Nina Böhm

Felice - sein Mädchen

Wenn man für eine öffentliche Toilette fast einen Euro Eintritt verlangt, geht man meistens von entsprechendem Service aus. Ein Fußboden, dessen Fliesenfarbe zumindest teilweise noch erkennbar ist, weiße Kloschüsseln, Seife am Waschbecken. Dieser Ansicht war sie je­denfalls, als sie bereits die hinterste Kabinentür öffnete, um vergeblich nach einer Rolle Toi­lettenpapier zu suchen. Mies gelaunt patschte sie über den nassen Boden, ohne auf den Geruch, der von diesem ausging, achten zu wollen, um sich aus dem Papierhandtuchspender einige Blätter zu entnehmen. Sie war nicht sonderlich überrascht, dass sie, ihre Hand in den Schacht des Metallkastens steckend, ins Leere griff. Verflucht!

„Jolly! Verdammt nochmal, hier ist kein Klopapier!“ Joel war mit seinen Weizengläsern be­schäftigt und nickte bloß. Er hatte rund hundertachtzig Kilogramm auf den Rippen und konnte sich nur dem Gewicht angepasst bewegen. So auch in diesem Fall, als er schwermütig den Kopf in Richtung Suzi, der zweiten Kellnerin, hob. „Dein Job.“

Mehr gab es für ihn dazu nicht zu sagen.

Das Lokal war um die Mittagszeit relativ leer, daher hatte sie den Mann, der sich zeitgleich mit seinem Hund durch die Glastür schob, sofort gesehen. Ihr Magen drehte sich um. Ein hastiger Blick zu Joel, der erst den Neuankömmling, dann sie anstarrte, und schon wusste sie, sie war erledigt. In der Hoffnung, nicht schon entdeckt wurden zu sein, schob sie leise ihren Fuß zwischen Damentoilettentür und Türrahmen weg und fing sie vorsichtig mit den Fingern auf, um keine Geräusche zu verursachen. Leise tippelte sie über den feuchten Boden und schloss sich in die letzte Kabine. Eine Schraube des Vorhängehakens fehlte, sehr sicher sah ihr Versteck daher nicht aus. In der Kneipe konnte sie nervöse Wortfetzen auffangen, der Schweiß lief ihr über die Stirn. Die Toilettentür öffnete sich – zuerst Hundetapsen, dann schwere Männerfüße. Von nun an war an Atmen nicht mehr zu denken. Sie saß auf der Klo­schüssel, vorsichtig umklammerte sie ihre Knie, damit man bloß das Zittern nicht hören konnte. Die Schritte kamen näher. Stießen die erste der vier Kabinentüren auf. Man konnte ihn deutlich atmen hören, ganz ruhig.  Die zweite Tür. Schlabbergeräusche, sein hässlicher Hund schien gerade die stinkende Flüssigkeit vom Boden zu lecken. In einer Todesstille schob sie ihre Füße auf die Klobrille, sie hatte Angst, die Tamponfolie auf dem Boden könnte unter ihren Stiefeln knirschen. Dritte Tür. Nun betrat er langsam die Kabine neben ihr, man hörte ihn seine Hose öffnen. Plätschergeräusche. Sie schloss die Augen, ihre Lippen bebten. „Hm, Klopapier?“ hörte man ihn murmeln, und dann lauter: „Felice“, er klopfte mit aller Kraft ge­gen ihre Seite der Kabinenwand, „hast’ da Klopapier bei dir drin?!“ Lachen. Und ihr Herz blieb stehen.

Felice sprang von der Toilettenschüssel, riss die Tür auf und raste so schnell wie möglich Richtung Restaurant. Leider hatte sie da ohne die englische Bulldogge geplant, welche mittlerweile unter den Waschbecken herumschnüffelte. Sofort fletschte sie die Lefzen, kam knurrend auf Felice zu, die sich nun keinen Schritt weiterbewegte. Der Mann spülte und trat langsam aus der Kabine. „Und nun kommst du schön heim zu Papi, meine Kleine, nicht wahr?“ Felice schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter und nickte. Und für ein paar Tage hatte sie wirklich geglaubt, sie könnte frei sein.

Als die Beiden durch die Toilettentür traten, sah Felice Joel auf dem Boden liegen. Er regte sich nicht, hielt krampfhaft seine Arme umklammert, Blut sickerte durch sein Hemd. Sie schlug die Hände vor den Mund, „Jolly! Oh bitte, komm hoch!“ In der Ecke kauerte Suzi, als Felice verzweifelt zu ihr hinüberblickte, konnte sie ein leises Kopfschütteln wahrnehmen. Sie fühlte sich wie betäubt, alles schwankte. Der Mann rief seinen Hund, welcher nun auch aus der Damentoilette folgte. „Wir gehen.“ Sagte er, an Felice gerichtet, welche ihm schweigend in den Wagen folgte.

Felice ist sechsundzwanzig Jahre alt. Sie wurde in Pennsylvania geboren und an der Geburtsstätte zurückgelassen. In diesem Schuppen am Wald hat Greg sie damals gefunden. Er nahm sie mit und ließ sie bei seiner Frau aufwachsen, bis sie ihr sechstes Lebensjahr erreichte. Eigentlich stehen Kindern in Gregs „Familiengeschäft“, wie er es gern nennt, zehn „Unschuldsjahre“ zu. Doch Felice war anders, als die anderen Kinder. Reifer. Und mit Abstand die Hübscheste, die er je bei sich hatte. Damals, als Felice noch ein Kind war, hatte Greg noch einen anderen Hund. Tombola. Felice und er haben sich geliebt. Da sie das einzige der Mädchen war, die gleich nach der Geburt bei ihm aufwuchs, vertraute er ihr. So hatte er auch keine Bedenken, wenn sie mit Tombola ausging. Die anderen Kinder kamen nie aus dem Haus. Mit acht Jahren jedoch kam es zu einem Streit zwischen Greg und Felice, sie floh. Greg fand sie auch dieses Mal sehr schnell. Als er sie nach Hause in das Mädchenzimmer brachte, wehrte sie sich nicht. Sie wusste, was er mit starrköpfigen Mädchen machte. Am nächsten Morgen wurde Felice von Gregs Frau in den Hinterhof gerufen. Als das achtjährige Kind durch die Holztür trat, das Fliegengitter beiseite schob und sich schützend die Hand vor die Augen hielt, erblickte sie, im Sonnenlicht schaukelnd, ihren einzigen Freund. Tombola war noch nicht tot, sein Hinterlauf zuckte. Die Schlinge um seinen Hals hatte sich bereits in das braune Fleisch gebohrt, lange würde es nicht mehr dauern. Als das Röcheln und Wimmern endlich verstummte, ließ Greg die Schlinge fallen, der Hund fiel wie ein Sack Mehl zu Boden. Es war Felice nicht möglich, zu weinen, sie drehte sich bloß um und blickte Doreen, Gregs Frau, an. Sie hatte die fülligen Arme unter dem Busen gekreuzt, starrte in die Geranien. Gesunkenen Kopfes ging Felice ins Haus. Dies war der einzige Tag in ihrem Leben, in dem sie dieselbe hoffnungslose, verzweifelnde Betäubung spürte, wie heute. Das Wissen, den einzigen Freund, den man hat, verloren zu haben.

Es begann zu regnen. Da keiner der Beiden etwas zu sagen hatte, war außer dem quietschen der Scheibenwischer und dem Hecheln der Bulldogge nichts zu hören. Die Fahrt würde etwa eine halbe Stunde dauern, weiter lag Joels Restaurant leider nicht von dem Stripclub entfernt, sie hatte auch nicht lange bleiben wollen. Nur kurz Abschied nehmen. Doch Greg war schneller gewesen. Als der Wagen an einer roten Ampel zum Stehen kam, drehte Greg sich um: „Was machen wir jetzt mit dir? Anketten?“ Felice starrte auf die verregneten Straßen. Im Licht der Scheinwerfer konnte man die Tropfen gut erkennen. „Ich werde nicht wieder wegrennen. Es gibt keinen Grund mehr dafür.“ Greg lächelte im Rückspiegel, „Habe ich mir fast gedacht.“ Als sie vor dem gelben Haus hielten, öffnete sich die Haustür auch schon. Auf der Stufe stand das letzte Kind, dass Greg besaß. Lora ist nie so gefügig und brav gewesen, wie Felice. Als Greg sie vor drei Monaten eines Abends mit nach Haus brachte, schüttelte Doreen nur den Kopf. „Es ist das letzte Mal.“ War sein einziger Kommentar zu dem neuen Familienzuwachs. Lora war dort bereits vier Jahre als gewesen, letzte Woche ist sie fünf geworden, behauptet sie zumindest. Seit den verschärften Polizeikontrollen lässt Greg eigentlich keine Kinder mehr tanzen. Doch sie sei ihm „so in die Arme gerannt, die Kleine“. Felice durfte seit Loras Einzug in das Haupthaus aus dem Mädchenzimmer ausziehen und sich ein Zimmer mit dem Kind teilen, was Felice sehr gut passte. Die Mädchen, sieben Stripperinnnen, alle unter zweiundzwanzig, bespucken Felice, schubsen uns beleidigen sie. Sie sind der Meinung, Felice dürfe nur noch auf der Bühne stehen, weil sie „Papas Liebling“ sei – die Anderen brachte Greg alle erst viel später, so mit sechszehn, siebzehn Jahren in den Club.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.12.2009. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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