Ramona Jährling

Der sprechende Baum

 

Der sprechende Baum

Die kleine Mandy zeigte emsig auf jedes der Bilder die vor ihr lagen. Ein dickes Buch verbarg hunderte von dieses tollen Zeichnungen und Fotos. Kaum hatte die Mutter erklärt was alles auf einem Bild zu sehen war, flitze Mandys Zeigefinger schon hinüber zum nächsten. „Guck mal Mama“? „Ja, das ist genau so ein großes Schiff wie das, mit dem wir über die Ostsee geschippert sind“, antwortete die Mutter. „Oh ja ich weiß“, rief Mandy begeistert. Sie konnte sich noch lebhaft an die schaukelnden Touren erinnern. Das erst Mal hatte sie schreckliche Angst. Damals schwirrte in ihrem Kopf nur der Gedanke herum, dass sie ja gar nicht schwimmen konnte. Auf die Idee, dass das Schiff wohl behalten auf der anderen Seite am Ufer wieder anlegen könnte, kam sie gar nicht erst. Viel zu riesig erschien ihr der schwere Koloss, der träge im Wasser schaukelte. Aber die Mutter machte ihr Mut. „Mausel“, sagte sie damals mit flüsternder Stimme und kniete sich zu ihr nieder. „Du musst keine Angst haben. Das Schiff wird vor jeder neuen Fahrt kontrolliert. Und wenn ein Fehler entdeckt wird, reparieren sie den erst einmal. Außerdem wäre das die beste Gelegenheit endlich einmal auf meinem Rücken zu schwimmen. Wenn das Schiff untergehen sollte, bleiben wir oben weil wir nicht kaputt sind“. Da musste Mandy lachen und die Angst war nur noch halb so groß. Während die Mutter noch in Erinnerungen schwelgte sah Mandy auf das nächste Bild. Ein dicker Baum mit einer herrlich grünen Blätterkrone strahlte ihr entgegen. Der Maler hatte dem Baum ein lächelndes Gesicht gegeben. Das sah natürlich lustig aus. „Also Mama guck mal, ein Baum der reden kann. So was gibt es doch gar nicht“. „Ja mein Kind, so wie du meinst kann ein Baum natürlich nicht sprechen. Aber wenn du genau hin hörst, ihn ganz genau beobachtest kannst auch du verstehen was er sagt“. Das konnte die kleine Mandy nun überhaupt nicht verstehen. Mit Tieren konnte sie reden. Aber sie verstand sie nicht. Sie konnte nur ahnen und deuten wenn zum Beispiel ihr kleiner blaugelber Wellensittich zu Hause von seinem Spielplatz zwitscherte. Oder wenn ihren getigerten Kater der Hunger quälte und er so lange maunzte bis sie endlich das lila Schälchen mit Leckereien füllte. Aber ein Baum, der konnte doch gar nichts. Hilfesuchend sah Mandy zu ihrer Mutter auf. Wenn sie schon sagte, man könne einen Baum verstehen, dann sollte sie das auch erklären. Langsam stand die Mutter auf. Nahm das Buch von ihrem Schoß und klappte es schallend zu. „Na gut Mausel. Komm, lass uns hinaus gehen“. „Wo wollen wir hin“, fragte die Kleine erstaunt. „Zieh deine Jacke an und versteck deine Ohren unter deiner hellgrünen Mütze. Ich zeig dir einen sprechenden Baum“.

 

Mandy schüttelte ungläubig den Kopf. „Jetzt ist meine Mama völlig durchgedreht“, dachte sie. Aber sie brauchte nicht lange um ihre Meinung zu ändern. Eilig liefen die beiden zur Tür hinaus und liefen die Straße hinunter. Endlich kamen sie an einem großen, stattlichen Baum an. Seine sattgrüne Krone schien fast den Himmel zu berühren, so hoch war er hinaus gewachsen. „Komm, setz dich zu mir“, sagte die Mutter und zog an Mandys Ärmel. „Komm Mausel, wir wollen lauschen was er uns zu sagen hat“. Mandy lies sich neben ihrer Mutter fallen. Ihre Beine wirbelten nach oben und krachten auf die Erde nieder. „Still“, mahnte die Mutter und nahm sie in den Arm. Das kleine Mädchen im Schoß der Mutter die mit dem Rücken am Baum lehnte genoss den frischen Wind, der ihr um die Nase wehte. „Hörst du etwas“, flüsterte die Mutter leise. „Nein er spricht nicht“, sagte Mandy enttäuscht. Sie erwartete ein Wort. Wenigstens eins. Deshalb war sie auch nicht aufmerksam genug. „Hör genau hin mein Mausel. Die Blätter rauschen wenn der Wind in die Krone bläst. Die kleinen Zweige zappeln hin und her und stoßen aneinander. Du müsstest es jetzt aber hören“. Mandy wollte aufstehen um nachzusehen. „Nein, nicht schummeln“, sagte die Mutter lächelnd. „Zuerst wollen wir hören wie der Baum spricht. Sehen wollen wir es später“: „Na gut“, willigte die Kleine ein. Nun lauschte sie aufmerksamer. Und tatsächlich hörte sie das Rauschen der Blätter in der mächtigen Krone. Das Aneinanderschlagen der zierlichen Zweige. „Ich hör es Mama. Es ist als wenn er tanzen will. Aber er hat niemanden der mitmacht“. „Doch mein Mausel, er hat uns. Wir könnten um ihn herum tanzen. Vielleicht ist das auch nur seine Art ein Lied zu singen und der Wind ist sein Orchester. Sicher wünscht er sich, dass wir hier einen Moment verweilen“. „Oh ja Mutti, lass uns noch ein bisschen hier bleiben“. Die Mutter freute sich, dass ihre kleine Tochter verstand was sie meinte und fragte. „ Willst du nun sehen wie er spricht“? „Gleich Mutti, gleich“. Sie blieben noch eine Weile sitzen um zu lauschen, dann erhoben sie sich.

 

Die Mutter lief um den Baum herum und Mandy tippelte hinterher. „Was kannst du sehen“, fragte die Mutter. Mandy lief einige Runden um den Baumstamm. Sah ein paar Mal zur Krone hinauf und antwortete. „Naja, ich sehe einen dicken Baum mit vielen Blättern an den Zweigen“. „Das ist schon gut. Aber ich sehe mehr“, sagte die Mutter. Wie konnte sie mehr sehen? Mehr gab es doch nicht. Vielleicht noch die Wurzeln. Aber noch mehr? „Sieh genau hin. Welche Farbe haben die Blätter die du siehst? Sind sie alle grün? Sind sie gelb oder gar schon braun? Sieh dir seinen Stamm genau an“. Mandy war wie zuvor schon beim Hören zu oberflächlich. Das war nicht schlimm aber so konnte sie nicht alles sehen. „Die Blätter sind alle herrlich grün. Ich seh nur wenige gelbe und kein braunes“. „Sehr gut“, sagte die Mutter. „Was ist mit dem Stamm? Was kannst du von ihm sagen“? „Der sieht auch schön aus. Er fasst sich gut an. Es fällt mir schwer etwas davon auszubrechen“. „Siehst du mein Mausel. Dieser Baum sagt dir, dass er gesund ist. Das es ihm an nichts fehlt. Es ist Spätsommer. Der Wind ist nicht mehr so warm wie vor drei, vier Wochen. Es wird nicht mehr lange dauern bis zum Herbst. Dann werden sich die Blätter gelb färben. Der Baum wird müde und trennt sich von ihnen um in Ruhe den Winter verschlafen zu können. Aber du weißt, er ist gesund weil du ihn im Sommer in seiner vollen Pracht gesehen hast“. Nun konnte Mandy leicht verstehen was die Mutter meinte wenn sie sagte Bäume könnten sprechen. Nicht weit von ihnen stand auch ein morscher Baum. An seiner hageren Krone baumelten nur wenige braungelbe Blätter. Der Wind würde sie mit einem Hauch leicht von den Zweigen pusten. Sein Stamm war verziert mit kleinen Herzchen und vielen Namen. Nicht alle versuchten die Natur so zu fühlen und zu verstehen wie Mandy und ihre Mutter. Das war an diesem traurigen Baum deutlich zu sehen. Um seine Wurzeln lagen Papierreste, Blechdosen und eine Menge anderer Müll den man schon von weitem sehen konnte. Mandy war völlig fassungslos. Diesen Baum hatte sie gleich verstanden. Er bettelte nach Hilfe. Sicher fühlte er sich wie ein kleines Kind, dass hohes Fieber hatte und zu matt war um selbst wieder gesund zu werden. Mandy versuchte den Müll zu beseitigen und die Mutter half ihr dabei. Sie wollte ihn wieder gesund pflegen. Vorsichtig strich sie mir ihrer kleinen Hand über den zerschundenen Stamm. „Keine Angst“, flüsterte sie. „Wir helfen dir. Bald wirst du genau so gesund sein wie dein großer Freund dort drüben. Der Sommer verging viel zu schnell und Mandy war fast jeden Tag bei dem kargen Baum um zu sehen wie er sich entwickelte. Sie wusste, dass er nun bald erst einmal schlafen würde und freute sich schon ihn im Sommer wieder zu sehen. Mit vielen Blättern an starken Zweigen. Ohne den Müll vor seinen Wurzeln. Die Mutter und sie gaben Acht, dass niemand sich mehr in der Rinde verewigte. Den schönsten Dank den sie dafür erhielten waren seine Lieder, die er sang, wenn sie sich an ihn lehnten um zu träumen. Nun wusste die kleine Mandy, Mutti hatte Recht. Auch Bäume konnten sprechen. Die Menschen mussten nur versuchen sie zu verstehen. Der Blick durfte nicht husch, husch vorüber eilen. Und wenn alle sich so viel Mühe gaben wie dieses kleine Mädchen müsste bald kein Baum mehr nach Hilfe betteln um gerettet zu werden. 

( by Ramona Jährling ) 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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