Marie Stiller

Dear T.

...

Wo soll ich nur anfangen?
Ich weiß, dass du morgen arbeiten musst, und doch - vielleicht gerade wegen der vielen Abende, die dir um die drei Stunden Schlaf bescherten. Wie dem auch sei - ich bilde mir ein, eine recht gute Menschenkenntnis zu besitzen. Wenn es darum geht, dass sich jemand für mich interessiert (ja, auch bei dir), oder wie jemand ist, oder gestern, beziehungsweise letzte Nacht, als du meintest, du müsstest skeptisch gucken. Vielleicht täusche ich mich auch, und ich hoffe es eigentlich, aber ich hab schon viele Männer weinen gesehen. Du weißt gar nicht, wie oft P. versucht hat, das nicht zu tun. Und man muss nicht unbedingt rote Augen davon haben - aber du hattest welche. Vielleicht.
Und auch jetzt.
Wie viel Offenheit verträgt eine Kurzgeschichte? Wie viel Phantasie darf eine wahre Geschichte trüben, wie viel Wahres darf eine Geschichte, also etwas Ausgedachtes, verunreinigen? Wie weit kann ich gehen, wie viel kann ich vor dir ausziehen? Doch eigentlich bist es nicht du, vor dem ich mich die letzten Tage so furchtbar ausgezogen fühle...
She's nothing but a beautiful lie. Denkst du, ich bin mehr?
Can you meet me halfway. Eigentlich ein sehr schöner Chacha, aber mit M. glaub ich erstmal ein Discofox. Zum Einsteigen; schön langsam.
Warum ich damit anfange? Ich weiß nicht, vielleicht lasse ich mich einfach zu leicht ablenken. Vielleicht ist mein kreativ-künstlerisches Gespür aber auch einfach unterbewusst so ausgeprägt, dass ich... das schreibe. Und erst kurz danach merke, wasfür eine wundervolle Überleitung das zum nächsten Punkt ist.
 Ich habe mal jemanden sagen hören, die Geschichten würden sich bei ihm beim Schreiben verselbstständigen. Ich kenne das - es fängt regelrecht an zu leben. Richtig faszinierend ist das. Trägt aber auch dazu bei, dass du manchmal absolut nicht weißt, wo du am Ende rauskommst. Irgendwie spannend. Nur unpraktisch, wenn du gezielt versuchst, etwas zu schreiben, und deine anfänglich gemachten Andeutungen dann nicht mehr passen, weil alles ganz anders kommt.
Ich will nach M. nicht noch einen verlieren, mit dem Tanzen so umwerfend - oder eben nicht umwerfend - ist wie mit dir. Das ist zwar nicht der Grund, also - kein Beweggrund für irgendetwas, das ich getan habe, gewesen, nie, aber... der Gedanke hat mir ordentlich zugesetzt. Ich will dich nicht nur als potentiellen oder temporären Tanzpartner verlieren, sondern auch als Freund. Kaum jemand hört so zu wie du. Ich hasse allein den Gedanken daran, dass ich dir weh tue. Aber ich kann nicht - so wie ich damals nicht N. widersprechen konnte. Das hätte alles nur schlimmer gemacht... doch er kam darüber hinweg. Alles halb so schlimm, dabei hat auch er geweint, damals.
Und wir?
Mir ist kalt. Mal wieder. Aber du bist nicht da und ich habe kein Interesse daran, herauszufinden, ob ich nun bei 20 oder bei 19 Grad friere.
Vor ein paar Tagen war alles so... anders. Ich saß abends - oder vielmehr nachts - hier und wollte wirklich, wirklich, zu dir, bei dir sein. Warum? Ich hab dich idealisiert, denke ich. Dein Zuhören. Jederzeit. Immer. Dein Leid-Teilen bei 'Marco' und all den anderen. Dann vermutlich die gewisse anzügliche Nuance in allem, was du mir gegenüber tatst. Fing das schon damals im November an? Oder erst im Dezember?
Das im Dezember war ja auch krank. Ich hab S. gesehen, gute Freundin oder Bekannte von P. Und alles, was mir in den Sinn kam, war wohl sowas wie 'sie könnte denken, Ch. wäre mein Neuer', und statt mich ihm gegenüber unverfänglich zu verhalten (und das kann ich gar nicht - ich kann nicht 'normal' sein...), zielte ich darauf ab, dass man mich eher dir zuordnen würde. Erfolgreich, scheinbar, leider. Und wozu?
Und diese Stimmungsschwankungen. Im einen Moment siehst du furchtbar gut aus. Im nächsten nur noch OK. Was ist denn bloß los mit mir?
Nun, neben dem Idealisieren lüge ich mich wohl selbst noch ganz gut an. Wie gesagt, so haben zwei meiner Beziehungen funktioniert...
Ich rede um den heißen Brei herum - aber der ist schließlich auch heiß. Ich will mich nicht verbrennen.
Hm, habe ich vermutlich bereits.
Wenn ich sage, I'm not in love, I just wanna be touched, kannst du mir das glauben. Das Interesse, das ich an dir habe, ist leider nicht mehr als eine bloße Schwärmerei. Du hast tolle Augen, tanzt umwerfend, hörst gut zu, bist groß. Gerade gestern hab ich festgestellt, dass du in bestimmten Lichtverhältnissen einen leichten Rotstich in den Haaren hast.
Aber ich bin Schauspielerin, um Himmels willen, never trust an actress, du hast es doch noch selbst gesagt! 7 und 16 Monate. Und noch mehr.
Es war schön. Warum auch immer, ich war derart berührungsausgehungert... es tat gut, das Interesse. Ernst gemeintes Interesse, nicht so ein "wir haben uns jetzt zum zweiten Mal gesehen, treffen wir uns mal?". Scheinbar jedenfalls.
Und dann muss ich dich fragen: wann hat das angefangen? Ich bin doch erst seit sechs Wochen wieder solo. Sechs Wochen! Das ist nichts, fast nichts. Schon gar nicht nach 16 Monaten! Wann hat das angefangen?
Und wie lange bist du bereit, zu warten? Du wirktest teilweise sehr ungeduldig. Nun, ist mir nur recht - du solltest nicht warten. Erstens nicht schon wieder. Zweitens nicht auf jemanden wie mich. Drittens überhaupt nicht.
Andererseits bin ich selbst Verfechterin des "interessiert? Gut, dann lernen wir uns jetzt ein Jahr lang kennen. Ist dir zu lang? Dann geh." - hätte ich das mal bei B. und P. befolgt...
Aber du weißt, wie es bei mir mit Gefühlen aussieht. Und die scheinen derart empfindlich zu sein, dass sie jetzt schon genug haben. Woran liegt das?
Vielleicht an den Befürchtungen, dass ich dir das Herz brechen muss, sozusagen. Wie das klingt...
Vielleicht liegt das auch daran, dass es schon so oft so lief. Oder dass du doch die eine oder andere Wunschvorstellung nicht erfüllst. Klar werden die unwichtig, wenn man erstmal verliebt ist, aber bis es bei mir so weit kommt...
Ich weiß. Mein Verhalten war total unfair. Ist es immernoch. Ich hoffe, ich muss nicht erst lernen, meine Feigheit zu überwinden, bis es mal klappt. Fänd ich echt ätzend.
Und was tust du, wenn ich nächstes Jahr nach Berlin gehe? Fernbeziehung?
Nein, ich nicht.
Es gibt so viele Gründe... schon so naheliegende Gründe... sechs Wochen, nicht verliebt...
Ich wäre gerne deine Julia, Romeo. Gerne deine Isolde, Tristan. Aber dann auch wieder nicht. Und ich denke - oder befürchte ich doch? -, dass es so besser ist. Also bin ich deine Rosaline, Romeo.
Doesn't mean anything.
Außer, dass ich schon wieder denselben Fehler gemacht habe.
Und es ist schwierig, aus alten Mustern auszubrechen... merkte ich grad vor einer halben Stunde wieder.
Du hast nicht geschrieben, wolltest nichtmal wissen, wo ich vorhin hin bin. Klar, vielleicht willst du mir einfach Luft lassen, aber ich kann das genauso als Desinteresse deuten. Als verletzten Stolz. Oder wasauchimmer.
Aber wie schon vorher bei J. oder den anderen Kerlen... mir wurde auf einmal klar, dass ich das lassen muss, wenn ich nicht wieder und wieder in dieselbe Situation geraten will.
Also habe ich dir nicht geschrieben. Und werde es jetzt auch nicht tun. Am besten auch nicht morgenfrüh. Ich denke, dass ich damals zu J. bin und mich entschuldigt hab für's Nicht-Melden, da war das okay. Ich hab was vergessen, es gemerkt, und mich entschuldigt. So bin ich. Aber jetzt small talk vom Zaun brechen - oder wie sagt man? - ...  nun, das wäre sicherlich nicht gut. Kontraproduktiv.
F.s Bekleidung in Meet Me Halfway erinnert mich an Formationstänzerinnenkleidung.
Spontanes Einstreuen unwichtiger Informationen? Oder hat das Ganze eine höhere Bedeutung? Vielleicht kann mich mal jemand analysieren... oder nein, lasst das lieber. Vielleicht kann ich dann nicht mehr schreiben, jedenfalls nicht mehr so. Hätte K. noch schreiben können, wenn er psychisch gesund gewesen wäre? Nun, die Interpretationen über den Vater-Komplex hätten dann wohl nicht mehr funktioniert. Aber ich denke, es wäre schon auch interessant gewesen, den Wandel zu erkennen? Oder?
Ich hab das Gefühl, dir nichtmal die Hälfte von dem gesagt zu haben, was ich dir eigentlich sagen müsste. Soundtrack aus R. Must Die. Na, das passt ja... Du weißt, wieso. Alle anderen werden es auf meinen Vergleich von eben beziehen. Und passt nicht beides, irgendwie? Wie schön, dass man die Absichten des Autors nicht kennt, und so interpretieren kann, was und wie man will. Also, immer drauf los.
Lenke ich ab?
Oder ist das nur das Chaos in meinem Kopf, das zum Ausdruck kommt?
Vielleicht gehe ich wirklich in's Kloster. Wenigstens ein paar Monate oder Jahre. Nur so lange, bis ich etwas sicherer bin, denn ich gerate - wie du weißt - immer an denselben Typ Mann. Und der hat leider nur schlechte Erfahrungen mit Frauen, überwiegend unerwiderte Gefühle. Und ich mit meinem Helferkomplex... muss da lernen, nicht zu 'helfen'? Das ist harte Arbeit. Und wir wissen beide, wie offensichtlich mein häufiges Scheitern ist.

Ich tanze barfuss durch die Welt, in hohen Schuhen über's Parkett und dann auf einmal in and out of your life. Aber ich bin nicht verliebt - ich wollte nur berührt werden. Tut mir leid. Ich hab mir versprochen, ich würde mich ändern, aber ich hab gelogen - oder zumindest versagt. Vielleicht ist es OK - everybody hurts sometimes. Leid tut's mir trotzdem... Aber wenn du dich an den Mast bindest hört der Sturm auf. Ich hasse es, dir sagen zu müssen, dass ich dich vorgewarnt habe... aber im Film hat's ja schließlich auch nicht geklappt. Bekamen die ihr Happy End? Kämst du besser damit klar, wenn ich sterben würde? Aber dann wär die Liebe ja doch nur gespielt.
Vielleicht würde mich die Bühne unschädlich für 'euch' machen. Was meinst du?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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