Wenn man für eine öffentliche Toilette fast einen Euro Eintritt verlangt, geht man meistens von entsprechendem Service aus. Ein Fußboden, dessen Fliesenfarbe zumindest teilweise noch erkennbar ist, weiße Kloschüsseln, Seife am Waschbecken. Dieser Ansicht war sie jedenfalls, als sie bereits die hinterste Kabinentür öffnete, um vergeblich nach einer Rolle Toilettenpapier zu suchen. Mies gelaunt patschte sie über den nassen Boden, ohne auf den Geruch, der von diesem ausging, achten zu wollen, um sich aus dem Papierhandtuchspender einige Blätter zu entnehmen. Sie war nicht sonderlich überrascht, dass sie, ihre Hand in den Schacht des Metallkastens steckend, ins Leere griff. Verflucht!
„Jolly!
Verdammt nochmal, hier ist kein Klopapier!“ Joel war mit seinen Weizengläsern
beschäftigt und nickte bloß. Er hatte rund hundertachtzig Kilogramm auf den
Rippen und konnte sich nur dem Gewicht angepasst bewegen. So auch in diesem
Fall, als er schwermütig den Kopf in Richtung Suzi, der zweiten Kellnerin, hob.
„Dein Job.“
Mehr
gab es für ihn dazu nicht zu sagen.
Das
Lokal war um die Mittagszeit relativ leer, daher hatte sie den Mann, der sich
zeitgleich mit seinem Hund durch die Glastür schob, sofort gesehen. Ihr Magen
drehte sich um. Ein hastiger Blick zu Joel, der erst den Neuankömmling, dann
sie anstarrte, und schon wusste sie, sie war erledigt. In der Hoffnung, nicht
schon entdeckt wurden zu sein, schob sie leise ihren Fuß zwischen
Damentoilettentür und Türrahmen weg und fing sie vorsichtig mit den Fingern
auf, um keine Geräusche zu verursachen. Leise tippelte sie über den feuchten
Boden und schloss sich in die letzte Kabine. Eine Schraube des Vorhängehakens
fehlte, sehr sicher sah ihr Versteck daher nicht aus. In der Kneipe konnte sie
nervöse Wortfetzen auffangen, der Schweiß lief ihr über die Stirn. Die
Toilettentür öffnete sich – zuerst Hundetapsen, dann schwere Männerfüße. Von
nun an war an Atmen nicht mehr zu denken. Sie saß auf der Kloschüssel,
vorsichtig umklammerte sie ihre Knie, damit man bloß das Zittern nicht hören
konnte. Die Schritte kamen näher. Stießen die erste der vier Kabinentüren auf.
Man konnte ihn deutlich atmen hören, ganz ruhig. Die zweite Tür. Schlabbergeräusche, sein
hässlicher Hund schien gerade die stinkende Flüssigkeit vom Boden zu lecken. In
einer Todesstille schob sie ihre Füße auf die Klobrille, sie hatte Angst, die
Tamponfolie auf dem Boden könnte unter ihren Stiefeln knirschen. Dritte
Tür. Nun betrat er langsam die Kabine neben ihr, man hörte ihn seine Hose
öffnen. Plätschergeräusche. Sie schloss die Augen, ihre Lippen bebten. „Hm, Klopapier?“
hörte man ihn murmeln, und dann lauter: „Felice“, er klopfte mit aller Kraft gegen
ihre Seite der Kabinenwand, „hast’ da Klopapier bei dir drin?!“ Lachen. Und ihr
Herz blieb stehen.
Felice
sprang von der Toilettenschüssel, riss die Tür auf und raste so schnell wie
möglich Richtung Restaurant. Leider hatte sie da ohne die englische Bulldogge
geplant, welche mittlerweile unter den Waschbecken herumschnüffelte. Sofort
fletschte sie die Lefzen, kam knurrend auf Felice zu, die sich nun keinen
Schritt weiterbewegte. Der Mann spülte und trat langsam aus der Kabine. „Und
nun kommst du schön heim zu Papi, meine Kleine, nicht wahr?“ Felice schluckte
den Kloß in ihrem Hals hinunter und nickte. Und für ein paar Tage hatte sie
wirklich geglaubt, sie könnte frei sein.
Als
die Beiden durch die Toilettentür traten, sah Felice Joel auf dem Boden liegen.
Er regte sich nicht, hielt krampfhaft seine Arme umklammert, Blut sickerte
durch sein Hemd. Sie schlug die Hände vor den Mund, „Jolly! Oh bitte, komm
hoch!“ In der Ecke kauerte Suzi, als Felice verzweifelt zu ihr hinüberblickte,
konnte sie ein leises Kopfschütteln wahrnehmen. Sie fühlte sich wie betäubt,
alles schwankte. Der Mann rief seinen Hund, welcher nun auch aus der
Damentoilette folgte. „Wir gehen.“ Sagte er, an Felice gerichtet, welche ihm
schweigend in den Wagen folgte.
Felice
ist sechsundzwanzig Jahre alt. Sie wurde in Pennsylvania geboren und an der
Geburtsstätte zurückgelassen. In diesem Schuppen am Wald hat Greg sie
damals gefunden. Er nahm sie mit und ließ sie bei seiner Frau aufwachsen, bis
sie ihr sechstes Lebensjahr erreichte. Eigentlich stehen Kindern in Gregs
„Familiengeschäft“, wie er es gern nennt, zehn „Unschuldsjahre“ zu. Doch Felice
war anders, als die anderen Kinder. Reifer. Und mit Abstand die Hübscheste, die
er je bei sich hatte. Damals, als Felice noch ein Kind war, hatte Greg noch
einen anderen Hund. Tombola. Felice und er haben sich geliebt. Da sie das
einzige der Mädchen war, die gleich nach der Geburt bei ihm aufwuchs, vertraute
er ihr. So hatte er auch keine Bedenken, wenn sie mit Tombola ausging. Die
anderen Kinder kamen nie aus dem Haus. Mit acht Jahren jedoch kam es zu einem
Streit zwischen Greg und Felice, sie floh. Greg fand sie auch dieses Mal sehr
schnell. Als er sie nach Hause in das Mädchenzimmer brachte, wehrte sie sich
nicht. Sie wusste, was er mit starrköpfigen Mädchen machte. Am nächsten Morgen
wurde Felice von Gregs Frau in den Hinterhof gerufen. Als das achtjährige Kind
durch die Holztür trat, das Fliegengitter beiseite schob und sich schützend die
Hand vor die Augen hielt, erblickte sie, im Sonnenlicht schaukelnd, ihren
einzigen Freund. Tombola war noch nicht tot, sein Hinterlauf zuckte. Die
Schlinge um seinen Hals hatte sich bereits in das braune Fleisch gebohrt, lange
würde es nicht mehr dauern. Als das Röcheln und Wimmern endlich verstummte,
ließ Greg die Schlinge fallen, der Hund fiel wie ein Sack Mehl zu Boden. Es war
Felice nicht möglich, zu weinen, sie drehte sich bloß um und blickte Doreen,
Gregs Frau, an. Sie hatte die fülligen Arme unter dem Busen gekreuzt, starrte
in die Geranien. Gesunkenen Kopfes ging Felice ins Haus. Dies war der einzige
Tag in ihrem Leben, in dem sie dieselbe hoffnungslose, verzweifelnde Betäubung
spürte, wie heute. Das Wissen, den einzigen Freund, den man hat, verloren zu
haben.
Es
begann zu regnen. Da keiner der Beiden etwas zu sagen hatte, war außer dem
quietschen der Scheibenwischer und dem Hecheln der Bulldogge nichts zu hören.
Die Fahrt würde etwa eine halbe Stunde dauern, weiter lag Joels Restaurant
leider nicht von dem Stripclub entfernt, sie hatte auch nicht lange
bleiben wollen. Nur kurz Abschied nehmen. Doch Greg war schneller gewesen. Als
der Wagen an einer roten Ampel zum Stehen kam, drehte Greg sich um: „Was machen
wir jetzt mit dir? Anketten?“ Felice starrte auf die verregneten Straßen. Im
Licht der Scheinwerfer konnte man die Tropfen gut erkennen. „Ich werde nicht
wieder wegrennen. Es gibt keinen Grund mehr dafür.“ Greg lächelte im
Rückspiegel, „Habe ich mir fast gedacht.“ Als sie vor dem gelben Haus hielten,
öffnete sich die Haustür auch schon. Auf der Stufe stand das letzte Kind, dass
Greg besaß. Lora ist nie so gefügig und brav gewesen, wie Felice. Als Greg sie
vor drei Monaten eines Abends mit nach Haus brachte, schüttelte Doreen nur den
Kopf. „Es ist das letzte Mal.“ War sein einziger Kommentar zu dem neuen
Familienzuwachs. Lora war dort bereits vier Jahre als gewesen, letzte Woche ist
sie fünf geworden, behauptet sie zumindest. Seit den verschärften
Polizeikontrollen lässt Greg eigentlich keine Kinder mehr tanzen. Doch sie sei
ihm „so in die Arme gerannt, die Kleine“. Felice durfte seit Loras Einzug in das Haupthaus aus dem Mädchenzimmer
ausziehen und sich ein Zimmer mit dem Kind teilen, was Felice sehr gut passte.
Die Mädchen, sieben Stripperinnnen, alle unter zweiundzwanzig, bespucken
Felice, schubsen uns beleidigen sie. Sie sind der Meinung, Felice dürfe nur
noch auf der Bühne stehen, weil sie „Papas Liebling“ sei – die Anderen brachte
Greg alle erst viel später, so mit sechszehn, siebzehn Jahren in den Club.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Nina Böhm).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.12.2009.
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