Hans Werner

Die Lebensuhr

Studie von
Hans Werner




Als frischgebackener Pensionär suche ich immer wieder das Freie, um nicht in der Stubenluft meiner Wohnung dem Überdruss und der Langeweile zu verfallen. So war ich heute in dem kleinen neu eröffneten Stadtcafé, das den sinnigen Titel „Bohne“ trägt. Dort trank ich, wie gewohnt, meinen Cappuccino und blätterte dabei in einer Illustrierten, der „Bunten“, einem typischen Boulevardblatt, das überall in Arztpraxen und Cafés ausliegt. Auf hochglänzendem Papier fanden sich hier Filmstars und Adelprominenz abgebildet. Bei allen Fotos stach die kostbare untadelige Kleidung ins Auge. Alle Personen steckten in luxuriösen, vornehmen Hüllen, in der buntschillernden Uniform der Schickimicki–Welt. Die glamourösen Damen waren mit glitzerndem Schmuck behängt. Und ihre faltenfreien Gesichter waren durch raffiniertes Make-up auf Hochglanz gestylt. Und die Augen erst! Alle blickten einem entgegen, weit aufgerissen vor Glück oder vielmehr Glückshunger. Schaute man aber genau hin, dann entdeckte man in all diesen Minen eine gewisse Angespanntheit, eine sinnliche Aufgeregtheit vor dem Erlebnis des Glücks, vorwiegend des erotischen Glücks. Mit dieser Spannkraft lauerten Partylöwen auf ihre Beute. Und in gespanntem taumelndem Glück sehen die Weiber ihrer Eroberung entgegen, dem reizenden Kitzel ihres Vernaschtwerdens. Aber, wenn man genau hinsah, entdeckte man hinter den meisten Minen Furcht vor gesellschaftlicher Ausgrenzung und eine generelle Verlustangst. Ich las die Textbeilagen zu den Bildern. Da war immer die Rede von Scheidungen, Ehebruch, Neu-Verheiratungen, von wiedergefundenem Glück, von verletzter Frauenehre und Öffentlichkeitserfolg. Als ich schließlich meinen Cappuccino ausgetrunken hatte, verließ ich das Lokal und schlenderte durch die Stadt, in Gedanken verloren. Überall war Weihnachtsschmuck ausgelegt und die Menschen gingen ihren Einkäufen nach. Auch ihre Augen waren zumeist weit aufgerissen und auch ihre Blicke starrten in eine ziellose Weite. Bei allen schlug mir Eile, Hetze und Hast entgegen. Das war ja nun genau das Gegenteil dessen, was die Adventszeit eigentlich sein sollte, nämlich Zeit der Ruhe und Besinnung. Plötzlich dachte ich an jenen alten Schuldirektor, der vor nicht langer Zeit im gesegneten Alter von über 90 Jahren verstorben war. Regelmäßig marschierte er in seinem militärischen Stechschritt durch die Straßen der Stadt. Manchmal sprach er mich auch an, mit vorwurfsvollem Unterton, wenn ich zwischen meinen Unterrichtsstunden ab und zu im Freien Luft schöpfte. „Schon wieder eine Hohlstunde“, konnte er dann sagen und ich hörte heraus, dass er mich jungen Lehrer im Grunde als pflichtvergessen verachtete. Dieser Mann, ehemaliger Offizier und strammer Reiter, hatte es durch Arbeitswut und Selbstdisziplin dazu gebracht, seine unverwüstliche Gesundheit zu behalten, und war dann plötzlich, vermutlich an einem Schlaganfall, verstorben. Seine Frau, die unter heftiger Demenz litt, sah ihren Mann am Boden liegen, und dachte sich dabei aber nichts Ernstes. Erst nach ein paar Tagen wurde ein Anrufer aufmerksam, als er den Mann sprechen wollte und seine Frau ihm sagte, er sei zwar da, würde aber die ganze Zeit nur auf dem Boden liegen. Auf diese Weise ist der Tod dieses Menschen erst entdeckt worden. Ich überlegte bei mir, dass ich, würde ich wie der Schuldirektor 90 Jahre alt werden, von jetzt an fast noch 30 Jahre leben könnte. Dann aber fiel mir das Bibelgleichnis ein von jenem reichen Mann, der nach einer üppigen Ernte bei sich grübelte, wie er seine Schätze für alle Zukunft sicher unterbringen könnte. So will ich‘s machen, dachte er bei sich, ich will die alten Scheunen abreißen und neue größere bauen. Dann würde ich zu mir sagen: jetzt hast Du Ruhe für alle Zeiten. Aber der Herr antwortet ihm: Du Tor, heute Nacht noch wird man deine Seele von dir fordern. Diese Überlegung brachte mich auf den Gedanken, dass ja auch ich heute oder am folgenden Tag schon sterben könnte. Krank genug dazu war ich ja, mit meinem geschwächten Herzen. Und darauf folgte das Erlebnis, das den wahren Anstoß zu diesem vorliegenden Text gab. Ich hörte nämlich plötzlich ein Ticken, ein deutliches Ticken, etwas tief im Klange, wie bei einem alten Wecker, oder auch wie das dumpfe Ticken, das bei Fußgängerüberwegen ertönt, wenn die Blindentaste gedrückt wird. Daher dachte ich zunächst auch, dass dieses Ticken irgendwoher von einem Fußgängerüberweg kommen müsse. Wie ich dann aber weiterging, auf das Parkhaus zu, in dem mein Fahrzeug stand, hörte ich das Ticken nach wie vor, zwar immer gleich stark, doch immer bohrender und bedrängender. Mir kam es plötzlich so vor, als ob das vielleicht meine eigene Lebensuhr sein könnte, die da tickt, und ich bekam Angst. Denn ich wusste wirklich nicht, woher dieses Ticken kommen könnte, und konnte es mir beim besten Willen nicht erklären. Immer wieder blickte ich um mich, konnte aber nirgendwo eine verdächtige Lärmquelle ausfindig machen. Und mit jedem Schritt wurde das Ticken lauter und bohrte sich immer tiefer in meine Seele. Niemand kann ermessen, wie groß meine Angst wurde. Gepeinigt von dieser Angst hielt ich, um tief Luft zu holen, einen Augenblick im Gehen an. Da hörte das Ticken plötzlich auf. Und nun fiel mir ein, dass ich ja mein Brillenetui, wir Schwaben sagen auch „Brillenscheide“dazu, in meine seitliche Anoraktasche gesteckt hatte, und dass in diesem Etui die Brille beim Gehen immer hin- und herschlug und dieses Geräusch verursachte. Unbeschreiblich war meine Erleichterung über diese Entdeckung. Zugleich musste ich heftig über mich und meine Ängstlichkeit lachen. Dann aber kam mir die tiefe Symbolik dieses Geschehens zu Bewusstsein. War es denn nicht meine Brille gewesen, die mir nun dieses Ticken verursacht hatte, die guten Gläser, die mir auch im Alltag immer über meine eigene Kurzsichtigkeit hinweghalfen. Hab ich nicht durch meine Brille sozusagen meine eigene Lebensuhr vernommen. Tief ergriffen von diesem Gedanken stieg ich mit innerer Bewegung in mein Auto und fuhr wieder heim. Aber niemals werde ich dieses Ticken vergessen können.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.12.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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