war, entschloss sich Rodrigo der Sache auf den Grund zu gehen. Sachte klopfte er an die Holztür - doch keine Antwort. Als auch nach mehrmaligem Klopfen keine Reaktion erfolgte, öffnete er die unverschlossene Tür. Sein erster Blick fiel wieder auf den Fernseher, sein zweiter auf einen vor dem Bildschirm sitzenden alten Mann. Etwa zwei Meter von ihm entfernt sprach er den Fußballbegeisterten an.
Wie schon nach seinem Klopfen, reagierte der Mann wiederum nicht. Doch als Rodrigo diesem zurückhaltend an die Schulter tippte, reagierte er - und wie. Nicht nur, dass er zusammenzuckte - er fiel gleichfalls vom Stuhl und brauchte eine Weile, um die unerwartete Attacke zu verarbeiten. "Was, was ist hier los - wer bist du, was willst du hier?", stammelte der Mann, der mehr auf dem Boden lag, als dass er saß. Als Rodrigo ihm erklärt hatte, wieso er unaufgefordert den spärlich beleuchteten Raum betreten hatte, berappelte sich der mit grauer Hose und blauem Hemd bekleidete Mann allmählich und rückte seinen Stuhl so zurecht, dass er, als er sich wieder setzte, Rodrigo genau vor sich stehen hatte. "Ich kann leider nur noch schlecht hören. Daher bemerkte ich dein Hereinkommen nicht", meinte der alte Mann, der sich mit dem Namen Gonçalves vorstellte. "Interessierst du dich auch für Fußball?" fragte ihn der Mann - er musste schon mindestens sechzig Jahre alt sein. Was für eine Frage! Wenn es etwas gab, das Rodrigo in seinem mehr oder minder trostlosen Leben Spaß machte, dann war es Fußball - seit seiner Geburt. Das hätte er schwören können.
Rodrigo, der in Gegenwart von fremden Menschen immer ein wenig wortkarg war, brachte seine Antwort auf die vom alten Mann gestellt Frage mit "ja, sicher" nur mit Mühe aus sich heraus. Etwas redseliger war da schon der nach wie vor auf dem Stuhl sitzende Mann. "Mein Jubel hatte einen guten Grund. Rivaldo hat direkt vor dem Pausenpfiff das 2:0 gegen Marokko geschossen", meinte er und machte eine kleine Pause - er überlegte. "Du weißt doch sicherlich von der Weltmeisterschaft in Frankreich?", fragte er Rodrigo. Letzterer, weiterhin sehr mundfaul, nickte. Seine Zurückhaltung ließ erst nach, als ihn der Mann fragte, ob er sich das Spiel mit anschauen wolle. Rodrigo wusste zwar, dass es zu Hause Ärger geben würde, wenn er zu spät ankäme. Doch wann gab es für ihn schon die Möglichkeit sich eine Fußballübertragung im Fernsehen anzuschauen.
Das Spiel, das sich Rodrigo im Fernsehen betrachtete, war zwar nur eine Aufzeichnung, aber das war für ihn zweitrangig. Als der Schiedsrichter die zweite Halbzeit anpfiff, klopfte Rodrigos Herz mehr denn je. Aber auch dem Mann schien das Spiel nahe zu gehen. Bei jeder guten Szene der Brasilianer kreischte er vor Begeisterung. Im Gegensatz dazu hielt sich Rodrigo noch zurück. Seine Freude spielte sich in seinem Inneren ab - zumindest bis zur 50. Minute. Denn als Bebeto das entscheidende 3:0 erzielte, entwickelte sich die kleine Hütte zum Tollhaus. Der Mann kreischte wieder und stampfte mit den Füßen auf den Boden. Rodrigo, der auf dem Boden saß, sprang hingegen in die Höhe und musste dabei aufpassen, dass er mit seinem Kopf nicht gegen die Decke der Hütte stieß. Gemeinsam mit dem Fernsehreporter schrieen sie ein langgezogenes "Goooaaal" aus sich heraus. Bei dem Krach, den die drei verursachten, der Fernsehreporter mitgerechnet, war es kein Wunder, dass im Handumdrehen auch die Nachbarn auf sie aufmerksam wurden. Von nun an ging die Tür alle zwei Minuten auf und zu - bis sich schließlich eine Viertelstunde später etwa zwanzig Personen, kaum zu glauben aber wahr, in der Hütte befanden. Wie Rodrigo, hatten auch sie seit langer Zeit keinen funktionierenden Fernseher mehr gesehen. Nebenbei: Wie der alte Mann an den Apparat herangekommen war, interessierte keinen der Zaungäste. Nur, dass er einen hatte war entscheidend.
In diesem Durcheinander fiel es jedem, auch Rodrigo, schwer sich auf das Spiel zu konzentrieren. So entschloss er sich, es war auch schon spät genug, nach Hause zu gehen. Als er nach ein paar Minuten ankam, waren die anderen zum Glück noch wach. Somit blieb ihm diesmal eine Debatte mit seinem Vater erspart und er konnte seinen Eltern, die mit Interesse zuhörten, sogar noch von seinem Erlebnis erzählen. Fix und fertig und dennoch zufrieden war Rodrigo, als er sich auf seine Matratze legen konnte.
Nach dem Frühstück ging es für Rodrigo und seinen Bruder wieder auf den Berg. Keiner der beiden konnte etwas von dem Unglück ahnen, welches ihnen bevorstand.
Wie immer gingen Rodrigo und Paolo nach den stündlichen Sprengungen ihrer Arbeit nach und gaben ihr Bestes. Doch am späten Nachmittag passierte es: Nach der üblichen Explosion stieg nach etwa einer Minute der Qualm aus dem Bergwerkseingang empor. Wer aber nicht kam waren die Männer, die ansonsten schon vor den ersten Rauchschwaden den Ausgang erreichten. Die Kinder und der Vorarbeiter warteten, aber niemand kam. Als sich der Rauch endgültig verzogen hatte, entschlossen sich die Kinder mitsamt Vorarbeiter dem Schicksal der insgesamt acht Männer auf die Spur zu gehen. Schon bevor sie den eigentlichen Ort der Sprengung erreichten, hörten sie Hilferufe. Größere Steine, die in den Gängen lagen, erschwerten den zu Hilfe Eilenden den Zugang zu den Männern. "Los, Kinder. Wir müssen die Steine aus dem Weg räumen - beeilt euch", wies der Vorarbeiter die Kinder an noch härter und noch schneller als je zuvor zu arbeiten.
In diesem Fall gab es bei ihnen kein Murren. Besonders nicht bei Rodrigo und Paolo. Waren sie es doch, die bereits am eigenen Leibe erfahren hatten, wie es ist, wenn ein Familienangehöriger, in diesem Fall ihr Vater, bei einem Grubenunglück verschüttet wird. Paolo, der zu diesem Zeitpunkt bereits im Bergwerk arbeitete, hatte es direkt miterlebt. Nur mit Glück konnte ihr Vater, wenn auch schwer verletzt, gerettet werden. Rodrigo wusste all dies nur von Erzählungen. Nun, wo er für seinen Vater schuften musste, bekam er erstmals die mühselige Suche nach Verschütteten mit.
In fast völliger Dunkelheit begannen die Kinder und der Vorarbeiter die großen Steine bei Seite zu räumen - einen nach dem anderen. Zwischen den Hilferufen der Verschütteten mischten sich vermehrt verzweifelte Ausrufe der Kinder, die so ein Unglück zumeist noch nicht miterleben mussten. Gespannt registrierten sie, dass, je mehr Steine sie bei Seite räumten, die Hilferufe immer lauter wurden. Nach und nach halfen sie den Erwachsenen aus dem Geröll heraus. Bei einigen der Geretteten sahen die Kinder größte Dankbarkeit - anderen war dieser Ausdruck jedoch nicht vergönnt. Entweder waren sie bewusstlos, oder wie in drei Fällen tot. Als die Kinder zu Hause ankamen, hatten sie kaum noch Kraft die Tür zu öffnen. "So etwas möchte ich nie wieder miterleben. Egal was Vater uns sagt. Ich gehe nie mehr in einen solchen Berg hinein - lieber reiß ich aus", meinte der ebenso erschöpfte wie wütende Rodrigo, bevor ihn der Schlaf übermannte.
Am nächsten Morgen, das hatte sich Rodrigo schon vor dem Verlassen des Berges geschworen, wollte er ein ausgiebiges Gespräch mit seinem Vater führen.
Obwohl dieser bereits selbst Opfer eines Grubenunglücks war, konnte er sich mit der Idee seines Sohnes nicht anfreunden. "Ich versteh euch ja. Aber was wollt ihr stattdessen machen? Ihr, genaugenommen wir, haben gar keine andere Wahl. Wie sollen wir ansonsten genügend Essen bekommen?", fragte der sichtlich berührte Vater. Rodrigo meldete sich zu Wort: "Ich weiß, dass wir das Geld brauchen. Aber gerade du musst doch verstehen, wenn ich diese Arbeit nicht fortsetzen möchte. Sie ist einfach zu gefährlich. Sollen ich oder Paolo eines Tages wie du unter den schweren Felsbrocken liegen? Willst du das wirklich?", sprach Rodrigo und sah seinen Vater vorwurfsvoll an. Nun schwieg dieser, humpelte mit seinem Stock zu seiner Matratze und murmelte etwas, was weder seine beiden Söhne noch seine Frau verstanden.
Rodrigo interessierte die Meinung seiner Eltern sowieso nicht mehr. Er wollte weg - das stand fest. So machte er sich am Mittag auf den Weg. Gewissensbisse, dass er seine Familie einfach hinter sich lassen würde, hatte er nicht. Zwar würden sie jetzt auf sein verdientes Geld verzichten müssen. Dafür hatten sie aber fortan auch einen Esser weniger am Tisch. "Somit dürfte ihnen, zumindest finanziell, mein Fortgehen kaum schmerzen", sagte er zu sich, als er an einem Gewerbegebiet vorbeiging. Er hatte seinen Stadtteil mittlerweile verlassen. Kurz darauf folgte ein Stadtpark und Rodrigo sah wie eine Horde kleiner Kinder mitsamt Ball über den Rasen stürmte. Gerade als er an ihnen vorbeizog, flog der Ball zu ihm hin und schien regelrecht darauf zu warten von Rodrigo in hohen Bogen in die Luft gekickt zu werden. Rodrigo ließ sich nicht zweimal bitten. Mit seinen zerfledderten Sandalen drosch er den Ball über die kleinen Jungen hinweg. Ein langgezogenes "Aaah" und "Oooh" war nun zu hören. In ihren Stimmen schwang ebenso Bewunderung wie Begeisterung mit. Dieses Gefühl des Lobes nahm Rodrigo gerne mit auf den Weg - genau wie die Erkenntnis, dass er zwar nichts gelernt hatte, aber dennoch etwas konnte: Fußball spielen, na klar. "Ich kann gut spielen. Warum soll aus mir nichts werden? Ich muss nur einen Weg finden, wie ich meine Fertigkeiten nutzen kann", gingen ihm seine Ziele durch den Kopf und zog weiter.
Eine halbe Stunde später kam er an einem kleinen Fußballstadion vorbei. Dort sah er ein großes Plakat, welches nicht zu übersehen war. Auf dem stand, dass in zwei Tagen ein Turnier auf diesem Platz stattfinden sollte. Rodrigo las den Plakattext mit größter Konzentration durch. Wie er erfuhr, handelte es sich um ein Kinder- und Jugendturnier. Dieses war zwar in erster Linie für Vereinsmannschaften gedacht - es durften aber auch Kinder außerhalb des Vereinsgeschehens teilnehmen, sofern sie genügend Spieler für eine Mannschaft zusammenbekamen.
Wie sollte er aber innerhalb von zwei Tagen genügend Kinder finden? Rodrigo überlegte. Die Kinder aus seinem Armenviertel konnte er auf keinen Fall fragen - zu groß war die Gefahr, dass er einem Bekannten oder gar seinen Eltern über den Weg laufen würde. Nein, er wollte seinen Weg allein gehen - ohne fremde Hilfe. Trotz seiner Entschlossenheit kullerte ihm eine Träne die Wange herunter, als er an seine Familie dachte - ein wenig vermisste er sie schon jetzt. Was ihm ebenso fehlte, und daran hatte er, als er sein zu Hause verließ, gar nicht gedacht, war etwas zu Essen. Übernachten konnte er zur Not auch auf der Straße - in Brasilien sind schließlich selbst die Nächte angenehm warm. Doch wie sollte er an Lebensmittel kommen - ohne Geld?
Gerade als Rodrigo nach einer Lösung suchte, hörte er im Hintergrund ein lautes Brummen. Als er sich umdrehte, sah er einen Mann, der den Rasen des Fußballplatzes mähte. Rodrigo hatte eine Idee, und diese wollte er auch gleich in die Tat umsetzen. Er rannte zum Mann hinüber und versuchte sein Glück mit einer Notlüge: "Ich habe keine Eltern mehr - hätten sie vielleicht ein wenig Arbeit für mich?", fragte er ihn ganz unschuldig. Natürlich vermied es Rodrigo zu erwähnen, dass er von zu Hause ausgerissen war. "Wenn sie mir ein klein wenig Geld geben, könnte ich zum Beispiel die andere Hälfte des Rasens mähen. Davon könnte ich mir dann etwas zum Essen kaufen", sagte Rodrigo und wartete gespannt auf die Antwort. Der Mann schüttelte allerdings gleich mit dem Kopf und erwiderte: "Junge, das wird nichts - die Arbeit ist viel zu schwer für dich. Aber was hältst du von folgender Idee? Wenn du mir nachher beim Grasaufsammeln hilfst, kann ich dir ein wenig Kleingeld geben." Rodrigo war einverstanden und setzte sich auf eine der Holzbänke, die der kleinen Tribüne angehörten. Er schaute sich das kleine Stadion etwas genauer an und wartete darauf, dass der Mann mit dem Rasenmähen fertig wurde.
Währenddessen sprach seine Familie über Rodrigo. Einerseits machte sich sein Vater Vorwürfe, dass er seinen Sohn so einfach gehen ließ. Andererseits war es vielleicht sogar besser so. Das Leben auf der Straße würde für Rodrigo nicht leicht werden - das wusste er. Die Vorstellung, dass sein Sohn Opfer eines Bergunglücks werden könnte, war für ihn aber zweifellos schlimmer. Außerdem: Verhindern hätten sie seinen Weggang sowieso nicht können. Sie konnten ihn ja schließlich nicht irgendwo festbinden. "Trotzdem frage ich mich, wie er über die Runden kommen soll - ganz allein", meinte sein Vater. Seine Frau versuchte ihn zu beruhigen: "Der wird sich schon irgendwie durchschlagen. Und so vernünftig nach Hause zu kommen, wenn er nicht mehr weiter weiß, ist er auf jeden Fall."
Als der Platzwart mit dem Mähen fertig war, begann für Rodrigo die Arbeit. Mit einer großen Harke und einer Schubkarre machte er sich gemeinsam mit dem Mann daran, den Platz zu säubern. Nach knapp zwei Stunden waren sie fertig. Nun wartete Rodrigo, sein Magen knurrte bereits, auf seinen Lohn. Viel war es nicht, was der Mann ihm gab - um den ersten Hunger zu stillen genügte es aber. Anschließend machte er sich auf die Suche nach einem annehmbaren Nachtquartier. Während er sich umschaute, dachte er wieder an das Fußballturnier, an dem er unbedingt teilnehmen wollte. Als er eine Gasse nach der anderen durchquerte, es war bereits später Abend geworden, hörte er Geschrei aus der Nachbargasse. Zügig ging Rodrigo weiter, um zu sehen was dort geschah. Er blickte um die Ecke und sah, wie sich ein gutes Dutzend Kinder einen erbitterten Straßenkampf lieferten. Solche Aktionen kannte er schon aus seinem Viertel. Wie Rodrigo feststellte, näherte sich der Streit seinem Ende - die eine Gruppe flüchtete. Die anderen Kinder blieben stehen und schauten stolz zu, wie die Gegner flüchteten. Ein Junge der siegreichen Gruppe bemerkte Rodrigo, wie er an der Straßenecke stand und rief ihm zu: "Hey, du da hinten. Was willst du hier? Ich hab dich hier noch nie gesehen." Er näherte sich Rodrigo. "Nun mach mal den Mund auf. Das ist unser Gebiet. Hast ja gesehen was mit denen passiert, die uns in den Weg kommen", sprach der Junge. Rodrigo hatte gehörigen Respekt vor ihm. Kein Wunder - war der Junge doch mindestens zwei Jahre älter. Die Narbe unter seinem rechten Auge verriet Rodrigo ebenso wie dessen Messer, welches er versteckt in seiner linken Hand hielt, dass mit ihm nicht zu spaßen war.
Als der fremde Junge auf ihn zu kam, sagte Rodrigo mit angsterfüllter Stimme zu seinem Gegenüber: "Ich habe eigentlich nur nach einer Übernachtungsmöglichkeit gesucht. Könntet ihr mir da weiterhelfen?" Ein anderer Junge meldete sich zu Wort - er war wohl in etwa so alt wie Rodrigo selbst. "Einen festen Wohnsitz haben wir natürlich alle nicht. Wir schlafen mal hier, mal dort. Kannst dich uns ja erst einmal anschließen. Je mehr wir sind, desto besser. In dieser Gegend gibt es immer wieder Zoff mit den anderen Gangs", meinte dieser und beruhigte die Situation somit.
Rodrigo entschloss sich mit den anderen mitzugehen. Unter einer Brücke fanden sie Unterschlupf. Die Jungen stellten sich dort Rodrigo vor. Der Anführer hieß Fernando und lebte, obwohl er erst zwölf Jahre alt war, schon über sechs Jahre auf der Straße. Den anderen erging es auch nicht viel besser. Entweder sie wurden notgedrungen von ihren Müttern ausgesetzt und landeten in völlig überfüllten Kinderheimen - aus denen sie später ausrissen, oder sie liefen aus den verschiedensten Gründen von zu Hause weg. Francesco wurde von seinem Vater regelmäßig geschlagen, Luigis Eltern starben bei einem Hausbrand ... . Und mit dieser Gang suchten sie einen Familienersatz. Hin und wieder arbeiteten sie - die Regel war das aber nicht. Zumeist stibitzten sie Obst und Gemüse aus irgendwelchen Gärten oder suchten in Mülltonnen nach Essbarem.
Nachdem sich die einzelnen Kinder zu Wort gemeldet hatten, berichtete Rodrigo von seinem Schicksal. Nach dessen Erzählung meinte Fernando: "Ich kann gut verstehen, dass du abgehauen bist - hätte ich auch gemacht. Die Arbeit im Bergwerk ist viel zu hart und gefährlich. Das Leben auf der Straße ist aber auch nicht leicht - wirst schon sehen. Du kannst ja ein paar Tage mit uns ziehen." Rodrigo willigte gerne ein. Völlig allein hatte man in dieser Gegend kaum eine Chance zu überleben. So schlief Rodrigo einigermaßen beruhigt ein.
Am nächsten Morgen bekam er einen Vorgeschmack darauf, was ihn in der nächsten Zeit erwarten würde. Das Stehlen von Lebensmitteln ging ja noch, wenngleich man natürlich mit dem Risiko leben musste, irgendwann geschnappt zu werden. Das Herumwühlen in Mülltonnen war ihm allerdings ziemlich zu wider. Daher verzichtete Rodrigo auch vorerst darauf sich von Resten der anderen zu ernähren. Das Magenknurren nahm er noch in kauf.
Am Nachmittag fiel Rodrigo wieder das anstehende Fußballturnier ein. Wenn er sich nicht beeilen würde, könnte er die Teilnahme vergessen. Doch wie ein Geistesblitz schoss es ihm durch den Kopf. Die Gruppe, derer er ja irgendwie schon angehörte, bestand mit ihm aus insgesamt neun Kindern. Wenn er noch mindestens zwei finden würde, wären sie tatsächlich zu elft - also genug Spieler für eine Mannschaft. Vorausgesetzt die anderen Kinder hätten Interesse an dem Turnier. Da er diese Frage nicht mehr lange aufschieben konnte, erzählte er den anderen von seinem Plan. Zwar waren nicht alle hellauf begeistert - am Ende einigten sie sich aber doch darauf, dass es nicht schaden könnte ihr Können bei einer solchen Veranstaltung aufzuzeigen. Auch die einzelnen Mitglieder der Gang fanden sich nämlich hin und wieder mit anderen Kindern zusammen, um gegen die runde Lederkugel zu treten. Rodrigo erzählte ihnen, wie er sich den Ablauf vorstellte: "Erst einmal müssen wir uns einigen, wer auf welchen Positionen spielen wird. Am besten wir suchen uns dann einen Platz wo wir mit anderen Kindern noch ein bisschen üben können. Dort finden wir dann bestimmt auch noch welche, die bei uns mitmachen wollen." Gesagt, getan. Bereits an der nächsten Straßenecke fanden sie eine kleine Gruppe, die um die Wette kickten. Um es kurz zu fassen: Die einzelnen Kinder erkannten ihre eigenen Stärken und Schwächen und einigten sich schließlich darauf, wer auf welcher Position spielen würde. Zudem fanden sie auch noch vier Kinder, die sich ihnen anschließen wollten. Somit hatten sie sogar zwei Ersatzspieler.
Nach einer unspektakulären Nacht war Rodrigos großer Tag gekommen. Bevor sie sich auf den Weg zum Fußballplatz machten, stillten sie ihren ersten Hunger. Am Sportplatz warteten sie dann auf die anderen vier Kinder und meldeten sich bei der Turnierleitung, um sich dort anzumelden. Sportzeug bekamen sie, wie auch die anderen Kinder, natürlich gestellt. In zerfletterten Sandalen hätten sie ansonsten gegen die anderen Kinder überhaupt keine Chance gehabt. Zudem bekamen sie endlich mal einen richtigen Lederball vor die Füße.
Als sich Rodrigos Mannschaft eingekleidet hatte, schaute sie sich ihre Konkurrenten, die sich mittlerweile auch auf dem Platz eingefunden hatten, genauer an. Obwohl sie nahezu im selben Alter waren, sahen sie doch viel kräftiger aus als seine Mannschaft. Kein Wunder - hatten doch die meisten anderen eine Familie und mussten sich somit nicht mit dem Ergattern von Lebensmitteln beschäftigen.
Um 10 Uhr war es dann soweit: Rodrigos erstes Turnierspiel wurde angepfiffen. Er selbst versuchte sein Glück als Spielgestalter im zentralen Mittelfeld. Fernando, der Kräftigste von allen, war der Libero - seine Aufgabe war es hinten alles sauber zu halten. Es zeigte sich jedoch schnell, dass sie gegen die Vereinsmannschaften wohl kaum eine Chance haben würden. Weder technisch noch läuferisch waren sie in der Lage gegen den ersten Gegner aus Sao Paulo etwas auszurichten. So lagen sie im halbstündigen Spiel bereits nach zehn Minuten mit 0:3 in Rückstand. Der relativ bullige Fernando wirkte überfordert und selbst Rodrigos Pässe wurden fast immer vom Gegner abgefangen. Am Ende hieß es 0:7, und die Ernüchterung war riesengroß. "So ein Mist - gegen solche Mannschaften können wir überhaupt nichts ausrichten", meinte Fernando. Alle anderen, bis auf Rodrigo, stimmten ihm zu. Rodrigo versuchte sie aufzumuntern: "Los, kommt schon - wir haben noch drei Spiele. Die anderen Gegner sind bestimmt nicht so gut, wie die von eben. Wenn wir erst einmal ein Tor schießen, läuft es bei uns garantiert besser."
Der nächste Gegner kam aus einem vornehmen Viertel in Rio. Luigi, der Torwart, konnte einem wahrlich Leid tun. Die für ihr Alter technisch schon sehr versierten Gegner spielten mit Rodrigos Team Katz und Maus - ließen ihnen keine Zeit zum Luftholen und fegten sie gar mit 0:12 vom Platz. Nun war guter Rat wirklich teuer. Unter vorgehaltener Hand hörte Rodrigo schon von einigen seiner Mitspieler, dass sie lieber wieder gehen wollten - die Stimmung war wirklich auf dem Nullpunkt. Und wieder versuchte Rodrigo sie zu motivieren: "Reißt euch zusammen. Wir müssen eben aus unseren Fehlern lernen. Die Hauptsache ist doch, dass es Spaß macht." Ein Raunen ging durch die Runde. Fernando meinte gereizt: "Macht es dir etwa Spaß, wenn du von den gegnerischen Mannschaften lächerlich gemacht wirst? Mir jedenfalls nicht, und den anderen bestimmt auch nicht." Seine Gangmitglieder waren derselben Meinung. Rodrigo musste also verhandeln. Er bot den anderen an, dass sie, falls sie auch die nächste Begegnung klar verlieren würden, gehen könnten. Nach längerem Überlegen stimmten seine Teamkollegen zu.
Bis zum nächsten Spiel hatten sie eine Stunde Pause. Diese nutzten sie konsequent, indem sie sich am Verpflegungsstand reichlich bedienten. Egal wie der weitere Verlauf des Turniers aussehen würde - auf jeden Fall war der Bedarf an Lebensmitteln für den heutigen Tag gedeckt.
Der nächste Gegner kam auch aus Rio. Die ersten Minuten überstand die Mannschaft von Rodrigo zur Abwechslung mal ohne Gegentor. Sein Team war wiederum technisch unterlegen. In diesem Fall bekamen sie den Ball aber immer wieder rechtzeitig aus der Gefahrenzone heraus. In der 15. Minute kam Rodrigos Team sogar in Strafraumnähe. Eine Flanke von rechts nahm Rodrigo gekonnt an, umspielte gewitzt einen Gegenspieler und stand dann urplötzlich frei vor dem gegnerischen Keeper. Völlig von der unerwarteten Situation überrascht zögerte Rodrigo ein wenig - ein wenig zu lange, wie er nur zwei Sekunden später feststellen musste. Aufopferungsvoll warf sich der gegnerische Keeper ihm entgegen. Gerade noch rechtzeitig schaffte es Rodrigo ihm ausweichen und den Ball wieder an sich zu nehmen. Doch als er versuchte den Keeper zu umspielen, wurde er von hinten von den Beinen gerissen. Noch während Rodrigo nach hinten fiel, hörte er den Pfiff des Schiedsrichters - Strafstoß.
Mit zusammengeballter Faust stand er auf. Nun bekam sein Team tatsächlich die Möglichkeit in Führung zu gehen. Kapitän Fernando legte sich den Ball zurecht - es stand selbstverständlich außer Frage, dass der Bandenchef das Tor erzielen wollte, und es wagte auch niemand sich ihm in den Weg zu stellen. Obwohl es sich nur um ein verhältnismäßig kleines Jugendturnier handelte, war die Spannung auf dem Platz, und ganz besonders in Rodrigos Mannschaft, bis zum Äußersten angespannt. Würden sie tatsächlich ihr erstes Tor erzielen und den Vereinsmannschaften mal die lange Nase zeigen können?
Einige Eltern der gegnerischen Mannschaft standen schon während der gesamten Begegnung am Spielfeldrand und feuerten ihre Kinder an. Nun versammelten sich ein paar von diesen hinter dem Tor - mit dem Zweck den gegnerischen Spieler, in diesem Fall Fernando, nervös zu machen. Mit Trillerpfeifen und Trommeln machten sie ein riesiges Spektakel, und Fernando wurden innerhalb dieser wenigen Augenblicke die Knie tatsächlich ein wenig weich. Der Ball lag drei Meter vor ihm - Fernando fixierte ihn konzentriert mit seinen Augen. Doch genau in dem Moment wo er anlaufen wollte, um das 1:0 zu erzielen, rief einer der gegnerischen Väter ganz laut in Fernandos Richtung: "He, dich kenne ich doch. Du hast mich letzte Woche zusammen mit deinen Gaunerbrüdern in meinem Laden bestohlen ...." Mehr wollte der Mann nicht sagen. Stattdessen lief er auf Fernando zu, um ihn sich zu schnappen. Letzterer hatte keine andere Wahl als zu flüchten. Wie gern hätte er den Ball ins gegnerische Netz befördert. Stattdessen begann nun auf dem Platz eine wilde Verfolgungsjagd.
Nach dem Ausruf des heranstürmenden Mannes begann Fernando zu laufen - als ginge es um sein Leben. Was sollte er auch anderes machen. Die anderen Gangmitglieder mitsamt Rodrigo mussten ebenfalls schnell reagieren, da sie praktisch ebenso als Diebe entlarvt worden waren wie ihr Bandenchef. Dicht gefolgt vom etwa dreißigjährigen Mann richtete Fernando seinen Blick in Richtung Ausgang des Sportplatzes. Auch seine Freunde suchten das Weite. Einige liefen zu den naheliegenden Zäunen, über die sie zügig hinwegklettern konnten und somit schnell außer Reichweite der Erwachsenen waren. Diese Flucht entwickelte sich für die Kinder zu einer regelrechten Hetzjagd. Besonders diejenigen, die zum naheliegenden Ausgang liefen, bemerkten schnell, dass ein weiteres Problem auf sie zu kam. Schließlich trugen sie noch die Trikots und Sporthosen. Denn als sie den Durchgang fast durchquert hatten, hatten sie einige der Turnierhelfer auf den Fersen, welche es selbstverständlich überhaupt nicht einsehen wollten, dass die Kinder inklusive der Kleidung einfach davon laufen wollten. Kein Wunder also, dass einige der Gangmitglieder zum Teil gleich von mehreren Erwachsenen verfolgt wurden. Zum Glück waren die Kinder eine solche Situation aber gewohnt. Flüchten mussten sie aufgrund ihrer vielen kleinen Diebstähle ziemlich häufig. Rodrigo blieb mit Fernando zusammen. "Los, ab durch die Mitte", schrie Fernando und riss Rodrigo am Arm mit sich - zum rettenden Ausgang. So gerade eben schafften es die beiden den Sportplatz ohne größere Blessuren zu verlassen.
Als sich die beiden, immer noch laufend, ein paar Straßen weiter umdrehten, sahen sie, dass sie ihre Verfolger hinter sich lassen konnten. Den anderen gelang ebenso die Flucht, so dass es am Ende doch noch ein Happyend gab - abgesehen von der Tatsache, dass Fernando nicht das herbeigesehnte Tor erzielen durfte.
Nach einer kleinen Verschnaufpause beriet sich die Gang wie es weitergehen sollte. Aufgrund der üppigen Verpflegungsration verspürten sie ausnahmsweise keinerlei Hungergefühl. Zudem hatten die Kinder noch ihre Sportsachen, die sie ohne weiteres in Geld umsetzen konnten - was sie beim nächstgelegenen Gebrauchtladen auch machten. Zum Glück hatten sie beim Turnier unter ihren Sportsachen ihre Straßenkleidung anbehalten. Sie einigten sich darauf das Geld gleichmäßig unter sich aufzuteilen.
Nun überlegten sie, was sie mit dem vielen Geld anfangen sollten, denn so viel hatten sie noch nie besessen. Fernando wollte sich ein neues Taschenmesser kaufen, Luigi einen Berg voller Süßigkeiten und auch die anderen Kinder wollten sich einen kleinen Traum erfüllen. Rodrigo dachte sehr lange nach - einen Traum hatte er natürlich auch - den Traum einmal ein bekannter Fußballer zu werden. Diesen Wunsch konnte er sich mit dem wenigen Geld natürlich nicht erfüllen. So schlenderte er durch einzelne Geschäfte und schaute sich um - er entschied sich schließlich für eine kleine Armbanduhr, ein paar Bonbons und eine Sportzeitung. Diese blätterte er gleich nach dem Kauf interessiert durch. Da er drei Jahre in der Schule gewesen war, konnte er im Gegensatz zu den meisten anderen der Gang ein wenig lesen und war von den Texten wie auch von den Fotos fasziniert. Auf jedem dieser Fotos sah er eines seiner Idole. Zum einen die aus Brasilien - aber auch die Stars aus England, Italien, Deutschland und Spanien. Rodrigo fragte sich, ob er vielleicht auch einmal ein solcher Fußballstar werden könnte. Die Zukunft sah allerdings alles andere als rosig aus.
Nach diesem spektakulären Tag kehrte in den folgenden Wochen und Monaten allmählich Routine in das Leben von Rodrigo ein. Gemeinsam mit seinen Freunden erlebte er viele Abenteuer - ob nun bei kleineren Diebstählen oder Straßenschlachten. Schön war sein Leben nach wie vor nicht. Aufzugeben kam für ihn aber nicht in Frage.
Kurz nach der Jahrtausendwende, die in Rio unvergleichlich schön war, entschloss sich Rodrigo zu einem ganz mutigen Schritt. Diese Idee hatte er schon lange gehabt, aber nicht gewagt sie umzusetzen. Anlass dafür war die Begegnung mit seinem Onkel Alfredo, den er zufällig in der Stadt traf. Sein Onkel erzählte ihm, dass es seiner Familie, seit sie bei Verwandten untergekommen war, verhältnismäßig gut ging. Rodrigo war aufgrund dieser Nachricht erleichtert. Trotzdem war dieser Umstand für ihn kein Grund seine Idee aufzugeben. Rodrigo wollte es alleine schaffen - ohne die Unterstützung der Familie. Erst recht, wo er wusste, dass seine Familie auch ohne ihn zu recht kam.
Nachdem er seinen Onkel darum gebeten hatte seiner Familie zu erzählen, dass es ihm gut ging, begann Rodrigo erstmals damit sich ernsthaft mit seinem Plan zu befassen. Schließlich hatte er mittlerweile mitbekommen, dass es für ihn in seiner Heimat kaum Möglichkeiten gab sich als Fußballer durchzusetzen. Die Konkurrenz war zu groß und das Geld zu wenig. Sein neues Lebensziel lautete von nun an: Europa - koste es was es wolle.
Als Rodrigo den anderen erzählte, dass er in Europa sein Glück versuchen wollte, hielten sie ihn für verrückt. "Glaubst du, dass du dich dort zurechtfinden wirst? Und wie willst du nach Europa kommen? Das schaffst du nie. Überleg dir das lieber noch einmal", meinte Fernando. Rodrigo wollte sich aber nicht von seinem Plan abbringen lassen. Dass es nicht leicht werden würde, wusste er. Da er weder genügend Geld für einen Flug noch für einen Ozeandampfer hatte, gab es für ihn praktisch nur eine Möglichkeit nach Europa zu kommen: Er musste sein Glück als blinder Passagier versuchen - das Risiko musste er einfach in Kauf nehmen, wenn sich sein Traum irgendwann einmal erfüllen sollte. Die Versuche der Gangmitglieder ihn doch noch umzustimmen blieben erfolglos, so dass Rodrigo seine Planungen mehr und mehr intensivierte. Er war sich natürlich bewusst, dass für den Anfang nur ein Land in Europa für ihn in Frage kam, und das war Portugal. Dort gäbe es für ihn zumindest kaum Verständigungsschwierigkeiten, da sich die brasilianische Variante der portugiesischen Sprache sehr ähnelt. Das hatte er in der Schule gelernt.
Bereits am nächsten Morgen ging er in Richtung Hafen, um nach einem Schiff zu suchen, dessen Ziel Portugal war. Diese Suche entwickelte sich allerdings schwieriger als erwartet. Schiffe aus aller Welt sah Rodrigo dort. Öltanker aus Amerika, Passagierschiffe aus Europa, Frachter aus Asien - hierbei nicht den Überblick zu verlieren war wahrlich nicht einfach. Schließlich fand er aber einen Frachter mit portugiesischer Fahne. Um auch wirklich sicher zu gehen, wohin dieses Schiff fahren würde, fragte er unschuldig einen Hafenarbeiter nach dem Weg des Frachters: "Oh, ist das ein großes Schiff - wo fährt das denn hin?" Rein gar nichts vom Plan des Jungen ahnend antwortete dieser "nach Lissabon." "Bingo", dachte Rodrigo - nun wusste er woran er war.
Allerdings musste er jetzt natürlich schnell handeln - nicht, dass das Schiff ohne ihn abfahren würde. Somit packte er schnell seine sieben Sachen - viel war es ja nicht - und machte sich dann am Abend daran sich dem genannten Frachter zu nähern.
Als es stockfinster war und er sich unbeobachtet fühlte, suchte Rodrigo nach einer Möglichkeit, wie er auf das Schiff gelangen könnte. An sich gab es des nachts keine Möglichkeit den Frachter so einfach zu betreten - zumindest keine einfache. So musste er ziemlich lange überlegen, bis er eine Lösung fand. Ein langes Seil, welches vom Schiff hinab zur Kaimauer reichte, schien ein geeignetes Mittel zu sein. Obwohl Rodrigo keineswegs kräftig war, genügte seine Sportlichkeit, um ohne große Mühe das Deck des Schiffes zu erreichen. Mit großer Vorsicht ging er dabei zu Werke. Es war aber alles still, und so hatte er genügend Zeit auf dem Schiff nach einem geeigneten Versteck zu suchen - ein Versteck welches über eine längere Zeit einen guten Schutz bieten würde.
Er schaute sich vorsichtig auf dem Schiffsdeck um. In fünf Meter Entfernung sah er eine Tür - war es die Tür zum Laderaum? Einen Versuch war es wert. Ganz langsam öffnete er sie. Als sie offen stand, sah er einen langen Gang vor sich, der kaum beleuchtet war. Nur eine kleine Deckenlampe spendete ein wenig Licht. Langsam schritt Rodrigo voran - ganz leise tat er einen Schritt nach dem anderen. Links und rechts waren eine Vielzahl an Türen - wahrscheinlich die Kabinen der Besatzung. Am Ende des Ganges war eine große Eisentür, die er nur mit viel Mühe aufbekam. Auch hinter der Tür war es kaum heller - es war die Schiffsküche. Mitten in der Nacht war hier natürlich niemand, so dass Rodrigo auf die Suche nach etwas Essbarem gehen konnte. Schnell fand er Dinge, die er seit Jahren nicht mehr vor seine Augen bekam: Pudding, Pfannkuchen, Unmengen an Fisch und Brot. Rodrigo schnalzte mit der Zunge, sein Magen schloss sich ihm an ... . So stärkte Rodrigo sich, bevor er sich auf die Suche nach einem geeigneten Platz machte.
Es dauerte ziemlich lange bis er fündig wurde. Es war ein riesiger Lagerraum. Auch dort fand er einige interessante Dinge. Besonders die Unmengen an Bananen vielen ihm ins Auge. Hinter einem großen Stapel legte er sich nieder, um ein wenig zu verschnaufen. Doch bevor er über alles nachdenken konnte, schlief er ein.
Am nächsten Morgen wachte er auf, als sich eine Tür zum Lagerraum öffnete und er ein paar Männerstimmen hörte. Sehen konnte er sie nicht, und aus seinem Versteck herauszukommen wollte er natürlich nicht. Viel verstand Rodrigo nicht von dem was sich die Männer erzählten. Sie nuschelten irgendetwas über schwere Arbeit und Halsabschneider. Nach etwa zehn Minuten, während derer er sich nicht von der Stelle rührte - die Männer waren noch immer im Lagerraum - hörte Rodrigo ein ganz leises Geräusch hinter sich. Ganz vorsichtig drehte er sich um und begann fast zu schreien, als er bemerkte, was ihn da aus ungefähr drei Metern Entfernung anblickte. Eine Vogelspinne sah ihn an. Nur mit Mühe konnte Rodrigo einen Schrei unterdrücken. Zwar sind Vogelspinnen in Brasilien keine Seltenheit - ein schöner Anblick sind sie für die meisten Menschen aber trotzdem nicht. Bei der Bananenernte war diese nicht aufgefallen, und so machte sich diese wie Rodrigo auch, allerdings völlig unbeabsichtigt, als blinder Passagier auf die weite Reise nach Portugal.
Verängstigt betrachtete er die behaarte Spinne, die im Gegensatz zu Rodrigo die Ruhe selbst war. Sie saß einfach so da und streckte eines ihrer Beine in die Höhe - es wirkte fast wie eine Begrüßung. Einen kurzen Moment später hörte er wie die Tür wieder zufiel. Nun war Rodrigo wieder alleine - zumindest fast. Angst schien die Spinne wirklich nicht zu haben. Spielerisch kletterte sie die Bananenstaude hinunter und näherte sich ihm Schritt für Schritt. Rodrigo war davon logischerweise nicht besonders begeistert. Kurz bevor die Spinne ihn erreichte, machte Rodrigo einen großen Sprung zur Seite - und noch einen. Sicher ist sicher dachte er sich. Die Vogelspinne schien aber allmählich das Interesse an diesem Zweibeiner zu verlieren und verkrümelte sich unter einem großen Stapel Bananen. "Ein Glück", flüsterte Rodrigo zu sich selbst.
Bis zum Abend hatte er Ruhe - vor der Besatzung, wie auch vor der Spinne. In der Nacht machte er sich wieder auf den Weg in die Schiffskombüse, wo er sich wiederum reichlich bediente. Allerdings nahm er von allem nur ein wenig, damit es nicht auffiel. Am Schunkeln des Schiffes merkte er, dass der Frachter sich mittlerweile auf den Weg nach Lissabon gemacht hatte.
Die folgenden Tage verliefen ziemlich unspektakulär. Der Lagerraum wurde von den Besatzungsmitgliedern nur selten betreten und die Spinne beschränkte sich auch nur auf gelegentliche Überraschungsbesuche. Nach einer Woche hatte sich Rodrigo an die Situation gewöhnt. Selbst die Spinne - er hatte sie mittlerweile nach dem Namen seines Onkels Alfredo getauft - konnte ihn nicht mehr erschrecken. An sich war sie ja auch harmlos. Auf plötzliche Bewegungen verzichtete Rodrigo aber schon, sofern er in der Nähe von Alfredo war.
Die Nahrungsversorgung war für beide kein Problem. Rodrigo genoss die gute Schiffsküche, wenn auch nicht legal, und die Spinne fand genügend Kleingetier um wie Rodrigo die Überfahrt gut zu überstehen. Fraglich war allerdings, ob Rodrigo bei der Ankunft ebenso unbemerkt das Schiff verlassen könnte, wie vor der Abfahrt. Er wusste zwar nicht, wie lange die Überfahrt dauern würde. Sicher war er sich aber schon, dass Portugal mittlerweile nicht mehr sehr weit entfernt sein konnte.
Besonders konkret waren Rodrigos Vorstellungen bezüglich seiner neuen Heimat noch nicht - große Sorgen machte er sich aber keineswegs. Und wenn seine Stimmung tatsächlich mal schlecht war, hatte er zur Aufmunterung immer noch seine zwei Jahre alte und völlig abgegriffene Sportzeitung, um der Langeweile ein Schnippchen zu schlagen. Jeden Tag schaute er sich die Stars der Fußballwelt an.
Besonders interessant war das Leben im Laderaum aber verständlicherweise nicht. Überall Kisten mit Bananen, kein Tageslicht, und sein Begleiter war auch nicht besonders unterhaltsam.
Eines Morgens wurde Rodrigo aus dem Schlaf gerissen. Wieder kamen Männer in den Raum. In diesem Fall waren es aber mehr als sonst, und sie schienen irgendetwas vor zu haben. Schnell wurde Rodrigo klar, dass der Hafen von Lissabon wohl in Kürze erreicht werden würde - das Ausladen sollte beginnen. Nun war guter Rat teuer. Wie sollte er aus dem Lagerraum entkommen, ohne von den Arbeitern bemerkt zu werden? Rodrigo hatte eigentlich keine Chance. Er konnte höchstens darauf warten, dass sich für ihn eine günstige Möglichkeit zur Flucht ergeben könnte. Nach und nach leerte sich das Lager. Rodrigo schlich sich von einem Bananenstapel zum nächsten und wartete.
Nach einer halben Stunde machten die Arbeiter eine Pause und setzten sich im Lagerraum zusammen um sich für die weitere Arbeit zu stärken. Diese Situation musste Rodrigo ausnutzen. Er zählte in Gedanken bis zehn und flitzte dann los - den Weg nach draußen kannte er ja. Wie erwartet entwickelte sich die Flucht zu einer weiteren Hetzjagd - wie vor zwei Jahren auf dem Fußballplatz. Nun, mit zwölf Jahren, war er noch etwas schneller und wendiger. Er flitzte durch die Schiffsküche, die tagsüber natürlich nicht leer war. Den Überraschungsmoment nutzte er aber mehrfach aus und flitzte zur einen Tür rein und zur anderen Tür raus, bevor die Männer überhaupt wussten was geschah.
Einen Flur nach dem anderen durchquerte Rodrigo ohne größere Schwierigkeiten. Er war sich ganz sicher: Nur noch ein Gang und eine Tür und er wäre an Deck und hätte mit einem Hechtsprung ins Wasser die Möglichkeit seine Verfolger endgültig abzuschütteln. Und tatsächlich - er schaffte es. Er durchquerte die letzte Tür und war nach vielen Tagen im Dunkeln wieder im Freien. "Geschafft", dachte Rodrigo und wollte ins Wasser springen, um dann zum Hafen zu schwimmen. Doch als Rodrigo sich in alle Richtungen umblickte, stellte er fest - es war kein Land in Sicht. Er saß in der Falle. Ein Hechtsprung ins Wasser wäre ohne Aussicht auf Erfolg gewesen.
Die Männer hatten ihn mittlerweile eingeholt und bildeten einen Kreis um ihn. "Na, wen haben wir denn da? Einen kleinen blinden Passagier", sagte einer der Männer mit leicht amüsiertem Unterton. Rodrigo ergab sich seinem Schicksal und schwieg - was sollte er auch anderes machen ... . "Du brauchst keine Angst vor uns zu haben. Wir hatten schon viele von deiner Sorte an Bord, und glaube mir: Bisher haben wir noch keinem die Ohren langgezogen", sagte ein anderer mit breitem Grinsen. Ein verlegenes Lächeln huschte kurz über Rodrigos Gesicht - er hatte von der Besatzung eine ganz andere Reaktion erwartet. Er hatte gedacht, dass sie ihn in eine Zelle sperren und dann der Polizei in Lissabon übergeben würden. Stattdessen gaben sie ihm sogar etwas zu essen zu trinken. "Nun stärk dich erst einmal - du konntest ja seit Tagen nur halbreife Bananen essen", sagte ein weiterer und reichte Rodrigo eine große Scheibe Brot mit Wurst und ein Glas mit Milch. Von seinen nächtlich Besuchen in der Schiffsküche erzählte Rodrigo natürlich nichts. Während er aß, erfuhr er, dass die Bananen so früh an Deck gebracht wurden, damit sie gleich nach dem Anlegen im Hafen von Bord gebracht werden konnten.
Mittlerweile war am Horizont Land in Sicht - Portugal. Die Männer wiesen ihn darauf hin, dass er großen Ärger bekommen würde, wenn die Männer vom Zoll ihn auf dem Schiff finden würden. Daher rieten sie ihm sich in einer Schiffskabine zu verstecken. "Da bist du sicher. Wenn die Luft wieder rein ist, melden wir uns bei dir. Wir haben wirklich kein Interesse, dass sie dich wieder zurück nach Brasilien schicken. Das kannst du uns glauben", wurde ihm gesagt, und mit diesen Worten ging er zu den Kabinen und versteckte sich.
Nach drei Stunden langen Wartens, das verriet ihm seine Uhr, meldeten sie sich bei ihm, und er konnte aus seinem Versteck herauskommen. Danach ging alles ziemlich schnell. Inmitten einer großen Holzkiste trugen sie Rodrigo vom Schiff und brachten ihn an den Rand des Hafens und wünschten ihm viel Glück. Rodrigo stieg aus und winkte den davongehenden Männern hinterher.
Altbekannte Probleme begegneten ihm nun aufs Neue. Kein Geld, keine Wohnung und völlig allein, und das auch noch in einem Land, das er überhaupt nicht kannte. Selbst Alfredo, die Spinne, war nun nicht mehr bei ihm. Diese machte mittlerweile Portugal unsicher. Mitsamt den Bananen war sie in einen Container verfrachtet worden, welcher für den Einzelhandel gedacht war. Somit trennten sich die Wege der beiden blinden Passagiere.
Zumindest war ihm aber die Sprache weitestgehend vertraut. In seiner völlig verdreckten Kleidung machte er sich auf den Weg in die Stadt, um sich ein erstes Bild von seiner neuen Heimat machen zu können. Im Vergleich zu Rio war Lissabon eine saubere Stadt - zudem schien es hier lange nicht so viele arme Menschen zu geben wie in Brasilien. Es war eine völlig neue Welt für Rodrigo, aber sie gefiel ihm. Aufgrund seines vernachlässigten Aussehens wurde er von einigen Leuten aber ziemlich seltsam angesehen - fast so als wenn er ein Schandfleck wäre. Rodrigo ließ sich von den zum Teil abfälligen Bemerkungen jedoch nicht beirren und ging durch die Straßen von Lissabon - er wirkte dort wie ein Fremdkörper. Gerade weil er in diese Gegend überhaupt nicht hineinzupassen schien, sprach ihn ein älterer Mann an. Er stellte sich mit dem Namen Roberto vor und war ein Sozialarbeiter, der sich um die Straßenkinder dieser Stadt kümmerte. "Hallo du, kann ich dir helfen?", fragte der fremde Mann. Er machte auf Rodrigo einen ganz sympathischen Eindruck. "Äh ja - ich komme aus Brasilien, bin hier völlig allein und möchte einmal ein bekannter Fußballer werden", erwiderte Rodrigo. Roberto lachte laut und meinte dazu: "Von deinem Kaliber hatten wir hier schon einige. Glaubst du wirklich, dass es hier viel leichter ist, als in Brasilien? Hier gibt es auch viele Kinder, die Fußballer werden wollen - das möchte fast jeder kleine Junge in Lissabon." Diese Antwort gefiel Rodrigo selbstverständlich überhaupt nicht. Ihm war die Enttäuschung anzumerken. Roberto versuchte ihn zu trösten: "Nun lass mal nicht gleich den Kopf hängen. Reden wir lieber darüber wie du über die Runden kommen möchtest. Du hast doch bestimmt Hunger, und eine Unterkunft hast du doch mit Sicherheit auch noch nicht gefunden." Rodrigo nickte - der Mann hatte seine Situation völlig richtig eingeschätzt. Das war aufgrund Rodrigos Aussehen allerdings auch nicht allzu schwer.
Nachdem er Roberto das Wichtigste von sich erzählt hatte - dass er noch Eltern besaß ließ er verständlicherweise unerwähnt - nickte der Mann zustimmend und sagte: "Na, da hast du ja schon einiges hinter dir, und noch einiges vor dir, wenn du dein Ziel wirklich erreichen möchtest. Komm mal mit - wir haben hier in Lissabon eine Unterkunft für Kinder und Jugendliche, die kein zu Hause mehr haben. Da kannst du dich von deiner langen Schiffsreise erholen." Das hörte sich alles ganz gut an.
Rodrigo war der Meinung, dass er Roberto vertrauen konnte, und so ging er mit ihm mit. Unterwegs ging ihm noch einmal der vergangene Monat durch den Kopf: Das zufällige Treffen mit seinem Onkel Alfredo, der Abschied von seinen Freunden und die abenteuerliche Reise als blinder Passagier auf dem Frachter. Rodrigo war trotz allem mit sich zufrieden. In Anbetracht der Umstände, die er jeden Tag zu bewältigen hatte, war es allein schon ein Erfolg Portugal überhaupt erreicht zu haben. Und eben hier in Portugal sollte sich nun, so hoffte Rodrigo, alles zum Guten entwickeln.
Zum Guten entwickelt hatte sich das Leben seiner Familie seit sie bei Verwandten unterkommen konnte. Der Vater bekam eine leichte Büroarbeit, die er auch trotz seiner Gehbehinderung durchführen konnte. Diese Tätigkeit bekam er allerdings nur, da die Familie wieder einen angemessenen Wohnsitz hatte. Paolo konnte mittlerweile wieder zur Schule gehen und die Mutter genoss mitsamt ihren beiden kleineren Kinder den deutlichen Anstieg an Lebensqualität. Aufgrund der sich allmählich verbessernden Lebensbedingungen, dachte Rodrigos Vater sogar schon daran sich für die Familie wieder eine eigene Wohnung zu suchen. Auch die Kenntnis, dass es ihrem Sohn den Umständen entsprechend ganz gut ging, sorgte für Erleichterung, wenngleich dies natürlich nicht die ganze Wahrheit war. Schließlich hatte Rodrigo seinem Onkel Alfredo die Situation etwas verschönt dargestellt. Trotz der guten Nachricht hoffte die Familie aber, dass ihr Sohn bald nach Hause kommen würde. Dass dies noch einige Jahre dauern würde, konnten sie natürlich nicht ahnen.
Für einen Durchschnittsbürger sah die neue Unterkunft von Rodrigo nicht besonders gemütlich aus. Es war ein ziemlich heruntergekommenes Haus mit verwildertem Vorgarten - er war aber mehr als zufrieden. So hatte er hier ein Bett ganz für sich allein. Dass sein Bettlaken kratzte und die Matratzen quietschten, machte ihm überhaupt nichts aus. Nachdem er sich den anderen Kindern und Jugendlichen vorgestellt hatte und ein wenig zu Essen bekommen hatte, legte er sich auf sein Bett, schlief ein und träumte von seinem großen Ziel.
Am nächsten Morgen ging es für Rodrigo sogleich zu den örtlichen Behörden. Roberto hatte ihm nämlich geraten, sich so schnell wie möglich einen Pass zu besorgen. Mit einem Personalausweis würde das Leben für ihn in Lissabon viel leichter werden. Das galt nicht nur für eine spätere Wohnungssuche, sondern auch bei der Suche nach Arbeit. Allerdings würde das Ganze viel Zeit und Geduld erfordern versuchte ihm Roberto schon einmal vorzuwarnen, denn auch die Behörden in Lissabon lassen sich nicht gerne hetzen - erst recht nicht von einem Straßenjungen aus Brasilien. Bis dahin konnte Rodrigo seine Unterkunft behalten und sich mit seiner neuen Umgebung vertraut machen.
Hin und wieder spielte er auf einem naheliegendem Sportplatz mit anderen Jugendlichen. Er merkte aber, dass ihm das auf Dauer nicht genügen würde. In diesem Punkt konnte ihn Roberto aber schnell beruhigen, da die Stadt Lissabon vor einigen Jahren ein Programm entwickelt hatte, um die Straßenkinder, und wenn es auch nur für ein paar Stunden war, von der Straße zu holen. Dreimal in der Woche gab es im naheliegendem Verein Belenenses Lissabon für Straßenkinder die Möglichkeit beim normalen Vereinstraining mitzumachen. Es handelte sich hierbei um eine Zusammenarbeit zwischen der Stadt Lissabon, der Sozialbehörde und verschiedenen Sportvereinen. Rodrigo war begeistert: "Da möchte ich unbedingt mitmachen - am besten gleich heute." Roberto musste aber, ob er wollte oder nicht, Rodrigos Euphorie fürs Erste bremsen. "Erst einmal müssen wir für dich einen Pass besorgen. Auch ärztliche Untersuchungen musst du noch über dich ergehen lassen. Erst dann - so in etwa zwei bis drei Monaten - kannst du dann mittrainieren. Bis dahin kannst du ja schon mal für dich allein oder mit den anderen Jugendlichen nebenan trainieren. Das ist doch besser als nichts". Rodrigo musste einmal kräftig schlucken: "So lange?", murmelte Rodrigo vor sich hin ... bis er zu der Erkenntnis kam, dass das gar nicht schlimm war. Er tat in der Folgezeit einiges für seine Kondition, damit er beim ersten wirklichen Training auch einen guten Eindruck machen würde.
Die Passaustellung hatte noch ein paar Tage länger gedauert, als Roberto gesagt hatte. Das lag in erster Linie daran, dass Rodrigo überhaupt keine Papiere bei sich trug. Nun hatte er sie aber, die ärztliche Untersuchung verlief auch ohne irgendeinen negativen Befund, und so durfte Rodrigo von nun an bei einem richtigen Fußballverein regelmäßig am Training teilnehmen.
Mit Herzklopfen ging Rodrigo mit drei anderen Jugendlichen aus der Unterkunft zum Sportplatz. Roberto war auch mitgekommen, um dem Verein die Trainingserlaubnis vorlegen zu können. Allerdings war der Sozialarbeiter auch neugierig wie gut Rodrigo tatsächlich mit dem Ball umgehen konnte.
Es wurde auf einem der vielen Plätze neben dem Stadion trainiert. Insgesamt nahmen rund zwanzig Jugendliche - alle so im Alter von Rodrigo - teil. Die meisten waren Vereinsmitglieder - bis auf die besagten vier aus der Unterkunft. Die anderen drei Straßenkinder waren im Gegensatz zu Rodrigo schon länger dabei und konnten somit Rodrigo einiges über den Trainingsablauf erzählen. Sie hatten ebenso positive wie negative Dinge zu berichten, wobei die angenehmen Dinge klar auf der Hand lagen. Es machte den dreien ebenso wie Rodrigo einen riesigen Spaß Fußball zu spielen - erst recht bei einem offiziellen Training. Weniger schön fanden es die drei allerdings, dass sie weder von den Trainern, noch von den anderen Jugendlichen richtig akzeptiert wurden. Während des Trainings wurden sie immer wieder schief angesehen, da sie nur in einer Unterkunft für Straßenkinder lebten.
Das Training begann um 18 Uhr. Nach dem Ankleiden ging es auf den Platz. Schon während Rodrigo den Platz betrat, wurde er von der Seite mit "schon wieder so ein Gossenjunge" nicht gerade freundlich begrüßt. Rodrigo ließ sich davon aber nicht beeinflussen, sondern richtete seine ganze Konzentration auf die kommende Stunde, in der er den anderen zeigen wollte, was er schon so alles konnte. Nach dem üblichen Aufwärmen wurden die Jugendlichen in vier Gruppen eingeteilt, so dass auf jeweils halber Spielfeldgröße auf kleine Tore gespielt werden konnte.
Rodrigo hatte bei der Einteilung allerdings Pech - in seiner Gruppe waren nur Vereinsmitglieder. Da von denen keiner Lust hatte ins Tor zu gehen, musste Rodrigo diese Position übernehmen - ob er nun wollte oder nicht. Obwohl Rodrigo noch nie im Tor gestanden hatte, wollte er nicht meckern. Seine Körpergröße von 1,60m machte es der anderen Mannschaft allerdings ziemlich leicht ihn immer wieder zu bezwingen. Ein ums andere mal wurde er von seinen Mitspielern angeraunzt. Viel zu oft musste Rodrigo hinter sich greifen.
Zum Glück hatte der Trainer aber ein Einsehen und ordnete einen Wechsel an, so dass ein anderer ins Tor musste. Der ins Tor beorderte Jugendliche wollte sich zwar beschweren - der Blick seines Trainers ließ ihn jedoch verstummen. "Nun mecker hier bloß nicht rum. Du spielst doch häufig genug in der Spitze. Gib dem anderen doch zumindest eine Chance. So schlecht wie er im Tor war, wird er mit Sicherheit nicht auch als Feldspieler sein", meinte dieser. Genau das wollte Rodrigo beweisen. Gleich den ersten Ball, der in seine Nähe kam, schnappte er sich und zog mit dem Ball davon in Richtung Tor. Mit voller Wucht drosch er den Ball in Richtung rechten Winkel - doch der Keeper faustete ihn aus der Gefahrenzone. "Gar nicht so schlecht der Schuss", sagte der Trainer am Spielfeldrand und versuchte damit Rodrigo ein wenig Mut zu machen. Und das gelang ihm in der Tat. Gleich sein nächster Schuss landete unhaltbar unten links im Tornetz. Obwohl dies nur ein Trainingsspiel war, fing Rodrigo an zu jubeln. Er schnappte sich den im Tor liegenden Ball, riss ihn in die Höhe und genoss diesen Moment für eine Weile. Dann lief er mit dem Ball Richtung Anstoßpunkt. Auch in der Folgezeit lief bei ihm fast alles wie am Schnürchen. Es war zwar nicht so, dass er die anderen in Grund und Boden spielte - er war den anderen gegenüber aber zumindest gleichwertig. Allerdings wurde seine Leistung vom Trainer nur im Ansatz gewürdigt. Mehr als ein "war gar nicht so schlecht für den Anfang" war von ihm nicht zu hören. Und seine Mitspieler waren sowieso still - kein Wort des Lobes kam über ihre Lippen. Sie schienen wohl zu stolz zu sein die Leistung eines Straßenjungen zu würdigen. Dies taten aber seine drei Freunde aus der Unterkunft, und im Anschluss des Trainings auch Roberto, der das Training aus weiter Entfernung ausnahmsweise mitverfolgt hatte. "Mensch, du hast ja richtig was drauf. Das hatte ich dir eigentlich nicht zugetraut", meinte Roberto später. Dieses Kompliment nahm Rodrigo gerne entgegen.
Auch in den folgenden Wochen und Monaten ging es für Rodrigo bergauf. Tagsüber war er mit den anderen von seiner Gruppe auf der Straße - insbesondere zum Fußballspielen. Hin und wieder verteilte Rodrigo aber auch ein paar Zeitungen oder Prospekte um sich ein wenig Geld zu verdienen. Abends kamen sie dann immer alle wieder zusammen und erzählten sich, was sie so alles erlebt hatten.
Im folgenden Sommer 2001 hatte Roberto eine ganz besondere Überraschung für seine Schützlinge parat. Er hatte sich einen kleinen Fernseher besorgt, um ihnen einmal die Möglichkeit zu geben ein Fußballspiel im Fernsehen zu verfolgen. Als er den Apparat präsentierte, kreischten die Kinder vor Freude. Die Jugendlichen hielten sich zwar äußerlich etwas zurück - trotzdem konnte Roberto ihnen ansehen, dass sie sich ebenso darauf freuten. Es lag momentan sowieso eine besondere Spannung in der Luft, da praktisch in ganz Europa die entscheidende Phase in Sachen Fußball begann. In Portugal, wie auch in England, Italien, Deutschland und Spanien - überall war die Spannung auf dem Höhepunkt. Die Saison 2000/2001 war in der Tat nichts für schwache Nerven. In Portugal schien die jahrelange Vormachtstellung der beiden beherrschenden Clubs Benfica Lissabon und FC Porto zumindest für ein Jahr unterbrochen zu werden, da Außenseiter Boavista Porto das Rennen zu machen schien. Dies interessierte Rodrigo allerdings nicht sehr - schließlich fühlte er sich nach wie vor als ein Brasilianer - auch wenn er jetzt einen portugiesischen Pass besaß. Vom brasilianischen Fußball wurde allerdings kaum berichtet. Guten Fußball sah er aber trotzdem. Er sah wie die Millionentruppe aus Manchester wieder die Meisterschaft an sich reißen konnte. In Italien erkämpfte sich der große AS Rom die italienische Meisterschaft. In Spanien war die Startruppe von Real Madrid nicht zu stoppen, und in Deutschland gab es gar ein Herzschlagfinale in der Nachspielzeit. Die anschließenden Jubelarien in Rom und München hinterließen einen großen Eindruck bei Rodrigo, und mit seinen dreizehn Jahren hatte er ja auch noch genügend Chancen ein bekannter Fußballer zu werden.
Woche um Woche verging. Rodrigo entwickelte sich allmählich zu einer festen Größe in seiner Mannschaft. Allerdings durfte er ausschließlich beim Training teilnehmen, da er kein offizielles Vereinsmitglied war. Mittlerweile arbeitete Rodrigo regelmäßig, so dass er zumindest genügend Geld für Essen und Trinken zusammenbekam. Genau dies war auch der Zweck der Initiative mit der Kinder und Jugendliche Schritt für Schritt von der Straße geholt werden sollten, damit sie nicht den Sprung ins Arbeitsleben verpassten und mittelfristig ein normales Leben führen könnten. Rodrigo war auf dem besten Weg das irgendwann einmal zu schaffen.
Technisch machte er immer mehr Fortschritte - auch konditionell ging es bergauf. Aufgrund der sich verändernden Lebensbedingungen, nahm Rodrigo innerhalb des Jahres in dem er sich in Portugal befand insgesamt 10 Kg zu.
Mittlerweile lebte er in einer Wohngemeinschaft - zusammen mit zwei weiteren ehemaligen Mitbewohnern der Unterkunft. Die Wohnung wurde noch in geringem Maße vom Staat gefördert - im großen und ganzen konnten sich die drei ihr Leben - soweit dies schon möglich war - selber finanzieren. Allen dreien wurde eine leichte Arbeit in einer naheliegenden Fabrik zugewiesen. Aufgrund dieser regelmäßigen Tätigkeit wurden sie mehr und mehr zu einem selbständigem Leben erzogen ... und das, obwohl keiner der drei Jungen das 14. Lebensjahr erreicht hatte. Allerdings standen sie natürlich unter ständiger Kontrolle der Sozialbehörde. Roberto kam sie jeden Tag kurz besuchen, um sich zu erkundigen, wie es ihnen geht, oder ob sie irgendwelche Probleme haben.
Im August 2001 hatte Roberto eine Überraschung für Rodrigo - genaugenommen war es eine Idee. Da Rodrigo mittlerweile genügend Geld verdiente, war es nach Robertos Meinung an der Zeit dem Verein offiziell beizutreten. Rodrigo war auf diese Idee bis dahin nicht gekommen - er war schon glücklich genug, dass er regelmäßig trainieren durfte, und da es regelmäßig Trainingsspiele gab, war er ganz zufrieden. Nun tat sich für Rodrigo aber eine ganz neue Welt auf, denn jetzt hätte er die Möglichkeit, an Pflichtspielen teilzunehmen. Schnell lief er zum Vereinshaus und besorgte sich ein Anmeldeformular. Nach einer Unterschrift von Roberto flitzte er schnurstracks wieder zurück und warf das Formular in den Briefkasten. Nun musste er nur noch warten.
Eine lange Woche musste Rodrigo warten, bis die Antwort endlich kam - dann war er offizielles Mitglied beim Verein Belenenses Lissabon und war somit auch endlich spielberechtigt, sofern ihn der Trainer aufstellen würde. In diesem Punkt musste sich Rodrigo aber keinerlei Sorgen machen. Der Trainer, und sogar die meisten Spieler, hatten ihn mittlerweile als vollwertiges Mannschaftsmitglied akzeptiert.
Jetzt musste er nur noch eifrig weitertrainieren, um auf den Beginn seiner ersten Fußballsaison in Portugals Jugendklasse vorbereitet zu sein.
Zu recht hatte er sich große Hoffnungen gemacht, dass er sich dort als Stammspieler etablieren könnte. Doch bevor die Saison tatsächlich begann, veränderte sich Rodrigos Situation schlagartig. Auf seiner Position im zentralen Mittelfeld wurde ihm nun ein Konkurrent vor die Nase gesetzt, der kaum auszuschalten war. Der neue Spieler war nämlich kein geringerer als der Sohn des Trainers. Da dieser zudem auch noch ziemlich talentiert war, ahnte Rodrigo, dass seine Zukunft doch nicht so rosig aussah, wie er zuletzt gedacht hatte.
Unglücklicherweise waren die anderen Positionen fest besetzt, so dass Rodrigo mit dem Neuling um den offenen Platz kämpfen musste. Er war sich bewusst, dass er den Trainer nur durch uneingeschränkte Leistungsbereitschaft überzeugen konnte. Deshalb ackerte er noch zusätzlich zu den üblichen Trainingseinheiten. Jeden Abend machte er einen Dauerlauf durch die Stadt und spielte so oft es möglich war mit den Straßenkindern auf den umliegenden Sportplätzen. Er ließ nichts unversucht. Zu spät bemerkte er allerdings, dass er sich zu viel zugemutet hatte. Eine Woche vor Saisonbeginn war es noch der übliche Muskelkater - doch fünf Tage später zog er sich einen Muskelfaserriss zu, wie sich später herausstellte. Roberto versuchte ihn bei seinen täglichen Besuchen zu trösten: "Ein paar Wochen Pause werden dir bestimmt gut tun. Dein Leben kann ja nicht nur aus Fußball bestehen. Was hältst du davon, wenn du die nächste Zeit etwas für deine Bildung unternimmst. Ein bisschen Lesen, Schreiben und Mathematik werden dir sicherlich nicht schaden."
Rodrigos Chancen der Stammelf anzugehören sanken nun natürlich beträchtlich. Wenn der Sohn des Trainers schon auf seiner Position spielte, war es schwer ihn wieder auf die Ersatzbank zu vertreiben. Dafür widmete er sich anderen Dingen. So schrieb er zum Beispiel einen Brief an seinen Onkel Alfredo, um von ihm die neue Adresse seiner Eltern zu erfahren. Jetzt, wo es die ersten kleinen Erfolge zu vermelden gab - trotz der Verletzung - wollte er seine Familie darüber informieren, dass es ihm mittlerweile ganz gut ging. Rodrigo wusste natürlich, dass er auf eine entsprechende Antwort seines Onkels aus Brasilien lange warten musste. Es könnten Wochen vergehen - sofern der Brief überhaupt bei ihm ankam.
Neben den üblichen Regenerationsmaßnahmen versuchte Rodrigo seinen Wissensstand ein wenig aufzubessern. Viel Freude hatte er an den verschiedenen Schulthemen allerdings nicht. Erst recht nicht, weil mittlerweile schon einige Spieltage vorbei waren und er immer noch nicht mitspielen konnte. Zudem machte der Sohn des Trainers, er hieß Miguel, einen guten Eindruck in der Mannschaft. Besonders motivierend war dies für Rodrigo selbstverständlich nicht.
Es dauerte noch mehrere Wochen bis Rodrigo wieder seine fußballerischen Qualitäten im Training unter Beweis stellen konnte. Miguel konnte er von seiner Position nicht verdrängen. Auf der linken Außenbahn war allerdings ein Platz freigeworden - diesen nahm Rodrigo natürlich gerne ein.
Das nächste Saisonspiel, und somit das erste für Rodrigo, war gegen die Jugendmannschaft des großen FC Porto. Es handelte sich um ein Auswärtsspiel, so dass Rodrigo die Möglichkeit bekam ein wenig mehr von Portugal zu sehen. Er genoss die Busfahrt - ganz besonders die südländische Landschaft, die ihn zum Teil an seine ferne Heimat erinnerte. Einige Tage zuvor hatte er den Antwortbrief von seinem Onkel mitsamt der neuen Adresse seiner Eltern bekommen. Er überlegte sich nun im Bus, was er ihnen alles schreiben könnte.
Als Rodrigo aus dem Bus ausstieg, sah er das riesige Stadion des FC Porto. Schade, dass er dort nicht spielen konnte, dachte er sich. Die Flutlichtmasten ragten bis in den blauen Himmel. Er konnte zwar nicht in das Stadion hineinsehen - allein die äußeren Ausmaße verrieten ihm aber, dass es ein unglaublich schönes Gefühl sein musste dort auf dem Rasen um Punkte kämpfen zu können.
Der Trainer versuchte ihnen vor dem Spiel Mut zu machen: "Denkt daran, was ich euch im Training immer gesagt habe. Ihr könnt jeden Gegner schlagen ... wenn ihr wollt." Mit diesen Worten ließ er seine Spieler auf den Nebenplatz des FC Porto laufen. Ein paar hundert Zuschauer hatten sich dort eingefunden.
Das Wetter war perfekt: Sonne, blauer Himmel, ungefähr 20 Grad. Als der Schiedsrichter die Begegnung anpfiff, bekam Rodrigo Gänsehaut. Seine Gefühle gingen mit ihm durch. Zum einen genoss er es auf dem Platz zu sein und den Zuschauern eine gute Leistung präsentieren zu können. Zum anderen dachte er an seine Familie und wie stolz sie wohl wäre, wenn sie ihn jetzt sehen könnte. Er hatte merklich Probleme sich zu konzentrieren. Der erste Ball, den er bekam, versprang ihm glatt und kullerte direkt vor den Füßen seines Trainers über die Seitenauslinie. Der Blick seines Coaches verfinsterte sich. "Rodrigo, konzentrier dich - solche Fehler machst du doch sonst nicht - reiß dich zusammen", raunzte der Trainer ihn an. So unangenehm die Kritik des Trainers auch war - er hatte ja recht. Rodrigo versuchte nun ausnahmslos an das Spiel zu denken.
Die Mannschaft des FC Porto war in der Tat bärenstark - wie erwartet. Das war auch nicht überraschend. Schließlich kommen die besten Jugendlichen in der Regel immer zum FC Porto oder zu Benfica Lissabon. So war es nicht verwunderlich, dass auch seine Teamkollegen hin und wieder einen Fehler machten, was zugleich dem Trainer Zornesröte ins Gesicht brachte. Nach und nach ging das Spiel der Gäste aber in geordnete Bahnen. Die Anfangsoffensive des FC Porto konnte überstanden werden. Es zeigte sich, dass auch Rodrigos Team über einige gute Spieler verfügte. Ganz besonders stach dabei Miguel hervor, der sich zum Lenker und Denker der Mannschaft herauskristallisiert hatte. Sofern der Gegner ihm genügend Platz ließ, konnte er sehr zielgenaue Pässe schlagen, von denen diesmal allerdings nur in seltenen Fällen wirklich Gefahr ausging.
Mitte der ersten Halbzeit gab es einen Freistoß in Strafraumnähe für die Gastgeber. Rodrigo stellte sich zusammen mit fünf anderen Teamkameraden zusammen und bildete mit ihnen eine Mauer. Als der Pfiff ertönte und der gegnerische Spieler auf den Ball zulief, machte sich Rodrigo für einen Sprung bereit, damit der Ball nicht über die Mauer ins Tornetz fliegen konnte. Doch der scharfgeschossene Ball flog ihm nicht in Kopfnähe entgegen, sondern knallte ein gutes Stück tiefer mitten in die Mauer hinein. Sein neben ihm stehender Teamkamerad bekam den Lederball mit voller Wucht an die Brust gedroschen, wonach er ächzend zusammenbrach und sich kaum noch rührte - es war Miguel. Im Handumdrehen liefen ein Vereinsarzt und der Trainer auf den Platz in Richtung Miguel. Nur ein leises Wimmern war von ihm zu hören. Der Vereinsarzt schaute ihn sich kurz an, schüttelte mit dem Kopf und sagte dann: "Keine Chance - er muss vom Platz und am besten gleich ins Krankenhaus zur Röntgenaufnahme. Das könnte etwas Ernstes sein."
Der Trainer blickte wie geschockt seinen Sohn an - allerdings nur für einen kurzen Moment. Für Sentimentalitäten war keine Zeit. Rodrigo musste daher nicht lange warten, bis der sehnsüchtig erwartete Satz aus dem Mund des Trainers kam: "Rodrigo, du wirst seinen Platz einnehmen - ich vertraue dir." Abgesehen von den unglücklichen Umständen fiel Rodrigo nun ein Stein vom Herzen - er hatte seine Stammposition wieder. Nachdem Miguel vom Platz getragen wurde, ging das Spiel weiter. Im zentralen Mittelfeld zu spielen war für Rodrigo reine Routine. Er fühlte sich dort pudelwohl, da er dort Verantwortung übernehmen durfte. Bis zum Pausenpfiff geschah nicht mehr viel. Der FC Porto drückte zwar auf das Lissabonner Tor - wirklich konstruktiv wirkten deren Offensivaktionen allerdings nicht.
Während der Pause verlor der Trainer kaum Worte. Er dachte fast nur an seinen Sohn, der bereits auf dem Weg ins Krankenhaus war.
In der zweiten Hälfte versuchten es die Gäste nach wie vor mit ihrer Kontertaktik. Chancen blieben Mangelware. Einen Torschuss hatte Rodrigo zu verzeichnen. Der Ball war aber eine sichere Beute des Keepers. Auf der Gegenseite hatte Lissabon bei einem Pfostenschuss der Gastgeber Glück.
Fünf Minuten waren noch zu spielen. Es schien alles auf ein 0:0 hinauszulaufen. Doch als der hochfavorisierte FC Porto am Ende nach Anordnung des Trainers alles nach vorne warf, war die Zeit für Rodrigos Team gekommen. Kurz vor dem Abpfiff zeigten sie den Zuschauern einen blitzsauber vorgetragenen Konter. Als ein Befreiungsschlag in die Nähe des Anstoßkreises flog und dort genau vor die Füße von Rodrigo sprang, sah er die große Chance. Er spurtete mit dem Ball geradewegs auf das gegnerische Tor zu. Einen Defensivspieler schüttelte er schnell ab, so dass ihm ein paar Meter vor ihm nur noch der Libero im Weg stand. Mit einem gezielten Pass bediente Rodrigo den mitlaufenden Rechtsaußen, der sich ungehindert auf den Weg zum rechten Strafraumeck machte. Bevor sich die gegnerische Defensive wieder formieren konnte, landete die Flanke des Rechtsaußen genau auf dem Fuß von Rodrigo, der mit einem Volleyschuss alles klar hätte machen können. Und tatsächlich: Sein strammer Schuss konnte vom FC-Keeper nicht pariert werden, so dass die Sensation nach dem Abpfiff tatsächlich perfekt war. Die Spieler von Rodrigos Team rissen die Hände in die Höhe und bildeten dann eine Spielertraube, in dessen Mitte Rodrigo fast erdrückt wurde. Doch das nahm er gerne in Kauf. Ein zufriedenes Grinsen huschte über sein Gesicht.
Nachdem Rodrigo das entscheidende Tor kurz vor dem Abpfiff erzielt hatte und den Jubel genießen durfte, war er die folgenden Tage wie aufgedreht. Sogar in der Presse wurde über ihn berichtet - allerdings noch relativ wenig, da es sich schließlich nur um Jugendfußball handelte. Die Zeitung mit seinem Bericht behielt er selbstverständlich als Erinnerung.
Er hatte seine Chance genutzt, die ihm durch den Ausfall von Miguel geboten wurde. Zum Glück war die Verletzung nicht ganz so schlimm wie es aussah - ein paar Tage Trainingspause waren für den Trainersohn aber absolute Pflicht. Somit hatte Rodrigo mindestens noch zwei weitere Spieltage die Möglichkeit sich in die Mannschaft wieder hineinzuspielen, so dass der Trainer ihn dann nicht mehr auf die Ersatzbank setzen konnte. Die beiden folgenden Begegnungen konnte seine Mannschaft allerdings nicht gewinnen. Im folgenden Heimspiel gab es ein mageres 2:2 gegen Guimaraes - eine Woche später wurde gar 1:2 bei Braga verloren.
Nach diesen Ergebnissen sprach vieles dafür, dass der wieder genesene Miguel seine Stammposition wieder bekommen würde. Und genau so geschah es auch - obwohl Rodrigo trotz der enttäuschenden Ergebnisse noch zu den besseren seines Teams gehört hatte. So musste Rodrigo wieder weichen und die Position des Linksaußen einnehmen. Nach und nach zeigte sich aber, dass seine spielerischen Qualitäten auch auf dieser Position immer mehr hervortraten. Das Zusammenspiel mit Miguel und den anderen Spielern funktionierte immer besser, was sich allmählich auch in Zahlen wiederspiegelte. Die Partien gegen Setubal, Farense und Alverca wurden jeweils souverän gewonnen. Rodrigo erzielte hierbei seine Saisontreffer drei und vier - Miguel gelang bereits der fünfte Torerfolg. Da die beiden Spitzen Antonio und Carlos auch hin und wieder ihren Torriecher bewiesen, setzte sich Belenenses Lissabon vor der Winterpause in der Spitzengruppe der Jugendklasse fest. Das Saisonziel, ein Mittelfeldplatz, schien somit in greifbarer Nähe.
In der spielfreien Zeit, trainiert wurde natürlich weiterhin, schrieb Rodrigo seinen Eltern einen langen Brief - es war nicht der erste. Er erzählte ihnen, dass es ihm wirklich gut ging und dass sie sich keine Sorgen um ihn zu machen bräuchten. Natürlich berichtete er von seiner abenteuerlichen Fahrt auf dem Frachter, ebenso von Roberto, der ihm half in Portugal Fuß zu fassen ... und natürlich von seinem ersten Tor. Sein Vater berichtete wiederum, dass es ihnen auch gut ginge und dass sie mittlerweile wieder eine eigene Wohnung besäßen. Er schrieb Rodrigo aber auch, dass sie leider noch nicht genügend Geld hätten, um ihm die Überfahrt nach Brasilien zu ermöglichen, damit er sie besuchen kommen könnte. Auf jeden Fall seien sie aber sehr stolz darauf, was er alles schon geschafft hatte - und das fast ohne Hilfe.
Auch nach der Winterpause lief es bei Rodrigos Mannschaft besser als erwartet. Zwar ging das Rückspiel gegen den FC Porto auf eigenem Platz ebenso verloren wie das Spiel gegen Benfica - ansonsten hielt man sich aber wacker, und sorgte somit für einige Überraschungen. Diese Resultate dieses relativ kleinen Vereins sprachen sich natürlich rum - zuerst in der Stadt Lissabon selbst, später aber auch über die Stadtgrenzen hinaus. So war es die logische Folge, dass sich vermehrt Spielerbeobachter bei den Spielen von Belenenses zeigten. Als sich die Saison dem Ende entgegen neigte und ein guter Mittelfeldplatz so gut wie sicher war, wurde Rodrigo von seinem Trainer nach einem Training angesprochen: "Du, Rodrigo - ein anderer Verein möchte gerne, dass du für dessen Mannschaft spielst. Es ist nicht irgendein Verein - es ist Benfica. Ansonsten hätten wir dir davon auch gar nichts erzählt. Wir sind ja schließlich froh, dass du bei uns spielst. Dort hättest du aber vielleicht die Chance deines Lebens, und die möchten wir dir nicht nehmen. Wenn du also gehen möchtest, haben wir wirklich nichts dagegen", meinte sein Trainer. "Wir bekommen ja sogar Geld für den Wechsel ... und Geld können wir wirklich gut gebrauchen", fügte er dem noch zu.
Am Abend ließ sich Rodrigo das Ganze durch den Kopf gehen. Natürlich fühlte er sich bei seinem jetzigen Verein wohl - sein Entschluss stand aber fest: Er wollte das Angebot annehmen. Wann bekäme er ansonsten die Möglichkeit mit den besten portugiesischen Spielern seiner Altersklasse in einer Mannschaft spielen zu können? Wenn er Pech hatte nie wieder.
Schon am nächsten Tag informierte Rodrigo seinen Sozialbetreuer Roberto und seinen Trainer über seinen Entschluss. Roberto war selbstverständlich begeistert: "Super Rodrigo - herzlichen Glückwunsch. Nun kommst du deinem Ziel einen großen Schritt näher. Besuch uns doch mal wenn du Zeit hast", meinte er. Sein Trainer hatte, nachdem er von Rodrigos Entscheidung erfuhr, noch einige interessante Infos parat. "Du weißt ja, dass Benfica ein Weltverein ist. Die haben sogar ein Internat für talentierte Fußballer. Dort wirst du mit allem versorgt, was du so brauchst. So etwas konnten wir dir hier natürlich nicht bieten. Daher können wir deinen Wechsel auch sehr gut verstehen", erzählte der Trainer.
Somit öffnete sich für Rodrigo eine weitere Tür. Er durfte nunmehr bei Benfica Lissabon um die Meisterschaft in der Jugendklasse mitkämpfen.
Schon in der Vorbereitungsphase bemerkte er den qualitativen Aufstieg von Belenenses zu Benfica. Nun durfte er in einem Fußballinternat der höchsten Kategorie trainieren. Er musste sich um fast nichts kümmern. Neben dem Training musste er sich nur noch auf die täglichen fünf Stunden Unterricht konzentrieren. Unterkunft und Essen wurden vom Verein gestellt. Somit hatte das Internat fast den Charakter eines kleinen Hotels.
Neben der Vorfreude auf den Saisonstart, war Rodrigo ebenso auf die anstehende Fußballweltmeisterschaft in Japan/Südkorea gespannt. Von der letzten WM hatte er ja kaum etwas mitbekommen. Einzig die Partie Brasilien gegen Marokko hatte er in der kleinen Holzhütte des alten Mannes ansehen dürfen. Da im Internat auch ein Fernsehraum vorhanden war, gab es für ihn, wie auch für die anderen, die Möglichkeit sich ein paar Spiele anzusehen. Im Vordergrund stand aber selbstverständlich die Vorbereitung auf die Saison. Um einen Stammplatz musste sich Rodrigo in diesem Fall keinerlei Sorgen machen. Gerade die linke Außenbahn, also die Position auf der er zuletzt so glänzen konnte, war bei Benfica nur unzureichend besetzt. Es kam Rodrigo zudem zu gute, dass er die harte Schule des brasilianischen Straßenfußballs durchlaufen hatte. Daher konnte er die momentane Situation um so mehr genießen.
Es zeigte sich erneut, dass der FC Porto und ganz besonders Benfica Lissabon in der Liga eine Klasse für sich waren. Selbst so aufstrebende Vereine wie Boavista Porto und Sporting Lissabon schafften es nur vereinzelt die ganz großen Vereine zu ärgern. So waren sogar im Jugendfußball, erst recht aber im Herrenfußball, Klassenunterschiede zu erkennen. Nachdem sich beiden Topteams schon zu Saisonbeginn in der Spitzengruppe festgesetzt hatten, begann im Juni 2002 die Fußball-WM.
Ebenso souverän wie ansehnlich präsentierten sich besonders die Mannschaften aus Brasilien und Deutschland, die in den Halbfinalspielen die Türkei und Gastgeber Südkorea ausschalten konnten. Brasiliens 2:0-Finalsieg war für Rodrigo ein unvergessliches Ereignis. Gespannt hatte er das Spiel verfolgt, und spätestens nach dem zweiten Tor war er sich sicher, dass niemand seinen Brasilianern den Titel mehr hätte nehmen können.
Da Portugal bereits in der Vorrunde ausgeschieden war, hatte das Interesse der anderen Jugendlichen an der Weltmeisterschaft schnell nachgelassen, so dass Rodrigo bei den Spielen Brasiliens zumeist alleine vor dem Fernseher gesessen hatte.
In der Liga gab es keinerlei Überraschungen. Als das Stadtderby zwischen Benfica und Belenenses anstand, hatten sich Benfica und der FC aus Porto mehr und mehr vom Rest des Feldes abgesetzt. Da Rodrigo die meisten Spieler von Belenenses gut kannte, war es für ihn kein normales Spiel. Auch Miguel sah er wieder. Für unnötige Emotionen war beim Fußball jedoch kein Platz - das wusste er genau. Daher beschränkte sich Rodrigo auf seine technischen Fertigkeiten. Diese genügten ihm und seinem Team, um einen nie gefährdeten 4:1-Sieg einfahren zu können.
In der Winterpause schrieb er seiner Familie wieder einen Brief. Er erzählte ihnen aber nicht nur vom Fußball. Er beschrieb ihnen auch seine neue Heimat, welche er durch die vielen Auswärtsfahrten allmählich liebgewonnen hatte. Auch das Fußballinternat erwähnte er.
Fast wie selbstverständlich baute Benfica seinen Vorsprung vor Porto und dem Rest der Liga aus und stand schon drei Wochen vor Saisonende als Meister fest. Daran hatte auch Rodrigo einen entscheidenden Anteil. Neben seinen neun Treffern leistete er auch häufig die Vorarbeit, so dass Benfica am Ende der Saison innerhalb der zwölf Mannschaften umfassenden Liga ein blendendes Torverhältnis von 57:18 vorzuweisen hatte.
Im Sommer 2003 feierte Rodrigo seinen 15. Geburtstag im Fußballinternat. Mittlerweile interessierte er sich aber nicht mehr nur für Fußball. Auch die weiblichen Fußballfans in seinem Alter - besonders diejenigen, die regelmäßig zum Training erschienen - weckten verstärkt sein Interesse. Zwar durfte er sich während der Trainingseinheiten nur auf den Fußball konzentrieren. Die Unterbrechungen nutze er aber gerne um einen Blick auf seine Fans zu werfen.
Den Jungen war der Kontakt mit den weiblichen Fans durchaus gestattet - dies durfte aus verständlichen Gründen aber nicht innerhalb des Internats geschehen. Abends hatten sie aber in der Regel genügend Zeit um ins Kino oder in die Disko zu gehen. Und im Kino lernte er auch seine erste große Liebe kennen.
Rodrigo hatte für seine Freundin Cordula aber nur wenig Zeit, da die Freizeit im Internat auf den Abend begrenzt war. Zumindest bestand aber nicht die Gefahr, dass seine sportlichen Aktivitäten behindert wurden, da es eine klare Trennung zwischen Freundin und Fußball gab.
Cordula war wie er fünfzehn Jahre alt. Ihre Mutter war eine richtige Hamburgerin - ihr Vater ein Portugiese. Somit war sie zweisprachig aufgewachsen. Trotz der unglücklichen Umstände - schließlich hatte Rodrigo keine eigene Wohnung - schien alles zwischen ihnen zu stimmen. Sie hatte neben dem Hobby Fußball noch ein paar Gemeinsamkeiten mehr, so dass sich die Freundschaft der beiden mehr und mehr intensivierte.
In Sachen Fußball konnte Rodrigo mit Benfica Lissabon erste Erfolge verbuchen. Neben der errungenen Meisterschaft wurde auch die Presse verstärkt auf ihn aufmerksam. So wurde er mit Bezeichnungen wie hocheinzuschätzendes Talent oder gar Rohdiamant betitelt, was ihn zwar zum einen schmeichelte, zum anderen aber auch den Druck auf ihn erhöhte. Innerhalb der Mannschaft gab es aber zum Glück kaum Neid, da jeder im Team ein großes Talent war und somit genügend mit sich selbst zu tun hatte.
Unangenehm war es vielmehr, wenn Benfica gegen die Kleinen der Liga spielte. Dort gab es viele die eifersüchtig auf Benficas Spieler waren. Den meisten Vereinen war es nicht möglich sich einen solchen Luxus wie teure Trainingslager oder gar Fußballinternate leisten zu können. So gab es während einzelner Begegnungen immer wieder Sticheleinen zwischen den Spielern. Oft wurden die Akteure von Benfica als verwöhnt oder gar verweichlicht dargestellt. Dabei passten solche Bezeichnungen insbesondere zu Rodrigo überhaupt nicht. Was hatte er alles durchmachen müssen, bis er diesen hohen Level erreicht hatte.
An seinem 17. Geburtstag, Rodrigo war eine feste Größe in seiner Mannschaft, traf sich Rodrigo mit seiner Freundin Cordula um zu zweit ein wenig zu feiern. Sie hatte Rodrigo schon ein paar Tage zuvor gefragt, ob man sich denn nicht mal eine eigene Wohnung suchen sollte. Doch seine Antwort fiel wie immer negativ aus. "Das geht nicht. Bis zu meinem 18. Lebensjahr bin ich dazu verpflichtet im Internat zu übernachten, sofern ich bis dahin noch bei Benfica spiele. Eine Wohnungssuche macht doch unter diesen Umständen überhaupt keinen Sinn. Gedulde dich bitte noch ein wenig. In einem Jahr sieht die Sache bestimmt schon ganz anders aus."
Cordulas Reaktion kam ebenso prompt wie überraschend: "Vielleicht sehen wir uns nur noch ein paar Wochen. Meine Eltern überlegen nämlich, ob sie nach Deutschland ziehen. Dort gibt es mehr und besser bezahlte Arbeit. Außerdem vermisst meine Mutter ihre Heimatstadt Hamburg sehr." Rodrigo musste kurz schlucken. Aber er wusste genau was er wollte. "Wenn du nach Hamburg ziehst, komme ich mit. Das wird schon irgendwie funktionieren", meinte er mit einem Lächeln, welches auch Cordula ein wenig aufmunterte.
Als es für die Eltern von Cordula feststand, dass sie nach Hamburg ziehen wollten, fiel es Rodrigo nicht leicht seinen Verein zu überzeugen, dass er unbedingt nach Deutschland wollte. Mit viel Überredungskunst, auch von Seiten der Sozialbehörde, bekam er aber schließlich die Erlaubnis - unter der Vorraussetzung, dass er bis zu seinem 18. Lebensjahr unter der Obhut der Hamburger Sozialbehörde stünde.
Nachdem er wusste, dass er nach Deutschland reisen durfte, ging alles sehr schnell. Cordulas Eltern hatten mittlerweile in Hamburg eine Wohnung gefunden und so begann für Rodrigo im Sommer 2005 ein weiterer neuer Lebensabschnitt. Er war bereits ein fester Bestandteil von Cordulas Familie und somit stand es nie in Frage, dass er mit in deren Wohnung einziehen durfte.
Nachdem er sich bei den verschiedenen Behörden gemeldet hatte und auch seine Familie in Brasilien per Brief über die neuen Lebensumstände informiert hatte, konnte er nach dem Umzugsstress endlich wieder an Fußball denken. Viel wusste er vom deutschen Fußball nicht. Klar, die Bayern kannte er natürlich schon - ein paar Spielernamen auch. Welche Vereine für ihn selbst in Frage kämen, wusste er aber nicht. Da Cordulas Mutter, die nach einigen Jahren in Portugal auch ganz gut portugiesisch sprechen konnte, in Hamburg aufgewachsen war, wurde sie für Rodrigo in Sachen Hamburger Fußball natürlich zur ersten Ansprechpartnerin. Sie war St. Pauli-Fan und hatte selbst im fernen Portugal immer ein offenes Ohr, wenn beim Kiez-Club etwas passierte. "Versuch es bei denen doch mal mit einem Probetraining - schaden kann es nicht. Die Stimmung ist dort eigentlich immer super. Zudem denke ich, dass du dort bessere Chancen hast als beim Hamburger SV. Der HSV spielt nämlich regelmäßig im Europapokal - mit deinen 17 Jahren wirst du deren Ansprüche mit Sicherheit noch nicht erfüllen können."
So versuchte Rodrigo also sein Glück beim FC St. Pauli, der nach einigem Hin und Her in der 2. Bundesliga kickte. Rodrigo informierte sich mit Hilfe von Cordulas Mutter darüber, wann dort das nächste Probetraining stattfinden sollte. Sie erfuhren, dass im Oktober eine Möglichkeit bestünde.
Bis zum Probetraining beim FC St. Pauli waren es aber noch einige Wochen - also genügend Zeit sich schon mal ein wenig in Hamburg einzuleben. Von Cordulas Eltern bekam er einen Privatlehrer spendiert, damit er die deutsche Sprache etwas schneller lernen konnte. Der Vater von Cordula setzte sich manchmal hinzu, da auch er nur ansatzweise mit der deutschen Sprache zurecht kam.
Als das Probetraining begann, war er natürlich sehr aufgeregt. Dafür bestand allerdings überhaupt kein Grund, wie sich später herausstellte. Rodrigo machte seine Sache nämlich richtig gut und konnte somit die Verantwortlichen des Vereins davon überzeugen, dass eine Verpflichtung für beide Seiten von Interesse wäre. Die lehrreichen, aber zum Teil auch harten Jahre bei Benfica zahlten sich also allmählich aus.
Wie er eine Woche später erfuhr, wurde er in den Kader der zweiten Mannschaft, welche in der Oberliga spielte, eingestuft. Rodrigo hatte sich eigentlich ein wenig Hoffnung gemacht in der Profimannschaft spielen zu dürfen - dafür war es aber wohl noch ein wenig zu früh. Trotzdem war er froh in Deutschland einen Verein gefunden zu haben. Besonders Cordulas Mutter war hellauf begeistert, dass der Freund ihrer Tochter bald für ihren Lieblingsverein spielen würde. Das Stadion des FC St. Pauli war zwar im Vergleich zu Benfica und erst recht im Vergleich zu den zum Teil sehr großen Stadien in Brasilien ziemlich klein - trotzdem fühlte er sich dort pudelwohl.
Er hatte in diesem für ihn so fremden Land aber noch viel zu lernen. Seine Sprachkenntnisse ermöglichten es ihm weiterhin noch nicht sich mit anderen zu verständigen - eine richtige Unterhaltung war bisher nur auf portugiesisch mit Cordula und ihren Eltern möglich.
Rodrigo musste aber nicht nur lernen - anpassen musste er sich ebenso. Cordulas Eltern, ganz besonders die Mutter, beschlossen ihn mit der deutschen Mentalität und einigen Grundregeln vertraut zu machen. Nachdem er davon einiges gehört hatte meinte er: "Mensch, geht das bei euch streng zu. In Brasilien war das alles viel einfacher, und das Wetter war auch viel besser" - er schaute etwas ernüchtert aus dem Fenster. Eine Schneeflocke rieselte herunter. Kein Wunder - schließlich war es schon Mitte November.
Spielberechtigt war Rodrigo erst für die Rückrunde der Saison 2005/06, aber das war ihm egal. So hatte Rodrigo zumindest genügend Zeit sich die Stadt etwas genauer anzusehen. Besonders der Hafen und die vielen Kanäle faszinierten ihn. Sie erinnerten ihn zudem an Rio mit seinem Hafen. Er sah dort große Passagierschiffe, ebenso Tanker und große Frachter. Als er die vielen Schiffe sah, die weit entfernten Häfen zusteuerten, musste er wiederum an seine Familie denken. Noch einmal wollte er nicht als blinder Passagier zu ihnen reisen. Er hoffte deshalb, dass er mit seinem fußballerischen Können bald genügend Geld verdienen konnte, um sich eine Schiffsüberfahrt nach Brasilien leisten zu können.
Des weiteren sah er sich die City, insbesondere den Jungfernstieg und die Alster, an. Auch die vielen Kirchen fand er beeindruckend. Als er sich St. Pauli anschaute, also den Stadtteil für dessen Mannschaft er bald spielen würde, bemerkte er, dass diese Umgebung ganz anders aussah als die Einkaufspassagen an der Alster. Er sah den riesigen Bunker am Stadion, aber auch das sich in der Nähe befindliche Rotlichtviertel.
Am Abend, es war schon dunkel, ging er dann in einer Disco mit Cordula tanzen. Die Lichteffekte und auch die Einrichtung beeindruckten ihn und die Musik sowieso.
Nachdem sie ein wenig getanzt hatten, ließ er seine Freundin für ein paar Minuten alleine, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Rodrigo atmete einmal tief ein, als er draußen war und schaute sich in der dunklen Gasse um. In der Nähe stand eine kleine Gruppe Jugendlicher, die irgendetwas flüsterten. Er konnte es jedoch nicht verstehen. Als die Jungen bemerkten, dass sie von Rodrigo angesehen wurden, kam einer auf ihn zu und sagte: "Na, du siehst ja nicht so aus, als wenn du hier nur Luft suchst", grinste er. "Sicher möchtest du von mir eine coole Pille haben, die dich wach hält, damit du die ganze Nacht durchtanzen kannst. Wie viele möchtest du denn haben?" Rodrigo war völlig verwirrt. Wovon sprach der Junge? Die Verwirrtheit fiel diesem sofort auf. "Sag bloß du hast so etwas noch nie ausprobiert. Die Pillen sind echt super. Damit hast du doppelt so viel Energie als sonst. Für einen Fuffi kannst du eine haben", meinte dieser. Rodrigo überlegte. So etwas hatte er tatsächlich noch nie ausprobiert. Er hatte 200 Euro dabei. Die Verlockung war einfach zu groß, und so kaufte er dem Jungen eine Pille ab.
Als er wieder in der Disco war, bestellte er für sich und Cordula eine Cola und schluckte den Wachmacher unbemerkt hinunter. Die Wirkung setzte nur langsam ein - er fühlte sich richtig gut. Zur Probe nahm er Cordula an die Hand und begann mit ihr zu tanzen. Doch als seine Freundin nach einer halben Stunde eine kleine Pause machen wollte, war Rodrigo schon regelrecht überdreht. "Was, du willst schon eine Pause machen? Also, ich fühl mich überhaupt nicht müde", meinte Rodrigo. Nein - müde war er wirklich nicht. Er hätte Bäume ausreißen können und so tanzte er für sich alleine weiter.
Doch von einem Moment auf den anderen drehte sich alles um ihn. Seine Knie wurde weich und er sackte, während die Musik pausenlos weiterlief, zu Boden. Cordula bemerkte dies und schaute entsetzt Rodrigo an ... er rührte sich nicht mehr. Von den folgenden Stunden bekam er nichts mit.
Als Rodrigo dann wieder bei Bewusstsein war und die Augen langsam öffnete, fühlte er sich geblendet. Fast alles um ihn herum war weiß. Er benötigte einige Sekunden, um zu verstehen wo er sich befand. Links neben ihm stand ein kleines Tischchen mit Blumen - auf der anderen Seite schauten ihn Cordula und ihre Eltern besorgt an. Erst jetzt wusste er, wo er sich befand - in einem Krankenhausbett. Jetzt erinnerte er sich wieder an die Pille und an das folgende Schwindelgefühl. Während er darüber nachdachte, sprach ihn Cordulas Mutter an: "Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht. Die Ärzte haben uns erzählt, dass du ein Aufputschmittel geschluckt haben musst. Hast du denn wirklich nicht bemerkt, dass dir jemand dieses Mittel in dein Getränk gemischt hat?" Rodrigo überlegte. Dachte Cordulas Mutter tatsächlich, dass nicht er, sondern jemand anders für die Pille verantwortlich war? Belügen wollte er sie eigentlich nicht. Er hielt es aber trotzdem für besser, wenn er sie ein wenig beschwindelte. "Das muss geschehen sein, als Cordula und ich getanzt haben. Ich habe wirklich keine Ahnung wer das getan haben könnte", flunkerte Rodrigo. Er spürte, dass er ein wenig rot im Gesicht wurde, aber die drei schienen es nicht zu bemerken.
Nachdem sie ihn darüber informiert hatten, dass er in zwei Tagen wieder nach Hause kommen könnte, verließen sie Rodrigos Krankenbett. Anschließend dachte Rodrigo noch einmal an das Geschehene und kam zu dem Entschluss, dass es wohl besser ist die Finger von Drogen und ähnlichen Dingen zu lassen.
Nach einer Wochen konnte Rodrigo wieder am Training teilnehmen. Er musste sich im Vergleich zu Benfica ziemlich umstellen. Zum einen war er es nicht gewohnt bei Schneefall zu trainieren, aber auch die Härte und Schnelligkeit eines Herrentrainings waren ihm nicht bekannt - schließlich gehörte er zum ersten Mal einer Herrenmannschaft an. Mit seinen technischen Fähigkeiten musste er sich vor niemanden verstecken. In Sachen Kraft und Ausdauer gab es allerdings noch Nachholbedarf.
Bereits im ersten Spiel nach der Winterpause bekam Rodrigo seine Chance. Es ging gegen den SC Norderstedt. Diese Begegnung war von besonderer Wichtigkeit für die Pauli-Truppe, da man nicht noch mehr Boden auf den Tabellenführer verlieren wollte. Fünf Punkte Vorsprung hatte die Mannschaft von der Ochsenzoller Straße sowieso schon. Die Partie fand im kleinen aber schmucken Stadion in Norderstedt statt. Für Rodrigo war das Stadion aber nicht die Hauptsache. Es ging für ihn darum sich im Herrenteam zu etablieren.
Als die beiden Teams auf den Platz liefen, wurden die Mannschaftaufstellungen verlesen. Als die Nr.7, also Rodrigo selbst, genannt wurde, stockte ihm der Atem, als er feststellte, dass zeitgleich mit dem Stadionlautsprecher auch ein paar Pauli-Fans seinen Namen riefen. Er bekam Gänsehaut. "Die kennen meinen Namen, obwohl das hier mein erstes Spiel ist", dachte sich Rodrigo - er war wirklich verblüfft.
Etwa 1.000 Zuschauer hatten sich trotz widriger Wetterbedingungen zu diesem Spitzenspiel im Stadion eingefunden. Cordula und ihre Eltern waren natürlich auch da - ihre Mutter gar mit Fanschal. Sie standen bei den ungefähr einhundert gutgelaunten FC St. Pauli-Fans und drückten Rodrigo die Daumen.
Bei leichtem Schneefall begann das Spitzenspiel. Die Gäste versuchten ihr Glück mit der Angriff ist die beste Verteidigung-Strategie und konnten sogleich die erste Chance für sich verbuchen. Der SCN-Keeper bugsierte den Ball nach einer brandgefährlichen Flanke aber per Faustabwehr aus der Gefahrenzone. Die Norderstedter waren über den anfänglichen Offensivdrang des Tabellenzweiten sichtlich verwundert - auch der SCN-Anhang staunte. Rodrigo hatte allerdings keine Zeit auf die Gefühlsregungen der Zuschauer zu achten. Sein Gegenspieler verlangte ihm nämlich alles ab, sodass Rodrigo kaum Aktente nach vorne setzen konnte. Sein Kontrahent war fast einen Kopf größer als er und mindestens fünf Jahre älter. Immer wieder beharkten sich die beiden - zum Teil auch mit leicht unfairen Mitteln. Dass es beim Fußball aber manchmal recht hart zur Sache geht, wusste Rodrigo ja bereits. Das hatte er zum einen bei Benfica, zum anderen aber auch beim Herrentraining beim FC gelernt.
Da sich diese beiden mehr oder minder neutralisierten, verlagerte sich das Spiel zusehends auf die rechte Seite. Dort fanden die Pauli-Akteure in der 23. Minute ein Durchkommen, als Meisner eine Flanke von Flügelflitzer Behrend per Flugkopfball zur verdienten Gästeführung versenkte. Der St. Pauli-Anhang jubelte - der Schneefall verstärkte sich jedoch.
Nach der Führung ließen sich die Gäste verständlicherweise etwas zurückfallen. Aufgrund der ungünstigen Platzverhältnisse waren schnell vorgetragene Konter allerdings kaum noch möglich. Somit wurde der FC verstärkt in die Defensive gedrängt ohne seine Konterstärke ausspielen zu können. Doch die Führung konnte bis zur Pause gehalten werden.
In der 2. Halbzeit versuchten es die Norderstedter insbesondere mit Distanzschüssen, da die Platzverhältnisse ein konstruktives Aufbauspiel nicht mehr zuließen. Rodrigo kämpfte ebenso mit dem Gegner wie mit dem Wetter. Seine technischen Fähigkeiten nützten ihm hier nur wenig - Einsatz war gefragt, und den zeigte er. Seine konditionellen Mängel wurden Mitte der 2. Hälfte aber unübersehbar, so dass er in der 68. Minute beim Zwischenstand von 1:0 für den FC St. Pauli aufgrund seiner nachlassenden Kräfte ausgewechselt werden musste. "Ich habe meine Sache trotzdem gut gemacht", dachte sich Rodrigo. Sein Trainer bestätigte dies mit einem anerkennenden Schulterklopfen.
Nachdem er sich auf der Bank ein wenig ausgeruht hatte, stellte er sich an die Bande, wo Cordula und ihre Eltern auf ihn warteten. "Das war richtig gut Rodrigo", meinte seine Freundin. Doch bevor sie weiterreden konnte, wurde sie vom Pfiff des Schiedsrichters unterbrochen - Strafstoß für Norderstedt. Eiskalt wurde die Chance zum 1:1-Ausgleich verwertet. Nun blieb den Gästen gar nichts anderes mehr übrig, als das Offensivspiel wieder zu verstärken. Doch der SCN hatte jetzt einen Lauf. Nur drei Minuten später eine weitere gefährliche Situation, die der FC St. Pauli zu überstehen hatte. Der Gegner bekam einen Freistoß in halbrechter Position in Strafraumnähe zugesprochen. Als der gegnerische Spieler den Ball mit voller Wucht in Richtung Winkel zirkelte, schauten alle, auch Rodrigo, gespannt zu. Die Lederkugel knallte scheppernd an die Querlatte und von dort zurück in die Nähe des Strafstoßpunktes, von wo der Ball von einem weiteren Norderstedter ohne Kompromisse ins Tor gedroschen wurde - 2:1. Lauter Jubel im Stadion - Enttäuschung hingegen bei den Gästen. War dies die Vorentscheidung?
In der Schlussphase setzten die Paulianer alles auf eine Karte. Der immer stärker werdende Schneefall ließ jedoch keine gefährlichen Situationen mehr zu - es wurde unter den Zuschauern zum Teil sogar gemunkelt, dass der Schiedsrichter das Spiel abbrechen müsste. Dies geschah jedoch nicht, sodass es beim 2:1 für den SCN blieb.
Den Verantwortliches des Vereins war nun natürlich klar, dass die Aufstiegschancen auf ein Minimum gesunken waren. Wichtiger als der Aufstieg war allerdings, dass die Oberligamannschaft das Bundesligateam mit aussichtsreichen Neuzugängen versorgen konnte. Einer davon sollte Rodrigo werden.
Doch bis es dazu kam, musste Rodrigo noch hart an sich arbeiten. Das Kraft- und Ausdauertraining spielte bei ihm von nun an eine besondere Rolle - seine gute Technik allein war zu wenig.
Nach einer gewissen Zeit stellten sich aber die erhofften Fortschritte ein. Allmählich genügte seine Kondition auch für 90 Minuten. Zusammen mit seinen hervorragenden fußballerischen Fähigkeiten war dies eine perfekte Kombination. Dies zeigte sich auch verstärkt in der Rückrunde. Die Norderstedter konnten zwar nicht mehr von der Tabellenspitze verdrängt werden - ein paar Talente für den Profifußball kristallisierten sich beim Kiezclub aber heraus.
Nachdem die St. Pauli-Profis in der 2. Bundesliga nur einen Mittelfeldplatz belegen konnten und der finanzielle Spielraum gewohntermaßen nur gering war, hoffte man um so mehr, dass vielleicht ein halbes Dutzend in den Profikader aufsteigen könnten. Die Oberligamannschaft errang immerhin die Vizemeisterschaft, welche allerdings nicht zu Aufstiegsspielen berechtigte. Der Meister aus Norderstedt scheiterte am Oberliga-Nord-Meister VfB Oldenburg, sodass das Team in der folgenden Saison einen neuen Anlauf nehmen musste.
In die Zeit der Vorbereitung für die Saison 2006/07 fiel auch die von allen heiß erwartete Fußball-WM in Deutschland. Rodrigo hatte sich von seinem eigenen Geld - als Oberligaspieler verdiente er schließlich nicht schlecht - für sich und Cordula zwei Karten für die Vorrunde besorgt. Da die brasilianische Nationalmannschaft alle ihre Vorrundenspiele in Hamburg auszutragen hatte, stand es für Rodrigo natürlich von Anfang an fest, dass er zumindest ein Spiel live im Stadion sehen wollte - es war die Begegnung gegen Japan. Cordula hätte zwar lieber ein Spiel der deutschen Mannschaft gesehen. Diese spielten aber in Berlin. Da es sich bei den deutschen Gruppengegnern nur um Mexiko, Nigeria und Schweden handelte, hoffte Cordula, dass Deutschland nach überstandener Vorrunde eventuell im Achtel- oder Viertelfinale eine Begegnung in Hamburg bestreiten könnte.
Vorher gab es aber für alle Teams drei Gruppenspiele. Und bei einem davon waren Rodrigo und Cordula dabei. Sie setzten sich selbstverständlich zu den anderen Anhängern Brasiliens. Der Fanblock war nicht zu übersehen. Praktisch alle waren in gelb und grün gekleidet. Im Rhythmus von Trommeln und Sambaklängen tanzten auf der Tribüne ein paar leicht bekleidete Brasilianerinnen. Als Cordula feststellte, dass Rodrigo seine Augen nicht von den Sambatänzerinnen lassen konnte, zwickte sie ihn spürbar in den Oberschenkel. Rodrigo errötete und seine Augen waren von nun an (fast) ausschließlich auf den Rasen gerichtet.
Als beide Teams den Platz betraten, wurde es noch lauter im Stadion - die Stimmung glich einem Hexenkessel. Noch ahnte niemand, dass Brasilien gegen Japan das verrückteste Spiel der Vorrunde werden würde.
Rodrigo und Cordula saßen im Fanblock der Brasilianer und warteten gespannt auf den Anpfiff. Als das Spiel Brasilien gegen Japan begann, erfüllte sich für Rodrigo ein weiterer großer Traum. Er konnte endlich seine Brasilianer live im Stadion bewundern. Alle Stars waren dabei: Carlos, Conceicao, Evanilson, Ronaldinho und Silvinho. Die Zeit der
ehemaligen Größen wie Rivaldo und Romario war zwar vorbei - die Abwesenheit dieser beiden konnte die Stimmung von Rodrigo aber keineswegs dämpfen.
Von der japanischen Mannschaft kannte er niemanden. Die Tatsache, dass sie bei der WM 2002 das Achtelfinale erreichen konnten, verdeutlichte aber, dass diese Begegnung keineswegs ein Selbstgänger werden würde. Diese Vermutung wurde schon in den Anfangsminuten bestätigt. Japan trat mit viel Selbstbewusstsein auf - sie versteckten sich keineswegs. Das schien auch deren Anhänger zu gefallen. Begeistert reagierten sie auf jede gelungene Aktion ihre Mannschaft. Als dann Matsuoka mit einem brandgefährlichen Distanzschuss erfolgreich war (28.), lag eine Sensation in der Luft.
Die Sambaklänge der brasilianischen Anhänger verstummten zwar nicht - deren Gesichtszüge wirkten aber nicht mehr so hoffnungsvoll wie vor der Partie. Japan fühlte sich in seiner Vorgehensweise bestätigt. Schon in den Jahren zuvor hatte sich mehrmals gezeigt, dass die Vormachtstellung des brasilianischen Fußballs nicht uneingeschränkt war. Immer wieder gelang es Mannschaften die hoch eingeschätzten Brasilianer zu ärgern. Und genau das wollte die japanische Nationalmannschaft auch an diesem Tage schaffen.
Leicht verunsichert reagierte der Favorit auf den Rückstand. Obwohl die Südamerikaner über viele erfahrene Spieler verfügten, wobei einige allerdings auch schon das 30. Lebensjahr hinter sich gebracht hatten, kam keine Ruhe ins Spiel. Auch die Sambaklänge der Fans schienen die Brasilianer nicht entscheidend vorantreiben zu können. Rodrigo war ein wenig enttäuscht. Nicht nur das Ergebnis missfiel ihm - auch zündende Ideen konnte er kaum erblicken.
Läuferisch waren die Japaner dem Gegner gleichwertig. Und sogar technisch setzten sie viele Akzente, sodass die Führung noch nicht einmal unverdient war.
In der Pause versuchte sich Rodrigo ein wenig zu stärken. Das Zwischenergebnis hatte ihm aber regelrecht den Appetit verdorben.
Als er und Cordula wieder auf ihren Plätzen saßen, versuchte sich Rodrigo bei ihr ein wenig Luft für seinen Frust zu verschaffen. "Jetzt sitze ich endlich in einem Stadion und darf das Nationalteam sehen, und dann spielen sie so enttäuschend. Brasilien soll doch Weltmeister werden. Wenn die so weitermachen, scheiden sie sogar in der Vorrunde aus", meinte er genervt.
Somit musste Rodrigo alle Hoffnungen in die zweite Halbzeit setzen. Da die Brasilianer aber nach wie vor verkrampft wirkten, witterte Japan seine Chance und spielte weiterhin frech nach vorne. Zwar bestimmten die Südamerikaner das Spiel - gefährlicher waren allerdings die Aktionen des Gegners.
Es war ziemlich still geworden. Sambamusik war nicht mehr zu hören und auch die Tänzerinnen saßen nunmehr lustlos auf ihren Plätzen. Grund zu tanzen gab es wahrlich nicht. Doch irgendetwas musste geschehen, dachte sich Rodrigo. Da kam ihm eine Idee: Man musste die Spieler wachrütteln - mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. So sprach er mit den um ihn herum sitzenden Brasilienfans - Verständigungsprobleme gab es ja zum Glück nicht. "Trommelt so laut wie ihr könnt. Vielleicht können wir die Mannschaft doch noch mitreißen, und den Gegner beeinflusst das eventuell auch." Gesagt, getan. Aus der fast völligen Stille des Brasilienfanblocks tönten nun lauter als je zuvor heiße Rhythmen. Die Fans tanzten und viele von ihnen beklatschten nun jede gelungene Spielszene ihrer Mannschaft. Und tatsächlich: Die Spieler schienen endlich von dieser Woge der Emotionen erfasst zu werden. Auf einmal gelangen die Pässe, die zuvor beim Gegner landeten. Nun wurden die Japaner, die bis dahin durchaus gleichwertig waren, in ihrer eigenen Hälfte eingeschnürt.
Brasilien schoss nun aus allen Positionen - doch die Minuten vergingen. Eine Chance nach der anderen erspielte sich das Team, welches Rodrigo und die anderen Fans nach wie vor lautstark anfeuerten. Doch das Tor der Japaner schien wie zugenagelt. Rodrigo schaute immer öfter auf die Uhr - nur noch fünf Minuten. An einen Sieg der Brasilianer glaubte niemand mehr - zumindest ein Remis war aber notwendig, um nicht in Gefahr zu geraten schon nach der Vorrunde die Heimreise antreten zu müssen. Tick, tack, tick, tack ... eine Sekunde nach der anderen verstrich - die Nachspielzeit begann bereits. Rodrigo war völlig mit den Nerven am Ende. Doch als die Brasilianer wieder in Ballbesitz waren, flitzte Keeper Nelson De Jesus Dida auf direktem Weg in die gegnerische Hälfte - ein wahres Himmelfahrtskommando.
Von den Zuschauern hielt es niemanden mehr in den Sitzen. Brasilien war in Ballbesitz und musste es aus Rodrigos Sicht auch bleiben. Bei Ballverlust wäre das 0:2 so sicher gewesen wie das Amen in der Kirche.
Die Japaner igelten sich hinten ein und droschen jeden Ball mit voller Wucht aus der Gefahrenzone. Doch Brasilien gab nicht auf - es lief bereits die zweite Minute der Nachspielzeit. Wieder und wieder senkten sich Flanken in den gegnerischen Strafraum.
Den gesamten Fans im Stadion blieb fast das Herz stehen, als sie sahen, dass sich der brasilianische Keeper in einen Schuss hineinwarf und die Lederkugel mit voller Wucht als Flugkopfball Richtung Tor bugsierte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen sah Rodrigo wie der Ball in die auffangbereiten Arme des japanischen Keepers zu fliegen schien. Und wiederum wie aus dem Nichts hielt Conceicao seinen Kopf in die Flugbahn des Balles. Kurz bevor der Keeper den Ball in seinen Händen hätte halten können, flog der Ball nach der Richtungsänderung in hohem Bogen in das linke Toreck. Das Tornetz wurde durchgeschüttelt, der Ball war drin - 1:1.
Nun spielten sich unglaubliche Szenen auf dem Platz, aber auch unter den Zuschauern ab. Nach dem nur Sekunden später folgendem Schlusspfiff wurden Dida und Conceicao von ihren Mitspielern emporgehoben - die Freude war riesengroß. Auch im Brasilienblock gab es kein Halten mehr. Erst riss Rodrigo seine Hände in die Luft, um gleich darauf folgend seine Freundin in den Arm zu nehmen. "Wahnsinn, sie haben es doch noch geschafft - unglaublich", schrie er. Rodrigo war, wie auch die meisten anderen Brasilienfans, schier aus dem Häuschen. Zwar war das Remis eigentlich enttäuschend - es ließ aber zumindest noch alle Hoffnungen offen die nächste Runde zu erreichen. Außerdem war das Zustandekommen des Ausgleichs einfach einmalig.
Als Rodrigo und Cordula das Stadion verließen, war er mal wieder völlig überdreht. Er redete und redete und ließ Cordula gar nicht zu Wort kommen. Immer wieder durchlebte er die Szene, die zum Ausgleich geführt hatte. Begleitet von den immer noch ertönenden Sambaklängen entfernten die sich vom Stadion. Die weiteren Spiele sahen Rodrigo und Cordula mitsamt der Eltern im Fernsehen.
In der Vorrunde gab es ansonsten kaum große Überraschungen. Deutschland setzte sich in seiner Gruppe souverän durch. Auch Argentinien, Brasilien, England, Frankreich, Italien und Spanien erreichten mehr oder minder problemlos die nächste Runde.
Während der Endphase der WM ging es für Rodrigo aber schon wieder darum sich für die nächste Saison vorzubereiten - die Pauli-Kicker wollten einen weiteren Anlauf starten, um die zweite Mannschaft in die 3. Liga zu bringen.
Weltmeister wurde bei dieser WM nicht Brasilien - sie schieden im Halbfinale aus. Den Pokal holte sich diesmal das Team aus England per Golden Goal gegen Italien.
Während dieser Phase bekam Rodrigo einen Brief seines Vaters, der ihm mitteilte, dass sie nun genügend Geld hätten um ihn besuchen kommen zu können. Dem Schreiben fügte er die Telefonnummer bei, damit Rodrigo bei Bedarf auch mal anrufen könnte.
Nachdem er diesen Brief gelesen hatte, bekam er nach längerer Zeit wieder Heimweh. Die vielen aufregenden Erlebnisse hatten ihn vergessen lassen, dass ihm seine brasilianische Heimat immer noch sehr fehlte. Auf Dauer wollte er auf jeden Fall nicht in Europa bleiben - soviel stand für ihn fest. Genaugenommen besaß er ja genügend Geld, um selbst für einen Besuch nach Brasilien fahren zu können, und zwar als normaler Reisender und nicht als blinder Passagier. Doch es war ihm klar, dass es nicht bei einem Besuch bleiben würde: Wenn er wieder in Brasilien wäre, würde er dort auch bleiben. In Brasilien würde er dann mit seinen jetzigen fußballerischen Fähigkeiten sicherlich ohne Probleme einen guten Verein finden, dachte er sich. Eine gute Ausbildung hatte er ja in Portugal und Deutschland genießen dürfen.
Den Vertrag beim FC St. Pauli konnte und wollte er selbstverständlich nicht so einfach kündigen. Nachdem er Cordulas Eltern von seinem Plan informiert hatte, setzte er sich mit ihnen und einer verantwortlichen Person des Vereins zusammen, um abzusprechen, ob es Möglichkeiten gäbe den Vertrag zur nächsten Winterpause auflösen zu können. Nach einem längeren Gespräch einigte man sich schließlich darauf, dass Rodrigo tatsächlich zur Winterpause wieder gehen könnte.
Somit war der Weg in seine Heimat für ihn frei. Mit einem kurzen Anruf informieret er seinen Vater, dass er bald wieder bei ihnen sein würde. Die Freude seines Vaters über diese Nachricht konnte er wahrlich am Telefon spüren.
Eine ordentliche Hinrunde der Saison 2006/07 wollte er aber bei seinem jetzigen Verein selbstverständlich absolvieren. So lernte er in den folgenden Wochen weitere taktische Raffinessen kennen. Trotzdem stand sein Entschluss fest: Er wollte wieder in Brasilien leben, und zwar mit Cordula. Doch würde Cordula das auch wollen, und wären ihre Eltern damit einverstanden?
Als Cordula von Rodrigo erfuhr, dass er mit ihr zusammen in Brasilien leben wollte, war sie hellauf begeistert. Aber auch das Gespräch mit ihren Eltern gestaltete sich unkomplizierter, als Rodrigo erwartet hatte. Sie wussten ja, dass auch Rodrigos Eltern mittlerweile gut für die beiden bei Bedarf sorgen könnten. Daher willigten sie ein - unter der Bedingung, dass sie die beiden nach Brasilien begleiten würden, um zum einen die Familie von Rodrigo kennen zu lernen, aber auch um sich einen Eindruck darüber zu machen, wo ihre Tochter in naher Zukunft leben würde.
Nach über sieben Jahren würde Rodrigo somit seine Familie wiedersehen können. Sein Herz klopfte aufgeregt bei diesem Gedanken. Der Kreis schien sich somit zu schließen. Er war zwar noch kein Fußballstar - sein Talent hatte er aber schon mehrfach bewiesen und seine Ausbildung war sowieso vortrefflich. Rodrigo war sich ziemlich sicher, dass er in Brasilien vor einer großen Karriere stehen könnte.
Nach einer erfolgreichen Hinrunde bei den Oberligakickern des FC St. Pauli, ging es um die Vorbereitungen für seine Heimkehr nach Rio de Janeiro. Die Flugtickets waren schnell besorgt, die Koffer ebenso zügig gepackt. Kurz vor dem Jahreswechsel, Cordulas Eltern hatten zum Glück beide Urlaub, war es dann soweit. Zu viert fuhren sie zum Hamburger Flughafen.
Als sie das Flugzeug nach Rio betraten, war Rodrigo nur noch ein paar Stunden von seiner Heimat entfernt. Es war sein erster Flug und er wollte ihn genießen - die Heimkehr zu seiner Familie. Als sie den Atlantik überflogen, dachte er wieder an seine beschwerliche Hinreise als blinder Passagier. Doch diese schwierige und anstrengende Zeit war vorbei.
Nach der Ankunft in Rio wurde er immer nervöser. Anhand der vielen geschriebenen Briefe
wusste er, dass es seiner Familie gut ging. Er war sich aber sicher, dass sich trotzdem einiges
ereignet hatte, wovon er noch nichts wusste.
Nach dem Verlassen des Flugzeugs begannen sie mit der Suche nach Rodrigos Bruder Paolo, der sie am Flughafenausgang empfangen wollte. Dieser hielt ein Schild mit Rodrigos Namen in die Höhe, damit sie sich nicht verpassen würden. Diese Hilfestellung war allerdings überhaupt nicht nötig gewesen. Obwohl sich beide innerhalb der Jahre ziemlich verändert hatten, erkannte Rodrigo seinen Bruder sofort. Sie umarmten sich. "Wir haben uns sehr oft Gedanken gemacht wie es dir in der Fremde geht, und jetzt bist du endlich wieder bei uns", meinte sein Bruder freudestrahlend.
Nachdem sich der Besuch aus Deutschland und Paolo einander vorgestellt hatten, ging es per Bus zu seinen Eltern. Während der Fahrt erinnerte sich Rodrigo an einige Dinge, die er in Rio als Kind erlebt hatte - zum Beispiel als er als kleiner Junge zusammen mit seinem Bruder auf Sandplätzen mit den anderen Kindern um die Wette gekickt hatte. Seit diesen Tagen hatte sich in seinem Leben sehr viel ereignet - das wurde ihm erst jetzt richtig bewusst.
Nach einer halben Stunde erreichten sie das Haus von Rodrigos Familie. Schon bevor sie an der Haustür klopfen konnten, sprang die Tür auf. Seine Mutter stand vor ihm, direkt gefolgt von Rodrigos beiden kleineren Geschwistern und seinem Vater, der sich ihm mit einer Gehhilfe näherte - es war ein wirklich herzlicher Empfang. Bei der Begrüßung wurde Rodrigo von seinen Familienangehörigen fast erdrückt - es flossen sogar ein paar Tränen.
Obwohl Rodrigo seinem Vater einige Briefe geschrieben hatte, wurde er sogleich mit vielen Fragen überschüttet, die er aber natürlich gerne beantwortete. Anschließend zeigten sie ihm das Haus - es war noch schöner, als die Wohnung, die sie vor ihrem Leben im Armenviertel gehabt hatten. Fast an jeder Wand hingen Familienbilder. Von Rodrigo gab es natürlich nur Bilder als er noch ganz klein war. Um diesen Umstand zu ändern, stellte sich die gesamte Familie für ein paar Familienfotos auf - Cordulas Vater betätigte den Fotoapparat.
Cordulas Eltern und Rodrigos Familie verstanden sich auf Anhieb. Somit stand für Rodrigo einer gemeinsamen Zukunft mit Cordula in seinem Heimatland nichts mehr im Wege. Da sich Cordulas Eltern vergewissert hatten, dass ihre Tochter in Brasilien gut aufgehoben war, machten sie sich am nächsten Tag wieder auf den Weg zurück nach Deutschland.
Die Wünsche von Rodrigo hatten sich also erfüllt. Als kleiner Junge hatte er viele Gefahren und Prüfungen meistern müssen. Belohnt wurde er nun für seinen eisernen Willen mit einem schönen Leben mitsamt Freundin und Familie. Rodrigo ging seinen Weg, und er geht ihn immer noch ... so wie viele andere Kinder auf dieser Welt, die sich kleine und große Ziele setzen ... ENDE

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.12.2002. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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