Holger Wobst

Herbstlaubfeuerrauchschwaden

Ich hatte mir die Zeit genommen, mal wieder einen Tag ausschließlich für mich zu haben. Ich schlief bis acht Uhr oder so und frühstückte dann ausgiebig.

Ich hatte keinen Plan. Was sollte ich an diesem Oktobertag tun? Ich könnte einfach wieder in die Falle klettern und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen, dachte ich so bei mir, während ich mir eine weitere Tasse Kaffee eingoss.

Es wäre in diesem Jahr wohl auch die letzte Gelegenheit, noch einmal Angeln zu gehen, sich einen Hecht in die Küche zu holen. Verdammt, immer diese Entscheidungen zwischen zwei Brötchenhälften.

Der Tag war klar und würde bis zum Abend wohl auch nicht allzu kalt werden. Der Wetterbericht im Radio hatte was von zehn bis zwölf Grad verlauten lassen. Also entschied ich mich, mal wieder einige Stunden in der Natur zu verbringen. Aber es würde nichts mit dem Angeln werden. Ich nahm mir vor, mal wieder die Gegenden meiner Kindheit zu durchstreifen.

 

Ich wohne seit vielen Jahren in einer größeren Stadt, in der die meisten Menschen in weitgehender Anonymität vor sich hin vegetieren. Augen auf, Duschen, Frühstück, zur Arbeit, Mittag, nach Hause, Abendessen, Fernsehen, Duschen, ab ins Bett. Auch die meisten meiner Tage verliefen nicht anders. Die wenigen Abweichungen machten meine Existenz auch nicht gerade spannender. Es war an der Zeit, meinen Alltag mal wieder etwas zu verdünnen, meinem Atem etwas Sauerstoff zu gönnen.

Ich verließ die Stadt, fuhr mit dem Bus Richtung Norden und ließ mich um etliche Jahre zurück in meine Kindheit fallen.

Eine halbstündige Fahrt und ich war in einer völlig anderen Welt. Realität und Erinnerungen vermischten sich zu einem Traum, der mich wie ein Blatt über die Gegend trug. Ich ging an Gärten vorbei, betrachtete kleine Häuschen, alte Villen und genoss die klare Herbstluft.

Vom Zentrum des Ortes aus machte ich mich auf den Weg zu meinem früheren Zuhause. Die Straßen waren mir nicht mehr sehr vertraut, es hatte sich in all den Jahren zu viel verändert. Felder, auf denen ich früher Drachen steigen gelassen hatte, waren inzwischen Neubausiedlungen gewichen, deren Anblick regelrecht wehtat. Ich kam an längst verlassenen, völlig verwilderten Grundstücken vorbei, die aufgegeben worden waren, als auch hier der Exodus einsetzte und die Menschen in die Städte flohen.

Früher gab es hier unzählige Wochenendhäuser, ein paar Herbergen und auch Ferienlager. Während der Schulferien fanden viele Familien hier Ruhe und Erholung. Die Strände am See waren überfüllt und die Luft roch nach Sonnenöl und Wald.

Die Sommer meiner Kindheit verbrachte ich praktisch am Strand oder in den Wäldern der Umgebung. Morgens kam ich zum Angeln an den See oder ich breitete meine Decke auf dem noch menschenleeren Strand aus und aalte mich in den ersten wärmenden Strahlen der Sonne.

Heute war mir hier alles fremd. Ich zog durch die Straßen und versuchte krampfhaft, tief vergrabene Erinnerungen zu wecken. Gut, es waren seither viele Jahre vergangen, doch so wenig wiederzuerkennen, damit hatte ich nicht gerechnet.

Dann stand ich am Tor meiner alten Schule. Aus meinem Mp3-Player sickerte mir irgendein trauriger Song der Counting Crows in die Ohren und die Musik verstärkte diese seltsamen Gefühle, welche die Bilder auslösten.

Die beiden großen Pappeln begrenzten noch immer den alten Schulhofzaun, das war es auch schon. Das alte Schulhaus, eine ehemalige Villa aus rotem Backstein, war nicht wiederzuerkennen. Man hatte willkürlich links und rechts Garagen daran gebaut. Ich konnte mir irgendwie nicht vorstellen, hier einmal viele Jahre lang zu Schule gegangen zu sein. Wohin ich auch blickte, all das sah falsch aus, fremd, ohne jeglichen Erinnerungswert.

 

Als ich meinen Weg fortsetzte, ging ich ohne Hoffnung. Zwei Kilometer lagen vor mir.

Die große Tour war vergessen. Ich wollte nur noch das Haus sehen, in dem ich aufgewachsen war. Irgendwas musste doch meinen Geist in die Vergangenheit tragen können.

Ich mied die neu befestigten Straßen, nutze kleine, direktere Wege. Von einem bewaldeten Hügel blickend, sah ich plötzlich auf ein hoch umzäuntes Grundstück, das früher anders aussah, aber ganz anders.

Damals war dort eine Laubenkolonie. Enge Wege, kleine, gepflegte Beete und kleine Lauben aus Holz zur Erholung für manche Menschen aus der Stadt. Es roch im großen Umkreis schwer nach den Blumen aus den Gärten. Manchmal roch es nach frischer Farbe oder Teer und an vielen Sommerabenden nach gegrilltem Fleisch. Ich hatte ein paar Freunde in dieser Kolonie, meine damaligen Sommerfreunde.

Es ist schon seltsam, dache ich jetzt so bei mir, wie einem das Erinnern an Gerüche Bilder in den Kopf zurückholen kann.

Aber diese Bilder waren nicht stark genug um von dauerhafter Kraft zu sein. Ich sog mir die frische Oktoberluft durch die Nase, sah auf das Gelände hinunter und ein kalter Schauer zog mir über den Nacken. Ich blickte auf einen Schrottplatz, auf Unmengen aufgetürmten Metalls und es roch überhaupt nicht wie die alten Schrebergärten, es roch einfach nur dumpf nach verrottendem Eisen.

 

Schließlich erreichte ich mein ehemaliges Zuhause. Die Enttäuschung hätte nicht größer sein können. Das Haus war abgerissen, Hof und Garten verwildert.

Nach der Wildnis auf dem Grundstück zu urteilen, war das Haus bestimmt nicht lange nach unserem Wegzug abgerissen worden. Das Fundament war von undurchdringlichem Dickicht überwuchert. Überall standen große Bäume, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Nur ein wuchtig ausladender Mirabellenbaum stand da noch, an den ich mich erinnern konnte, mehr war da nicht.

Gut dreißig Jahre sind sehr lang, manchmal sind sie einfach zu  lang.

Ich machte mich wieder auf den Weg, diesmal wollte ich zum See. Vielleicht hatte ich dort mehr Glück. Mit Veränderungen von solchem Ausmaß hatte ich nicht gerechnet. Vielleicht würden mich die Erinnerungen am See für die bisherigen Enttäuschungen entschädigen. Ich verbrachte früher etliche Tage meiner Ferien an den Stränden dieses Sees, angelte dort in den Morgen– und Abendstunden, badete tagsüber mit Freunden, Urlauberkindern oder Kindern aus nahe gelegenen Ferienlagern oder lag faul in der Sonne herum. Ja, dieser See war für viele Geschichten aus meiner Kindheit der Hintergrund, der See und die Wälder und Felder in seiner Umgebung.

Um zum See zu gelangen ging ich die alten Wege durch die Wälder im Westen der Ortschaft. Hier hatte sich wenig verändert. Der Wald war dichter, als ich ihn in Erinnerung hatte, doch die alten Pfade gab es noch. Ich kam an Gärten vorbei, deren Zäune noch genau so aussahen wie damals.

Als der Wald sich lichtete, lag der See vor mir und ich blickte auf das vom Wind gekräuselte Wasser. Es lagen gut fünfzig Meter zerzauste Grasfläche zwischen mir und dem größten Strand des Sees. Direkt am Wasser stand ein älteres Pärchen. Der Mann streckte den  Arm aus um der Frau etwas, scheinbar am gegenüberliegenden Ufer des Sees, zu zeigen. Ich versuchte den Blicken der beiden zu folgen, konnte aber nichts in dem dünnen Streifen Wald am Horizont gegenüber entdecken. Die Sonne begann unterzugehen und zeigte sich als matter, satt orangener Ball über dem See und färbte den fast wolkenlosen Himmel in ein irgendwie seifiges Türkis. Nun war mir klar, was das Pärchen am Strand betrachtete.

Kurze Zeit später verließen die beiden den Strand, verschwanden auf dem Uferweg in Richtung Waldrand.

Ich sah mich etwas genauer um und merkte, daß ich nun allein war. Der Wind hatte aufgefrischt und trug einen schmalen Streifen schmutzige Gischt an den Strand. Es roch würzig nach Wasser und Wald, das Rascheln vom Schilf und der Blätter in den Pappeln mischte sich mit dem Plätschern der am Strand brechenden Wellen.

Es war Herbst, die Badesaison war längst vorbei und so vermißte ich etwas die Aromen von Sonnencreme und Bratwurst in der Luft. Der alte Steg war längst nicht mehr da und auch der Sprungturm war irgendwann verschwunden. Klar, der Turm war schon in meinen Kindertagen ziemlich verwittert gewesen, es war logisch, daß er all diese Jahre nicht überstanden hatte. Aber warum wurden Steg und Sprungturm nicht wieder neu aufgebaut? Solche Dinge machten einen Strand, der über den Sommer von tausenden Menschen besucht wurde, um einiges attraktiver.

Aber was ging das mich an? Zwar war es sehr schön am Ufer dieses Sees zu stehen, mir den Wind um die Nase wehen zu lassen und mir diese beeindruckende

Sonne anzusehen, aber die Erinnerungen aus meiner Kindheit berührte das wenig.

Es begann langsam zu dämmern und ich beschloß, mich wieder auf den Heimweg zu machen. Dieser Tag war zwar keine gedankliche Reise in meine Kindheit, aber dieser Ausflug hatte sich trotzdem gelohnt. Jetzt hatte ich Hunger, jetzt hatte ich Durst, jetzt war ich müde. Ich wollte wieder zurück in die Stadt, wieder nach Hause.

Ich machte mich auf direktem Weg zur Bushaltestelle und die alten Straßen durch den Ort. Ich ging die Wege, die ich kannte, vorbei an Gärten und Häusern, die sich kaum verändert hatten.

Der Mp3-Player gab mir den richtigen Sound für den Weg und so ging ich mit „Shadow Play“ von Rory Gallagher in den Ohren Richtung Ortskern.

Meinen Blick auf die unbefestigte Straße gerichtet marschierte ich an bunten Zäunen vorbei, hob dann den Kopf um nicht die nächste nach links abgehende Straße zu verpassen. Ich sog tief die frühabendliche Luft durch die Nase und blieb erstaunt stehen. Verdammt, dachte ich, das kann doch nicht wahr sein…

Irgendwie wirkte die Straße plötzlich wie in dünnen Nebel gehüllt. Aber die blassen, grauen Gespinste in der Luft waren kein Nebel, dem leicht beißenden Geruch nach waren es Rauchschwaden. Ich ging zügig weiter die Straße hinunter und bog dann links in eine Kastanienallee. Dann sah ich sie, diese typischen Relikte aus meiner Kindheit. Jemand hatte zwischen den Kastanienbäumen heruntergefallenes, trockenes Laub zusammengekehrt und die Laubhaufen dann angezündet.

Dann passierte es urplötzlich, ich war wieder zwölf Jahre alt. Eine genetisch bedingte Pyromanie verschleierte meinen Blick, als sich diese kleinen züngelnden Flammen im Laub im Glanz meiner tränenden  Augen spiegelten. Ich weinte friedlich vor mich hin und starrte verzückt ins Feuer. Es hatte nicht viel gefehlt und ich hätte angefangen, herumliegende Kastanien für meine Kastanienschleuder aufzusammeln. Mit zwölf hatte das durchaus Sinn gemacht, mit vierundvierzig machte es das nicht mehr, also ließ ich es.

Ich atmete tief die rauchige Luft ein und fühlte mich unbeschreiblich frei. Dieses Gefühl hatte ich den ganzen Tag gesucht und dann war es da. Ich war glücklich und auch gleichzeitig ein kleines bißchen wehmütig. Als ich den Kopf hob, meinen Blick wieder vom Feuer löste, bemerkte ich, daß mir gegenüber ein Mann stand und mich beobachtete. Er stützte sich auf einen Rechen, hatte einen glimmenden Zigarrenstumpen im Mundwinkel und sah zu mir herüber. Als sich unsere Blicke trafen, nickte ich ihm leicht zu und er nickte um meinen Gruß zu erwidern. Niemand von uns sprach ein Wort, trotzdem hatte ich das Gefühl, daß er irgendwie begriff, warum ich da mit tränenden Augen vor einem seiner Laubfeuer stand. Dann kauerte ich mich nieder, nahm ein glimmendes Kastanienblatt, streifte die Glut vom Blattrand und steckte es in eine Tasche meiner Jacke. Ich nickte dem Mann noch einmal grüßend zu und machte mich wieder auf den Weg zum Bus.

Der Geruch der Feuer wurde schwächer, blieb aber weiter in der Luft. Selbst einige Straßen weiter, als ich wieder an der Haltestelle stand, roch ich noch immer den Rauch. Der Bus ließ noch etwas auf sich warten, also setzte ich mich auf die Bank, schloß meine Augen und schnüffelte etwas von der kühlen Abendluft ein.

Dann hörte ich doch den nahenden Bus. Ich sah ihn, als er gerade in die Straße einbog, also drückte ich die Knie durch und stand auf. Über der Straße lag noch immer ein dünner Schleier von Rauch. Ich sog noch einmal die Luft ein und stieg lächelnd in den Bus, zahlte den Fahrschein und setzte mich ganz nach hinten auf die Rückbank. Der Bus war fast leer, nur wenige Leute saßen noch im vorderen Teil, daher hatte ich reichlich Platz auf der hinteren Sitzreihe. Ich stöpselte mir wieder gute Musik in die Ohren und lümmelte mich in die äußere Ecke des Sitzes.

Lächelnd döste ich vor mich hin, lauschte den Stones, die ihr „Wild Horses“ in nicht endender Widerholung sangen und genoß die Melancholie dieses Songs. Ich holte das angesengte Kastanienblatt aus der Jackentasche und roch daran.

Am Morgen war ich losgezogen um irgendwie Erinnerungen an meine Kindheit zu aktivieren, doch meine anfänglichen Hoffnungen gingen über den Tag verloren. Ich war enttäuscht und traurig, zu viel hatte sich in all den Jahren verändert.

Dann wehte mir dieser Rauch in die Nase und die Erinnerungen schossen wie Blitze durch mein Hirn. Dies machte den Tag zu einem guten Tag, ja zu dem besten Tag seit langem. Dieser Tag war mein Tag der Herbstlaubfeuerrauchschwaden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.11.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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