Hans Werner

Aus meiner Kindheit

D

iese Stunde gehört Frau Frieda Zeller. Ihr zu Ehren haben wir uns hier auf dem Friedhof versammelt. Gott vergelte ihr alles Gute, was sie für uns getan hat und gebe ihr die ewige Ruhe."

Die Worte des Pfarrpensionärs Ratgeb  waren, dank seiner klaren Stimme, bis in die entferntesten Ecken des Friedhofes vernehmbar. Ich stand in meinem schwarzen Anzug reglos und steif unter der Trauergemeinde und litt unsäglich unter der sommerlichen Hitze. Um mich herum verharrten Männer und Frauen in schwarzem Habit, diffuse Duftwolken von Frauenparfum mischten sich mit Gerüchen von Schweiß und bäuerlichen Stallungen.

Der Priester war mit seinen Verrichtungen am Ende, er trat vom Grabe hinweg zur Seite, um den Trauergästen Platz zu machen, die noch einmal auf den Sarg hinunterschauen und mit ein paar Tropfen geweihten Wassers von der Verstorbenen Abschied nehmen wollten. Als ich nach viertelstündiger Wartezeit endlich am Grabe stand, den Weihwasserpinsel in der Hand hielt, auf den üppigen Blumenschmuck hinunterschaute, da wurde in mir plötzlich ein altes Schubfach der Erinnerung aufgerissen, und ich hörte die Stimme der Verstorbenen zu mir sagen:

Hansele, was hosch für an Witzbrief gschribba."

Um das menschliche Gedächtnis ist es seltsam bestellt. In ihm werden, ohne erkennbares Ordnungsprinzip, Erinnerungen aufgehäuft und gespeichert. In wirrem Durcheinander schlummern sie im Schrein des Unterbewusstseins, versinken tief im schweren Wasser zahlloser Gehirnzellen und  werden nur an die Oberfläche gespült, wenn irgendein Satz, eine bestimmte Wahrnehmung oder ein sichtbares Detail wie ein Stein in diesen tiefen Brunnen des Gedächtnisses hinunterfällt und mit assoziativer Kraft Vergessenes emporzieht.

So erging es auch mir in jener Situation. Ich hörte die Stimme der Verstorbenen und sah mich plötzlich wieder als kleinen Jungen, der, sieben oder acht Jahre alt,  im elterlichen Hause bei Vater und Mutter lebte und gerade eine gehörige Dummheit, einen typischen Jungenstreich, begangen hatte.

Was war geschehen? Viele Ereignisse kamen mir wieder in Sinn, als ob sie sich erst gestern zugetragen hätten, längst vergessene  Eindrücke und Gefühle wurden plötzlich wieder lebendig. Mir war, als ob ein staubiges Photoalbum aufgeschlagen worden wäre und alte vergilbte Bilder aus vergangenen Tagen zu mir sprächen. Ich war, wie gesagt,  zwischen sieben und acht Jahren alt, lebte in meinem Elternhaus und bekam jeden Tag Besuch von Karin, einem Mädchen aus der Nachbarschaft, die ein Jahr jünger war und einer Flüchtlingsfamilie angehörte. Diese  Karin war ein nettes und liebenswürdiges Ding, für alle Spiele zu haben  und  hatte immer phantasievolle Einfälle. Oft saßen wir zusammen auf der kleinen Hauswiese und buken im Sandkasten Kuchen oder bauten kleine Häuschen aus gewässertem Lehm. Manchmal spielten wir auch Schule, und dann war unser größtes Vergnügen, wenn wir in der Rolle des strengen Lehrers den andern ein wenig verhauen durften. Noch hör ich sie, wie sie mich im Scherz anflehte: "Aber bitte, nicht fest." Und nie taten wir uns etwas zu Leide, wir waren unzertrennlich. Bis auf jenen Tag, der plötzlich diesem frühkindlichen Verhältnis ein jähes Ende bereiten sollte.

Da Karin immer zu uns herüberkam, war es ganz natürlich, dass sie auch ab und zu am Küchentisch saß und ein wenig mitessen durfte, wenn meine Mutter gerade frisch gedeckt hatte. Bei der Gelegenheit fällt mir wieder ein, dass ich selbst eigentlich nie bei der anderen Familie zu Besuch war, denn Frau Seidel, so hieß ihre Oma, war eine arme Flüchtlingsfrau, die als Heimatvertriebene aus ostdeutschen Gegenden stammte, und von deren schlimmem Schicksal man nur im Tone ehrfürchtigen Bedauerns sprach. Flüchtlinge galten als bitterarm, und zuweilen führte das in unserem Ort auch zu erheblichen sozialen Spannungen. Karin, um den Faden der Geschichte wieder aufzunehmen, saß also zuweilen bei uns am Küchentisch und durfte mitessen.

"Oh, es gibt Kartoffelbrei! Das ist mein Leibgericht," sagte sie mit leuchtenden Augen.

"Dann nimm dir nur einen ganzen Teller voll," ermunterte sie meine Mutter, die immer ein gutes Herz hatte und trotz unserer dürftigen materiellen Verhältnisse nie knauserig war.

Als Karin geschöpft und den ersten Löffel Kartoffelbrei in den Mund geschoben hatte, zog sich ihr Gesicht in die Länge. Die Begeisterung war der Enttäuschung gewichen, das Mädchen stocherte verlegen im Brei herum und nahm in langen Abständen nur noch geringste Mengen zu sich.

"Was ist, schmeckt der Brei nicht?" fragte meine Mutter, der das veränderte Verhalten natürlich aufgefallen war.

"Ach, wissen Sie," sagte Karin schließlich, "meine Mutter gibt immer ein bisschen Butter in den Kartoffelbrei."

Lächelnd erwiderte meine Mutter: "Ja, und ich nehm nur Milch, da schmeckt er natürlich etwas anders. Aber wenn du ihn nicht magst, musst du ihn nicht essen."

Nun wurde der Brei in die große Schüssel zurückgegeben, denn wir waren zu äußerster Ehrfurcht vor Speis und Trank erzogen worden, die als Gabe Gottes unter keinen Umständen weggeworfen werden durften. Karin brauchte ihren Teller nicht leer zu essen, und sie war darüber sichtlich froh. Nach dem Essen spielten wir weiter, als wäre nichts geschehen.

Doch nach einigen Tagen blieben Karins Besuche plötzlich aus. Wir konnten uns ihr Fernbleiben nicht erklären, denn vorher war sie immer jeden Tag gekommen. "Ich kann sie nicht halten, ich kann sie nicht halten," hatte Frau Seidel mit entschuldigendem Achselzucken zu meiner Mutter gesagt, "sie will immer zu ihrem Hans." Nun konnte sie sie halten, und wir wussten nicht warum. Bis sich einige Zeit später der Grund aufklärte.

Meine Mutter hatte in argloser Vertrauensseligkeit jenes Vorkommnis den Nachbarsfrauen mitgeteilt und sich dabei nichts Schlimmes gedacht, denn Worte aus Kindermund sind bekanntlich harmlos und bilden im allgemeinen keinen Grund zu Anstoß und Feindschaft. Doch hatte sie nicht damit gerechnet, dass diese Episode, einmal in der Nachrichtenzentrale der Nachbarschaft angekommen, automatisch weitergeleitet wurde an jene Adresse, die sie im eigentlichen Sinne etwas anging, nämlich der Familie Seidel. Und da wurde dann kurzerhand verfügt, dass Karin nicht mehr zu Werners dürfe, denn, so hieß es, sie plaudere Sachen aus der Familie aus. Diese Version wurde dann auch bei der nächstbietenden Gelegenheit brühwarm meiner Mutter aufgetischt.

Ich war entsetzt, enttäuscht, betrübt und in meiner Knabenseele tief verletzt. Ich fühlte auch die Einsamkeit, die mich von nun an wie Novemberkühle umgab. Da in der Nachbarschaft sonst keine Kinder meines Alters wohnten, war ich nun plötzlich ganz auf mich selbst gestellt.  So war ich denn allein und spielte, so gut es ging, mit meinen Spielsachen, schaute missmutig die alten Bilderbücher an, die ich schon zum Überdruss kannte, und sann  in meinem Herzen auf Rache.

Und da musste mir wohl jene verhängnisvolle Idee gekommen sein, die ich auch behänd und flugs in die Tat umsetzte, ohne mir über deren mögliche Folgen weitere Gedanken zu machen. Ich saß in dem großen vorderen Zimmer, das zur Straße hinausging, auf einer kleinen Wäschetruhe und hielt ein viereckiges Stück Papier in der Hand, nicht größer als 10 auf 10 Zentimeter. Auf dieses Papier schrieb ich mit Bleistift folgende Worte:

"Frau Seidel, Sie sind eine Sau.

Frau Zeller."

Noch sehe ich die steilen Buchstaben vor mir, die etwas verwackelte Schrift, vielleicht hatte ich beim Schreiben auch absichtlich fremde Schriftzüge angenommen. Ich war mir des Ausmaßes der Beleidigung überhaupt nicht bewusst, ich rechnete mir nur mit heimlicher Schadenfreude aus, wie sehr sich die angesprochene Frau Seidel beim Lesen dieser Zeilen ärgern müsste. Und der Ärger würde umso größer sein, als Frau Zeller, die ich als Absender angegeben hatte, auf der anderen Straßenseite schon so etwas wie eine unangefochtene Autorität darstellte. Sie war eine Frau volkstümlichen Schlages, die mit lebenspraktischem Urteilsvermögen Personen und Dinge bei ihrem Namen nannte und mit untrüglichem Instinkt kurzerhand Wertungen aussprach, die von anderen Frauen fraglos gebilligt und  übernommen wurden.

So ließ ich denn diese Briefpost an dem Fenster über der Wäschetruhe hinuntersegeln und schaute behaglich zu, wie das Papier unten auf dem kleinen Vorplatz unseres Hauses ankam und in den grauweißen Kieselsteinen liegen blieb. Ich blickte noch ein Weilchen auf das Papier, genüsslich und zufrieden, überließ es dann seinem weiteren Schicksal und war guter Dinge. Kurze Zeit später indessen änderte sich  die Großwetterlage in unserem Hause schlagartig. Denn meine Mutter hatte beim Kehren dieses Papier entdeckt und natürlich unschwer in mir den Urheber dieser friedensstörenden Botschaft vermutet. Das Verhör, das sie anschließend mit mir anstellte, war kurz, sehr ergiebig und endete für mich wohl in einer peinlichen Bestrafung.

Doch noch viel peinlicher war für meine Mutter die Aufgabe, nun hinterher vorsichtshalber mit den beiden Frauen, deren Namen ich so undiplomatisch in den Brieftext verflochten hatte, für alle Fälle ein Gespräch zu führen und sich zu entschuldigen. Wie die alte Frau Seidel reagiert hatte, ist mir heute nicht mehr in Erinnerung. Wahrscheinlich hat sie in ihrem fremdländischen Dialekt irgendeine begütigende Phrase gedroschen. Aber die Reaktion der anderen Betroffenen, der verstorbenen Frau Zeller, hat mich tief beeindruckt und ist in meiner Erinnerung lebendig wie farbiges Bild, das frisch aus der Druckerpresse kommt.

Mit ihren gutmütigen und verschmitzten Augen schaute Sie mich nur an und sagte:

"Hansele, was hosch für an Witzbrief gschribba!" Dabei lachte sie und gab mir damit zu verstehen, dass sie nicht böse war.

Nur wer erahnt, wie sehr damals meine Knabenseele unter der mütterlichen Strafe geduckt einherging, wie sehr ich unter den strengen Blicken meiner Mutter und ihrem Liebesentzug litt, kann ermessen, wie befreiend die Worte meiner Nachbarin auf mich wirkten. Sie waren mir wie eine Lossprechung, wie eine Absolution, ja in ihnen schien sogar so etwas wie eine verborgene Anerkennung vor meiner lausbubenhaften Kreativität mitzuschwingen.

"O selig, ein Kind noch zu sein!"  und selig sind die Menschen, die sich ihre Kindhaftigkeit bis ins Erwachsenenalter bewahrt haben. Später litt Frau Zeller an Alzheimer Krankheit und durchlebte ihre letzten Lebensjahre wie in einer öden und trüben Gedankenwüste.  Selbst ihren Sohn, der sie zuweilen aus Kiel besuchte, erkannte sie nicht mehr,  schließlich wurde sie bettlägerig und verschied eines Tages, wie ein schwaches Flämmchen unter zartem Windhauch zufällig erlischt.

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hans Werner).
Der Beitrag wurde von Hans Werner auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.11.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Hans Werner als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Anna - steiniger Weg von Irene Zweifel



Anna ist herangewachsen zu einer jungen Frau. Die Suche nach ihrer eigenen Persönlichkeit gestaltet sich für die adoptierte Anna nicht einfach. Wird sie es schaffen, sich den Weg - der steinig und reich an Hindernissen ist - dorthin zu bahnen, wo sie endlich inneren Frieden finden kann?
Nach «Anna - wie alles begann» beschreibt dieser zweite Teil des autobiographischen Werks von Irene Zweifel das Leben einer jungen Frau die vom Schicksal nicht nur mit Glück bedacht wurde:einer jungen Frau mit dem unbeirrbaren Willen, ihr Leben - allen Schwierigkeiten zum Trotz - besser zu meistern als ihre leibliche Mutter ihr das vorgemacht hatte.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Hans Werner

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der träumende Johannes von Hans Werner (Sonstige)
Pilgerweg...letzte Episode von Rüdiger Nazar (Sonstige)
Ich liebe diese Frau von Özcan Demirtas (Liebesgeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen