Jürgen Berndt-Lüders

Offenheit und Ehrlichkeit, eine anerkannte Tugend

Wir waren Kinder in derselben Klasse, Patrizia Bannert* und ich, und sie fiel mir durch ihre ruppige, burschikose Art auf, wie sie mit Jungen umging. Sie hatte das Pech, eine etwas kompakte Figur zu besitzen, und man bemerkte sie erst auf den zweiten Blick.

 

Patty und ich, wir waren auch Nachbarn. Man hörte nicht viel von den Bannerts, außer, dass Patrizia manchmal aufschrie und dann wieder leise wurde. So als sei ihr ein kleines Missgeschick passiert, als hätte sie sich geschnitten oder an der heißen Herdplatte verbrannt.

 

Patty hatte nie einen Freund. Sie war ja nicht der Männertyp, aber trotzdem faszinierte sie mich durch ihre ungewöhnliche Art. Sie muss das gemerkt haben, denn sie sprach mich an, als wir ungefähr sechzehn waren.  

 

„Ich bin offen und ehrlich“, sagte sie. „Offenheit und Ehrlichkeit gehören unbedingt zusammen. Ich möchte nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst, und deshalb warne ich dich. Verlieb dich nicht in mich; ich bin auf der Flucht aus Ostpreußen mehrfach von meinem Onkel missbraucht worden. Dadurch habe ich Probleme mit Männern. Jetzt ist er tot, von Russen erschossen.“

 

Ich war geschockt, und sie war absolut tabu für mich. Aber wenige Tage später kam sie rüber, als ich allein war.

 

„Wo ich schon so offen und ehrlich war, kann ich dir ja auch erzählen, weshalb ich manchmal aufschreie. Mein Bruder Konstantin schlägt mich gelegentlich aus heiterem Himmel.“

 

Ich kannte den Kerl. Er war ein paar Jahre älter als Patrizia und ich, und ich hätte ihm einfach nicht zugetraut, dass er sadistische Anwandlungen hatte. Ab sofort grüßte ich ihn nur noch kurz und knapp und sprach nicht mehr mit ihm.

 

Wir verloren uns aus den Augen. Ich war nach Berlin gezogen, und Patty anscheinend auch, denn auf einer Anti-Vietnamkriegs-Demo sah ich sie wieder. Während ich mich mehr mit der Theorie beschäftigte, war sie zur aktiven Kämpferin geworden. Mehrere Frauen standen um sie herum, während sie über die Männer und ihre aggressive Haltung in Kriegen und Auseinandersetzungen schimpfte.

 

„Das ist der Jürgen“, rief sie, als ich vorbei kam. „Jürgen ist nicht ganz so schlimm“, sagte sie und reichte mir die Hand.

 

„Alle Männer sind potenzielle Vergewaltiger“, warnte eine, aber Patty ließ sich nicht beirren. Wir landeten zu einer Art nostalgischen Nachbearbeitung unserer Jugend in einer Berliner Bierkneipe.

 

Ich versuchte, ihr den Gedanken, dass alle Männer Vergewaltiger seien, auszureden, aber sie lachte nur bitter und schilderte, dass sie selber das Produkt einer Vergewaltigung sei.

 

„Meine Mutter war bei einem ostpreußischen Gutsherrn als Magd beschäftigt. Bei der Kartoffelernte hat er sich von hinten angeschlichen, ihr den Rock über den Rücken geworfen und sie von hinten genommen. Daraus bin ich entstanden, und mein Vater hat mich nur deshalb angenommen, weil ihm der Gutsherr gedroht hat.“

 

Ich bedauerte die arme Patty. Und sie sah mir an, dass ich sie bedauerte. Ich fragte sie, was sie zur  Frauenbewegung gebracht hätte.

 

„Zur Frauenbewegung direkt eigentlich nichts. Ich bin offen und ehrlich, und nun mal direkt“, gestand sie mir. „Ich sage den Männern und auch manchen Frauen, dass ich deren  Ideen sowas von dämlich finde, und dass ich erst gestern einen Pack Klopapierrollen gekauft hätte, wovon ich gern ein paar Rollen spendierte, damit man darauf die beschissenen Artikel und Reden schreiben möge, die sie so halten. Damit sich jeder, der möchte, den Arsch damit wischen kann. So lange, bis die gesamten bundesdeutschen Klopapierproduktionen aufgebraucht und sämtliche Wälder der Erde zu Dreilagigem verarbeitet sind.

 

Und anschließend muss ich mir anhören, wie arrogant ich bin, dass meine Artikel und Reden auch nicht besser seien und ich mein Klopapier behalten und für den Eigenbedarf verwenden solle.

 

Ich bezeichne die, die sowas schreiben, als dumm, fordere sie auf, doch erst noch mal zur Schule zu gehen und Orthografie, Grammatik und Interpunktion zu lernen.“

 

Eine lange Rede von Patty, und sie schien mir fast ein wenig zu radikal zu sein. Von mir aus hätte es keinen weiteren Kontakt gegeben, aber kürzlich traf ich Patty wieder. Das heißt, ich sah sie, als ich jemanden in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie besuchte, über den ich eine Stellungnahme zu schreiben hatte. Patty saß auf einem Stuhl und starrte unbeweglich durch das Fenster in den Garten hinaus.

 

„Ist diese Frau nicht Patrizia Bannert, Herr Kollege?“, fragte ich den behandelnden Arzt. „Wir waren schon in der Kindheit Nachbarn, und später sahen wir uns in den Siebzigern.“

 

„Was haben Sie für einen Eindruck von ihr?“, fragte er. Er freute sich offensichtlich, jemanden gefunden zu haben, der einen unabhängigen Eindruck von Patty hatte.

 

„Tja“, ich überlegte, „sie ist schwer zu beschreiben. Sie hat es wohl auch nicht leicht gehabt. Als Kind ist sie missbraucht worden...“

 

Der Arzt unterbrach mich. „...es mag sein, dass ihr Onkel sich an ihr stimuliert hat, aber sie hatte nie in ihrem Leben Geschlechtsverkehr. Sie hat mir erzählt, sämtliche Frauen in der Reihe ihrer Vorfahren seien Opfer von Vergewaltigungen gewesen. Dabei schildert sie jedes Detail. Und ich habe beobachtet, dass sie Männer so weit treibt, dass sie sich schuldig fühlen. Dieses Gefühl genießt sie. Es ist eine Art Überkompensation ihrer Vergewaltigungs-Phantasien.“

 

„Sie meinen, sie will vergewaltigt werden?“

 

„Nein“, der Arzt unterbrach mich.  „Sie will geliebt werden, aber sie findet sich so unattraktiv, dass sie sich einbildet, bei Männern könne sie nur punkten, wenn sie ihren Körper vor ihnen weg wirft, sich vor ihnen als willfähriges Opfer ausbreitet, das sowieso ständig damit rechne, vergewaltigt zu werden.“

 

„Und ihre Aggressionen gegen alle Leute, die sie kritisieren?“

 

„Im Grunde das Gleiche. Sie glaubt nicht, dass sie genügend Anerkennung und Beachtung finden kann, wenn sie nicht pausenlos angreift.“

 

„Und das bezeichnet sie dann als Offenheit und Ehrlichkeit“, schloss ich den Dialog.

 

Der Arzt nickte.

 

Ich machte meinen Besuch, dessentwegen ich in die Psychiatrie gekommen war, und auf dem Rückweg sprach ich Patty mit ein paar netten, unverbindlichen Worten an.

 

„Was hat er dir von mir erzählt?“, fragte sie, ohne auf meine Nettigkeiten einzugehen. „Der Kerl will mir ständig an die Wäsche. Die anderen Frauen hat er schon rum gekriegt. Frag die Elisabeth da hinten.“

 

Ich war völlig verunsichert und dachte nur noch daran, wie ich am besten die Kurve kriegen und verschwinden konnte.

 

„Sei offen und ehrlich“, forderte sie, aber ich drehte mich um und ging.

 

Es schepperte hinter mir. Aus Wut hatte sie einen Blechteller gegen die Wand geworfen.

 

Sie verwenden heute noch Blechgeschirr in der Psychiatrie, und ich gehöre jetzt zu den Bösen...

 

 

 

 

 

für Christiane: Siehst du, ich kann nicht nur blödeln. Alles hat seine Zeit und ist eine Frage der Stimmung und Einstimmung.
Wer zuerst Künstler sein will und daran alles ausrichtet liegt genau so falsch wie der Handwerker, der immer nur die 'hohe Einschaltquote' will
Jürgen Berndt-Lüders, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.11.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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