Martina Lehner

Brief aus der Vergangenheit

 

 

„Hatschi!“ Ein ohrenbetäubend lauter Nieser und dann noch ein Zweiter hallte durch das alte Haus.

„Gesundheit!“, rief Robert zu seiner Freundin nach oben, die gerade am Dachboden die alten Sachen seines Großonkels durchforstete. Er hatte das Haus erst vor kurzem geerbt und es war – wie man so schön sagt- bis obenhin mit Gerümpel voll gestopft. Aber wenn es erst einmal ausgeräumt und renoviert war, würde es gewiss ein schmuckes Zuhause für ihn und Silvie sein – und für die Kinder, die sie einmal haben würden, dachte er lächelnd. Robert sah alles ganz genau vor seinem geistigen Auge. Den Anbau mit dem Wintergarten und den vielen großen Pflanzen darin, das Schlafzimmer oben unterm Dach, wo er das alte Gebälk zwischen der Dachisolierung sichtbar erhalten wollte.

Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg und fürs Erste hatten sie genug damit zu tun, das Haus von seinen ALTLASTEN zu befreien.

 

Silvie strich sich leicht entnervt eine Strähne aus der Stirn, die sich von ihrem hochgesteckten Haar gelöst hatte. Es war nicht nur brütend heiß hier oben am Dachboden, sondern auch der Staub stand zentimeterhoch. Außerdem miefte es nach altem Gemäuer und nach was sonst noch allem, das wollte sie gar nicht so genau wissen. In jedem Fall war diese Art von Arbeit ihrer Hausstauballergie alles andere als zuträglich und schön langsam juckte nicht nur ihre Nase, sondern auch ihre Augen begannen zu brennen. Warum tat sie sich das alles an?

Die Frage war eigentlich überflüssig, denn schließlich musste irgendjemand ja das alte Zeug nach ihrem Gebrauchs- oder ideellen Wert durchsehen. Da sich Robert nicht für Sachen interessierte, die älter als fünf Jahre waren, blieb ihr der vorerst staubigste Part dieser „das alte Haus meines verstorbenen Großonkels für unsere gemeinsame Zukunft renovieren“ - Trips über.

Sie hatte sich bereits einen groben Überblick verschafft und das Ergebnis ihrer ersten Erkundungen war niederschmetternd! Scheinbar war mindestens die letzten 120 Jahre nicht ausgemistet worden! Die ehemaligen Hausbesitzer hatten alles, aber auch wirklich alles aufgehoben. Angefangen von dutzenden alten Jagdzeitschriften bis zu verschiedenen Schnittmustern, Bändchen, Wolle und Garne sowie Weihnachtsdeko in unzähligen größeren und kleineren Schachteln. Außerdem drei vollständige Kaffeeservice aus verschiedenen Epochen, so wie hunderte Bücher quer durch den Gemüsegarten. In den Schränken, die bestimmt aus der Zeit so um die Mitte des 19. Jahrhunderts stammten, fand Silvie Stapel von Leintüchern, Tischtüchern, Bettwäsche mit und ohne Stickerei oder mit Spitze besetzt. Vieles davon war leider durch die jahrelange unsachgemäße Lagerung auf dem muffigen Dachboden löchrig (wahrscheinlich Motten, dachte Silvie angeekelt) geworden oder wies Stockflecken auf.

Silvie nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche und krempelte (natürlich nur gedanklich, denn sie trug ein Top mit Spaghettiträgern) die Ärmel hoch und machte sich über einen mit einer dicken Staubschicht bedeckten Stapel von Bildern in verschiedenen Größen her, die oben auf einer Kommode mit vier riesigen Schubladen lagen. Sie sah gleich, dass sie bei dieser Angelegenheit überfordert war. Subjektiv gesehen sprach sie keines der Bilder an. Die Landschaftsdarstellungen und Stillleben konnte sie sich einfach nicht in ihrem Wohnzimmer vorstellen. Allerdings wusste sie, dass mitunter die pompösen Rahmen einen materiellen Wert hatten und dafür brauchte sie einen Fachmann.

Silvie zog die erste Schublade auf. Darin lag eine alte Fotografie von einer Villa, der Bilderrahmen war aus filigranen Metall. Irgendetwas an diesem Bild fesselte Silvies Aufmerksamkeit. Einer inneren Eingebung folgend drehte sie es um und löste vorsichtig die Klemmen, die den harten Karton mit dem Rahmen verbanden. Als sie den Deckel abhob, konnte sie eine zierliche Schrift auf der Rückseite der Fotografie ausnehmen. Die Schriftzüge waren von einer feinen Hand geführt und die Buchstaben waren für Silvie nicht zu entziffern, da sie in Kurrent geschrieben waren. Und doch fügte sich auf einmal ein Buchstabe zum anderen und sie begann zu lesen:

Mein liebster Heinrich! Hier ist die Fotografie von unserer Villa, um die du mich gebeten hast. Ich hoffe sehr, dass all die guten Erinnerungen, die damit verbunden sind, dir in den einsamen Stunden Trost sein mögen…..

Silvie wischte sich eine Schweißperle von der Stirn. Puh, war das heiß hier! Und ihre Augen brannten erst! Sie rieb sich die Augen, doch als sie sie wieder öffnete, sah sie wie eine zierliche Hand – ihre Hand – gerade einen Federkiel in ein altmodisches Tintenfass tauchte und mit einer selbstverständlichen  Leichtigkeit Kurrentbuchstaben flink auf das Papier brachte….

Mein Liebster, wie ist mein Herz so schwer, da ich dich in der Fremde weiß und du nicht bei mir sein kannst. Allein die Hoffnung, dass es dir gut gehe und du unverletzt seist, hält mich. Deine Briefe lese ich jeden Abend ehe ich mich zur Nachtruhe begebe und mit den Gedanken an dich und an den Kuss, den du mir bei unserem Abschiede gabst, schlafe ich ein. Süße Träume begleiten mich durch die Nacht und umso schwerer ist das Erwachen, da du fort bist. Möge Gott meine Gebete erhören und dich wohlbehalten in deine Heimat zurückbringen. Wie sehr ich doch diesen Krieg verabscheue, der uns allen nur Kummer und Leid gebracht hat. Noch haben wir genug zu essen und Brennholz für den Winter. Draußen scheint die warme Herbstsonne und zeichnet bunte Bilder an das Fenster. Wie lange noch? Wann wird uns der erste Frost ins Haus zwingen? Aber was red ich da lächerliches, unbedeutendes Zeug! Du hast gewiss andere Sorgen……

Silvie trat ans Fenster. Ihr langes dunkelblaues Kleid raschelte bei jedem Schritt. Gedankenverloren griff sie nach dem Medaillon, das sie um ihren Hals trug und spürte, wie es in ihrer Hand warm wurde. Unten auf der Straße fuhr gerade ein Bauer mit seinem Ochsenkarren, auf dem er Fässer geladen hatte, vorbei. Zwei kleine Jungen kämpften mit Holzschwertern, als ginge es um ihr Leben. Sie trugen keine Schuhe und ihre Gesichter waren schmutzig. Als die beiden zufällig zu ihr hochblickten, musste Silvie lächeln und sie winkte ihnen freundlich zu. Sie hatte Kinder gern. Würde sie irgendwann Eigene haben? Hoffentlich.

Wenn doch nur Heinrich da wäre! Tränen verschleierten ihre Augen und eine tiefe Traurigkeit ergriff sie.

Plötzlich nahm sie eine Unruhe auf der Straße wahr. Leute riefen aufgeregt durcheinander, aber sie konnte die Worte nicht verstehen. Silvie öffnete das Fenster und beugte sich raus. In ungefähr hundert Metern Entfernung konnte sie fünf Männer in Soldatenuniformen ausmachen. Die Männer wirkten erschöpft, ihre Haare waren lang und die Bärte ungestutzt, doch als sie näher kamen, stieß Silvie einen erstickten Schrei aus. Heinrich! Heinrich war zurück!

Sie raffte ihr Kleid hoch und lief so schnell sie konnte die Treppe hinunter. Die alte Tür riss sie ungestüm auf und kümmerte sich nicht einen Moment darum, dass eine Dame nicht mit hochgerafften Röcken und entblößten Beinen auf die offene Straße lief, wo sie jeder sehen konnte.

„Heinrich!“ Der Name kam nur mehr tränenerstickt über ihre Lippen.

Ein Soldat löste sich aus der Gruppe und lief auf die junge Frau zu.

Er riss sie in seine Arme, wirbelte sie herum, lachte und weinte zugleich. „Silvana!“

 

„Silvie! Silvie! Was ist mit dir los?“ Robert hielt seine Freundin fest und schüttelte sie. Sie verhielt sich äußerst seltsam. Gerade als er die ersten Dämmplatten zuschneiden wollte, hatte er am Dachboden lautes Getrampel und Rufen vernommen und dann war auch schon Silvie in Tränen aufgelöst die Treppe heruntergelaufen und hatte dabei immer „Heinrich“ gerufen. Hätte er sie nicht aufgefangen, hätte sie ihn glatt umgerannt. Und jetzt lag sie in seinem Armen únd stammelte immer den Namen eines fremden Mannes! Verdammt! Was war nur mit der Frau los? Robert schob sie ein bisschen von sich weg, um ihr in die Augen sehen zu können. Ihre Pupillen waren stark geweitet und es schien, als sähe sie durch ihn hindurch. Robert bekam es mit der Angst zu tun. Noch einmal schüttelte er sie, sagte  dabei ihren Namen und da sackte sie reglos in sich zusammen. Beinahe wäre er gestürzt, so sehr hatte ihn ihr Gewicht überrascht. Er griff mit einer Hand nach der Wasserflasche, die neben ihm stand, während er versuchte Silvie so gut es ging zu stützen.

Dann schüttete er ihr Wasser ins Gesicht. Mit einem Schlag war sie hellwach. Ihr Blick war wieder klar. Verständnislos sah sie ihn an.

„Mensch, Silvie! Du hast mir vielleicht einen Schreck eingejagt!“ Robert überspielte seinen Schrecken mit einem Lächeln.

„Was ist passiert?“

„Du bist plötzlich die Treppe heruntergerannt, in Tränen aufgelöst und hast  dabei immer Heinrich! Heinrich! gerufen. Meine Liebe, du bist mir eine Erklärung schuldig!“, tadelte er sie scherzhaft, obwohl ihm wahrlich nicht nach Scherzen zumute war.

„Aber du warst doch da. Ich habe dich auf der Straße gesehen und bin dir entgegengelaufen.“

„Nein, ich war nicht draußen. Ich war die ganze Zeit hier und habe die Zuschnitte für die Dämmung vorbereitet.“

„Das ist merkwürdig. Ich habe dich ganz deutlich auf der Straße gesehen. Du hattest eine Soldatenuniform an….“

Silvie hielt inne, als sie realisierte, was sie da gerade sagte. Es schien ihr auf einmal so unmöglich. Hatte sie mit offenen Augen geträumt? Da spürte sie, dass sie schon die ganze Zeit über etwas in ihrer Hand hielt. Als sie darauf sah, war es die Fotografie, die sie in der alten Kommode gefunden hatte. Auch Robert war das Bild bisher nicht aufgefallen.

„Das habe ich oben gefunden.“

Er nahm es aus ihrer Hand und betrachtete mit gerunzelter Stirn das Foto.

„Dreh es um!“, sagte sie mit belegter Stimme.

Roberts Blick fiel zuerst auf das Datum: 10. Oktober 1916.

Silvie bemerkte erst jetzt die Zahlen oben am Briefkopf. Sie sah Robert an und wusste mit einem Mal, dass sie beide eine gemeinsame Vergangenheit und auch eine gemeinsame Zukunft hatten. Der Kreis hatte sich geschlossen. Lächelnd nahm sie die Fotografie aus seiner Hand und gab ihm einen langen Kuss.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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