Ralf Meurer

Der König der Tauben



 
„Da kommt der Lächler“, flüsterten die Leute nicht ohne Schaudern und machten dem eigenartigen Kerl, der da so harmlos durch die Straßen schlich, eine Gasse frei, breit für mehr als nur einen Mann.
 
Er spürte nicht, dass biedere Blicke voll Ekel, Verachtung oder Mitleid ihn aus den Augenwinkeln trafen; aber, vielleicht machte er sich ja nur nichts daraus, denn er war scheinbar immer und ohne jeden Anlass gut gelaunt. Seit dem Tag der Krankheit in seiner Jugend, an den er sich nicht mehr erinnern konnte, als schuldlos der Irrsinn über ihn kam und ihm zum Ausgleich ein unbewegliches Lächeln auf sein Antlitz schenkte.
 

 
Sie kannten ihn; zumindest erkannten sie ihn, denn er sah ganz anders aus als wir, mit den Lumpen an seiner krummen Gestalt und dem filzigen Haar, aber vor allem, war es dieses unheimliche Gegrinse auf dem schrägen Gesicht.
 
Seit schier ewiger Zeit war er mit der Stadt gealtert und gehörte dazu, unwichtig zwar, doch geduldet, wie die Tauben, derer man nicht Herr wurde und die alles beschissen.
 
Die Tauben liebte er und diese liebten ihn offensichtlich auch, wenn er Brotkrumen aus den Mülltonnen suchte und gerecht an sich und die Tauben verteilte.
 

 
Gurrend und grinsend saß er täglich zwischen ihnen auf dem Pflaster des schönsten Platzes, vor dem bronzenen Kriegerdenkmal, dem Abbild des berühmtesten Sohnes der Stadt, vor dem er sich genussvoll Krümeliges und Bröseliges in sein schiefes Lachen stopfte. Dabei ließ er den Tauben immer großherzigst mehr zukommen als sich selbst. Und er warf wütende Blicke gegen wilde Jungs, die sich von Mutter´ s Hand los gerissen hatten, um die faulen Vögel aufzuscheuchen.
 

 
Früher schon, als Fremde oft neugierig stehen geblieben waren um ungeniert den seltsam lächelnden Vogel zu betrachten, hatte er das Bild aus seiner Lumpenjacke gezogen, die abgerissene Titelseite eines Stadtführers, auf dem er lächelnd und groß vor dem Bronzedenkmal stand, einige Jahre jünger noch, aber umschwirrt von Tauben, die auf seinem irren Haupt gelandet waren und in der ausgestreckten Hand nach Fressbarem suchten.
 
Wenn den Besuchern das Bild dann lästig wurde, weil sie merkten, dass das Lächeln gar kein Lachen war, warfen sie Geldmünzen auf die Steine, um ihn loszuwerden.
 
Als ihm im jungen Alter das Bücken danach schwer wurde, blieb er einfach sitzen. Lästig wurde er nun niemandem mehr, aber dennoch fiel manchmal eine Münze. Jetzt aus Mitleid, mit dem verblödeten König der Tauben.
 
Dieser sparte die kargen Geldstücke sorgfältig zusammen, damit er an schlechten Tagen Brot und Semmeln davon kaufen konnte.
 
Seine grau-blau-weißen Freunde brauchten den Hunger nicht zu fürchten und erst am Abend, wenn auch die letzte satte Taube der Müdigkeit den Vorzug gab, verließ er schleichend den Platz, lächelte sich dann wieder den Weg frei, bis zu irgend einem dieser Heime, wo Lächler und andere Gestalten eben zu Hause sind.
 

 
Die Jahre vergingen für den Lächler im gleich bleibenden Fressrhythmus der Tauben, die Dankbarkeit zeigten und immer mehr geworden waren.
 

 
Schon längst gab es einen neuen, noch schöneren Stadtführer, mit bunt-glänzendem Titelbild, doch nun ohne den Lächler oder die Tauben, denn der Rat der Stadt hatte beschlossen, dass die Tauben von nun an eine Plage waren.
 

 
Auf Bekanntmachungen stand es überall zu lesen:
 

 
Das Füttern der Tauben ist verboten!
 
Das zunehmende Beschmutzen und das dadurch bedingte Zerstören der historischen Häuserfassaden, sowie gefährliche Krankheitserreger im Taubenkot machen eine Regulierung des Taubenbestandes zum Wohle der Allgemeinheit dringend erforderlich… Wer Tauben auf öffentlichen Straßen und Plätzen füttert… wird bestraft…
 
Der Stadtrat.  
 

 
Der Lächler wusste davon nichts, konnte er doch weder lesen noch verstehen.
 
Er begriff auch nicht, warum plötzlich keine Münzen mehr fielen und Mütter ihre Kinder von der Hand schickten, damit diese nach den Tauben treten konnten. Wenn überhaupt, dann kämpfte er lächelnd, mit harmlos-unbemerkter Aggression und hörte die Beschimpfungen wohl nicht, denn wie eh und je verteilte er Bröseliges und Krümeliges.
 

 
Den Tauben konnte man das Fressen nicht verbieten, aber die Quelle ihres unnützen Lebens, die sollte versiegen. Da der Notstand unfragwürdig war, kamen sie dem Lächler mit Verfügungen und Befehlen.
 
Doch statt Einsicht war seine Ignoranz unerwartet beharrlich, bis die Herren meinten, er sei nicht blöd, sondern nur unwillig und stur.
 
Die Vernunft und das Recht trieben die Entscheidung voran, und wer das Leben kennt, weiß, das am Ende der Geduld nicht selten die Gewalt steht.
 

 
Ein dutzend Männer sollten wohl genügen, beschloss der Rat im Geheimen. Ergreifen sollten sie ihn, zur Abenddämmerung, auf frischer Tat ertappen, beim Verteilen von Bröseligem und Krümeligen. Allemal Grund genug für die Deportation in eine Anstalt. Weg mit diesem verdammten Notstandsbeschwörer!
 

 
Am Tagesende schlichen sie also heran, zwölf starke Kerle, aus jeder Stundenrichtung einer und sekundengleich packten sie ihn, den Ahnungslosen, der nicht mal erschreckte, weil er selbst dafür zu blöde war.
 
Bröseliges und Krümeliges fiel aus seinen Händen, als sie ihm die Arme auf den Rücken drehten, so dass er vor Schmerz die Augen aufriss.
 
Während vier ihn dann zum Wagen schleiften, pickten die Tauben, gierig wie immer, das Futter vom Pflaster und hätten auch keiner Warnung geglaubt, dass die anderen acht jetzt mit Netz und Stöcken bewaffnet gefährlich nahten, um ihnen den gerechten Garaus zu machen. 
 

 
Unter einem großen Netz waren sie gefangen, als ein unwaidmännisches Knüppeln begann, bis graue, blaue und weiße Federn flogen und Taubenblut spritzte. Im gnadenlosen Grölen und Johlen der Henker starben die Tauben stumm, und ganz sicher wäre nicht ein einziger Taubenkopf unzerschmettert geblieben, wenn nicht das passiert wäre, wovon Augenzeugen noch heute berichten.
 

 
Mit ungeahnter Kraft schlug der Lächler sich plötzlich aus den Fesseln frei, rannte hin zum Massaker und begann mit irrer Wildheit die Opfer aus dem Netz zu befreien.
 
Nur einen Moment standen die Henker erstaunt und regungslos, dann hoben sie kampfbereit die triefenden Knüppel. Doch, noch bevor der erste Schlag den Lächler treffen konnte, sprang er auf den Sockel des Denkmals, und so flink wie es keiner geglaubt hätte, zog er sich an den Bronzearmen des Kriegers nach oben, bis er lachend hoch über der Meute stand.
 
Zwei Tauben, ein Pärchen, gerettet durch ihn, flatterten auf ihren sicheren Sims empor, während der Lächler wie zum Fluge die Arme breit von sich streckte.
 
Ein lautes Raunen ging über den Platz, denn der Lächler stürzte sich vom Kopf des Denkmals hinunter, direkt vor die Füße des stolzesten Sohnes der Stadt, wo er mit geplatztem Gedärm zwischen hingerichteten Tauben tot auf den Steinen liegen blieb.
 

 
Später, bei Dunkelheit, kam ein schwarzer Wagen, und als man den Lächler auf den Rücken drehte - welch ein beharrlicher Irrsinn - da lachte er immer noch.  
 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.01.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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