Karl Wiener

Der Nachtwind

  

Diese Geschichte ist nicht von mir. Mein Vater, Ernst Wiener, erzählte sie uns vor mehr als 70 Jahren, und ich habe sie hier aufgeschrieben, weil ich denke, daß sie nicht verloren gehen sollte.

 

 

       Man konnte ihn hören, schon lange bevor er da war. Erst ein leises Rauschen an den fernen Berghängen, dann ein gewaltig anschwellendes Brausen in den naheliegenden Wäldern und schließlich klapperte er zornig im winterdürren Gezweig der Weiden und Holunderbüsche am Bach. Endlich sprang er mit einem Satz über die Straße und stand vor dem Zaun des Hausgartens: D e r N a c h t w i n d.

 

       Lange überlegte er nicht. Mit schnellem Sprung hüpfte er über den Zaun in die Beete und drehte sich in der Gartenecke einige Male im Kreis, dort wo die Steineinfassung mit dem Holzgitter des Nachbargartens zusammenstieß. Einen Wirbel machte er, daß der trockene Erdstaub empor wehte und die kahlen Johannisbeersträucher die nackten Arme hochwarfen. Dann stürmte der Wind hinauf zum Haus. Dort an der Ecke stand die Hundehütte. Als der Wind am Dach der kleinen Holzhütte zerrte, sprang der Hund heraus. „Halt...,was willst du?“, bellte er den Wind an und knurrte: "Wag dich nicht weiter...“. Aber der Wind gab der Hütte einen tüchtigen Stoß, stürmte weiter und stemmte sich gegen das Haus, daß die Wand wackelte. Gegen die Fenster wirft er Regentropfen, die er in einem kleinen Wolkensack mitgebracht hatte. Brakarakak klopften sie gegen die Scheiben. Aber ins Haus hinein konnte der Wind nicht.

 

       Drinnen lagen die Kinder ruhig in den Betten und schliefen. Ihre kleinen Schnarcher stiegen zur Zimmerdecke auf und schwebten dort, wie geschrumpfte Luftballons, denen die Luft ausgegangen war. Als da oben genügend Schnarcher  versammelt waren, erwachte die Mutter, stieg leise aus dem Bett und öffnete das Fenster. „Wuutsch...“ waren die Schnarcher hinaus, und „mrrr“ knurrte ihnen der Hund verschlafen zu. Dann entschwebten sie eilig in den Nachthimmel.

 

       Bevor die Mutter noch Zeit hat, das Fenster wieder zu schließen, ist der Nachtwind schon im Zimmer und platscht mitten in einen Korb mit frisch gewaschener Wäsche. Die Mutter will ihn hinauswerfen, aber der Nachtwind ist geschwinder. Ehe er noch gepackt werden kann, nimmt er Reißaus, zerrt schnell einige Wäschestücke aus dem Korb und fegt unter den Betten der Kinder hindurch. Von unten gibt er jedem einen Stoß, so daß die Kinder “huch“... im Schlafe seufzen und die Beine anziehen. Dann setzt er sich der Else mitten aufs Gesicht. „Huuh   , war das kalt. Das Mädchen wacht geschwind auf, sitzt kerzengerade im Bett und ruft:„Mama, in meinem Bett ist was Kaltes“.

 

       „Also doort ist er!“, flüstert die Mutter, „komm, hilf mir, ihn hinauszutreiben“. Als aber die Mutter zugreifen will, war der Nachtwind schon wieder fort. Oben auf dem Schrank sitzt er und wirft jedem, der ihn packen will, Spielzeugschachteln, die dort oben liegen, an den Kopf. Else hat sich ein Jäckchen angezogen und fuchtelt mit ihrem Puppenbesen nach dem Schrank. Von dem Spektakel wachen nun auch die beiden Buben auf. „Kommt, tummelt euch“, ruft Else den Brüdern zu. Klaus klettert auf den Schrank. Der Wind hopst herunter. Klaus springt ihm nach und landet auf Peters Rücken. Else ruft: „Ich hab ihn“ und stößt mit Wucht den Besen an Mamas Nase. Mama tut einen Schnaufer und Peter reibt sich den Buckel. Alle laufen umher und rennen sich gegenseitig um. Es entsteht ein schrecklicher Wirrwarr.

 

       Auch der Wind bekommt es mit der Eile, aber in seiner Angst findet er nicht das offene Fenster und rast wie wild die vier Wände entlang, immer rund herum im Zimmer. Das gibt eine schöne Bescherung. In der Ecke neben dem Schrank macht er in der Hast ein kleines Pfützchen, ausgerechnet auf die frische Wäsche. An der Türklinke reißt er sich eine kräftige Schramme, weshalb er laut aufwinselt. Klaus wirft ihm den Schulranzen nach. Der landet mitten in Elses Puppenwagen. Peter fischt sich ein Lineal und will den Wind aufspießen. Das Lineal zersplittert an der Wand. „Er hat mein Lineal zerbrochen!“ heult Klaus. „Und du bist mir auf den Rücken gesprungen!“ verteidigt sich Peter. ....“Jetzt nicht zanken!“ ruft die Mutter, „helft lieber den Wind hinauszuschaffen“. Und gemeinsam drängen die Mutter und die Kinder den nächtlichen Störer in eine Ecke. Nur mit Mühe und Not kann der sich hinüber zur Tür retten. Er macht sich ganz dünn und lang und schlüpft, „flupp...“, durchs Schlüsselloch in die Küche und von da durchs offene Fenster ins Freie.

 

       Der Hund war wieder aus der Hütte gesprungen und bellte geifernd dem Fliehenden nach, jagte ihm hinterher bis zum Gartenzaun. Der Nachtwind konnte eben noch durch die Zaunslatten entwischen und sich zitternd und erschöpft durch die Wälder davonmachen. Der Hund aber stand noch lange breitbeinig und mit vorgestrecktem Kopf am Zaun und bellte: „wau..wau..wau..“ und knurrte: ...„rrr“, immer wieder: „...rrr...rrr“.



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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.12.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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