Hans Werner

Irmgard und der alte Pädagog

Erzählung von
Hans Werner

Da lebte eine Frau. Sie befand sich in der Mitte ihres Lebens, zählte zwischen 40 und 50 Lenzen, doch in ihrem Körper brannte die Begier nach Liebe mit unverminderter Heftigkeit, ja, man konnte sogar sagen, dass sich diese Begier im Laufe der vergangenen Jahre eher noch gesteigert hatte. Denn es war so, dass ihr Gemahl, ein Mann fortgeschrittenen Alters und typisch bürgerlichem Aussehen mit einer edel gestylten Glatze, sie immer mehr sträflich vernachlässigte. Er selbst war Beamter im höheren Dienst und betreute in salbungsvoller Routine die Religionslehrer seines Bezirks. Seine Bibelkenntnisse waren unbarmherzig genau, und vor allem kannte er die zehn Gebote, die er, ja nach Bedarf, immer wieder zitierte, und die er um sich herum aufbaute wie eine Gottesmauer. Die Frau, nennen wir sie einmal Irmgard, hatte an der Seite dieses Mannes viele Jahre einer gut funktionierenden bürgerlichen Ehe erlebt. Obwohl zart von Gestalt, hatte sie doch so viel physische Widerstandskraft, dass sie drei Kindern das Leben schenken konnte, in Geburten, die in ihren Abläufen zwar schwierig, aber doch nicht jenseits des Üblichen lagen. Wie die Kinder heranwuchsen, begann sie immer mehr nur zu funktionieren, in verschiedensten Pflichten als Hausfrau und Hausmutter, und war zum Beispiel täglich Taxichauffeurin ihrer Kinder. Daneben übte sie noch einen eigenen Beruf aus, der sie ständig mit Aufgaben belastete, und im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit genoss sie einen wahrhaft guten Ruf, galt als Kennerin ihrer Materie, der Wissenschaft von guter Ernährung, und ihre Kollegen sprachen ihren Namen mit Ehrfurcht aus. In dieser Frau – wir nannten sie Irmgard - lebte nun also die Begierde nach Liebe, und zwar der seelischen wie auch der körperlichen, mit zunehmender Heftigkeit. Sie glich einem lodernden Feuer, das in ihrer Seele empor züngelte und an ihrem Gewissen brannte, daneben aber ihre Fantasie zu riskanten Ausflügen anstachelte.
Es begab sich, dass Irmgard einem Mann begegnete, einem älteren Pädagogen, der eine gewisse Zeit auch ihre Kinder unterrichtet hatte, die ihrerseits am Mittagstisch häufig von ihm erzählten. Dieser ältere Pädagoge war eine seltsame Erscheinung. Er wirkte etwas betulich und hatte eine Art, in tiefem Braun seine Augen wie ein treuherziger Pudel groß aufzuschlagen und um gutmütige Zärtlichkeit zu bitten. Er war etwas seltsam, denn er hatte auch die Gewohnheit, wie ein empfindsamer Seismograph alle gefühlsmäßigen Schwankungen um sich herum wahrzunehmen und dabei innerlich sozusagen auszuschlagen. Sein Herz war dünnwandig, eine weiche Membran bildete seine Hülle, durch die hindurch zuckte, was sich unter der Oberfläche der schützenden Bürgersitte in seiner Umgebung abspielte. Dieser Mensch hatte zudem die Angewohnheit angenommen, sich schriftstellerisch zu betätigen. Seither war er ständig auf der Suche nach Erzählstoff und bewegte sich durchs Leben mit der Schnüffelnase eines Spürhundes, der mit überfeinem Geruchsorgan die Gefühlsspuren abtastete, die sich vor ihm links und rechts kreuzten. Was er hierbei erlebte, war für ihn oft unerhört und bildete eine beständige Überraschung. Denn die ehelichen Bastionen, die sich solid und bürgerlich vor ihm auftaten, glichen ihm immer mehr brüchigen Katen, die allesamt am Verfallen waren und bei denen ein leiser Windstoß genügen würde, um sie vollends zum Einsturz zu bringen. Oftmals blickte er zum Himmel auf und forschte hinter den Wolken nach jenem Gott, vor dem die Menschen ihre Treuegelöbnisse sprachen, sei es mit ehrlicher gläubiger Inbrunst, oder auch nur, um einer alten Sitte zu gehorchen.
Um es kurz zu machen, es fügte sich, dass Irmgard mit dem alten Pädagogen in Beziehung trat und dass sich diese Beziehung immer mehr verdichtete, bis sie schließlich alle bunten Facetten der Liebe, die zwischen Mann und Frau denkbar sind, ausfüllte. Und nun brannte das lodernde Feuer in Irmgard immer heftiger und züngelte immer schärfer bis zu ihrem Gewissen empor. Mit ihrer grenzenlosen Sehnsucht vermochte sie es, den alternden Leib des Pädagogen wieder in Schwung zu bringen. Denn dieser alte Mann lebte in ständiger Spannung zwischen seiner kränkelnden Gesundheit und seinen eigenen Sehnsüchten, die in seinem abenteuerlustigen Herzen wie in einem Biotop üppig gediehen. Und so geschah es, dass die beiden Menschen in Liebe, in seelischer wie in körperlicher Liebe, zusammenfanden und sich immer wieder begegneten, unter dem Schutzmantel bürgerlicher Geheimhaltung. Aber Irmgard war von ständiger Unruhe und Sorge erfüllt. Sie fühlte, wie ihr eigenes Innere sich immer mehr diesem Menschen zuwandte, der ihrer Liebe vielleicht gar nicht würdig war, und so argwöhnte sie in ihrem Liebhaber immer Untreue und Unehrlichkeit. Sie entwickelte einen scharfen Sinn für Interpretation. Jedes Wort und jede Anspielung des Mannes deutete sie mit hintergründigem Misstrauen und entwickelte auf diese Weise einen ganz eigenen und ungewöhnlichen Sinn für Kombination und logische Auslegungskunst, welche vor ihrem geistigen Auge immer wieder Geschichten einer möglichen Untreue entstehen ließen. Dann weinte sie bitterlich und beschloss jedesmal, wie mit einem scharfen Messer die Beziehung zu diesem Mann endgültig zu durchtrennen. Und jedesmal, wenn sie dieses Messer ansetzte, war ihr, als müsste sie durch ihre eigene Seele schneiden, und sie zuckte vor dem letzten Schnitt zurück.
Und so lebte sie weiter, glücklich und unglücklich, aber unsterblich verliebt, an der Seite des alten Mannes, der sich seinerseits auch immer gründlicher und endgültiger Irmgard zuwandte, sich selbst in dieser Liebe einrichtete und sich darin heimisch machte. Sie bildeten ein seltsames Paar und blieben sich ihrer komplizierten Beziehung treu bis ans Endes ihres Lebens. Es war eine Treue von solcher Radikalität, wie sie sich sonst unter bürgerlichen Ehepaaren selten abspielte. Als nach vielen Jahren der Schnitter, den man auch den Tod nennt, mit seiner Sense den Lebensfaden der beiden Liebenden schonend durchtrennte, flogen sie auf leichten Fittichen zum Himmelstor. Michael wollte schon sein Schwert schwingen, da trat Petrus dazwischen und sagte:
„Lass diese beiden Menschen ein in die ewige Seligkeit. Denn sie haben einem Gefühl gelebt, das von Gott, unserem höchsten Himmelsherr, von Anbeginn an in die Seele der Menschen hineingelegt worden war. Und leider sind nur wenige Menschen gläubig genug, um in ihrem eigenen Leben dieser vornehmsten Gottesgabe gerecht zu werden. Lass sie ein, und stecke dein Flammenschwert in die Scheide. Sie werden auf den Wolken des Himmels ihren Lobgesang anstimmen, so rein, so selig, so ehrlich und so gläubig, dass alle Engel und Heiligen davon ergriffen werden. – Und nun, Michael, gehorche meinem Wort und denke daran, dass ich in der Hierarchie der Himmelsbeamten einen weitaus höheren Status einnehme als du.“
Nach diesen strengen Worten verzog sich Michael murrend in eine ferne Ecke, abseits des Eingangs zum Himmel, und Irmgard und der alte Pädagog zogen, Hand in Hand, in den Himmel ein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.12.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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