Vanessa Skrzypczak

Edward

 

                                                Edward

 

 

Ich bin Edward. Stark wie ein Bär und furchtlos wie ein Löwe. Ich bin der Fels in der Brandung – standhaft und  todbringend. Trotzig verschränke ich die Arme vor der Welt und meinem Leben. An mir zerbricht jeder.

Ja – das bin ich, Edward, und skrupellos wie ein Mörder.

Nicht nur die kleinen fürchten mich – oh, nein – selbst die großen, selbst die Lehrer meiden es, mir etwas abzuverlangen.

Die Menschen wechseln die Straßenseite, sobald sie mich sehen und kein Bettler wagt es, mich um Almosen zu bitten.

Denn ich bin Edward – stark wie ein Bär, furchtlos wie ein Löwe, todbringend, skrupellos.

 

Dienstagmorgen, erste Pause. Ein Schüler, offenbar neu hier, machte soeben meine Bekanntschaft: mit blutiger Nase liegt er auf dem Boden, hält sich wimmernd den Bauch. Eine Traube Kinder hat sich um uns herum versammelt und gafft stumm. Dass sie sich das noch trauen…also, das muss ich ändern. Mit dem Grinsen eines Siegers und dem Blick eines Mörders sehe ich auf den Jungen herab. Aufgesetzt. „Dass du dich ja nie wieder vordrängelst, du Scheißer!“ drohe ich und spucke ihm ins Gesicht. „Und hör’ auf zu heulen – das nächste Mal zerquetsch’ ich dich einfach. Ich bin nämlich Edward – merk’ dir das, man.“ Noch einmal trete ich in seinen Magen, dann wende ich mich gleichgültig ab. Wahre Siegergefühle verspüre ich schon lange nicht mehr. Ein Mädchen tritt mir in den Weg, sechste Klasse –höchstens-, stemmt die Hände in die Hüften, sieht mir in die Augen. Ich bleibe stehen, blicke sie drohend an. „Hee!“ sagt sie. „Edward. Weißt du, was ich mich frage? – Ob du wohl wirklich so böse bist.“ Dabei wendet sie den Blick nicht ab, nicht ein Mal.

„Halt’s Maul, Miststück!“ knurre ich. Noch ein tiefer Blick in die Augen, dann geht sie zu dem Jungen und hilft ihm auf. „Hör’ auf zu heulen,“ meint auch sie. „Es hätte schlimmer kommen können.“

Nun, ich bin Edward – mich lassen solche Geschichten völlig kalt. Aber der Mut des Mädchens will mir einfach nicht aus dem Kopf. Mut? Ach was – töricht war sie! Ihr kleiner Auftritt hätte sie den Kopf kosten können. Und das würde es sie beim nächsten Mal auch.

 

Der Weg nach Hause ist wie immer: Dort wo ich entlanggehe, scheint der Wind den Atem anzuhalten. Hält er den Atem an. Ich verschmelze mit dem steinigen Boden, werde eins mit ihm. Er ist der einzige, der mir standhält – denn ich bin doch wie er, oder nicht? Der Fels in der Brandung, standhaft und todbringend…Edward. Und doch…

Ich gehe weiter.

Furchtlos wie ein Löwe…

Das Schloss klickt leise beim Öffnen der Türe.

…Gibt ein Fels nicht auch Halt?

Mein Zimmer riecht muffig.

Und stark wie ein Bär…

Mit einem lauten Scheppern landet der Ball im Mülleimer vor dem Tisch. Tor.

…Hat nicht auch ein Löwe mal Angst?

Ich sollte meine Bettwäsche wirklich wechseln.

Skrupellos wie ein Mörder…

Der Akku meines Handys ist bald leer.

…Zeigt ein Bär nicht auch manchmal Schwäche?

Das Summen dieser gottverdammten Fliege nervt.

…Und ist ein Mörder immer skrupellos?

Eine Träne fällt lautlos auf das weiche Laken.

 

 

 

(Juli 2007)

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