Patrick Schön

Autofahrt an die Himmelstür

Ron wusste, dass Sven, sein Bruder, noch nicht schlafen würde, dass er sofort erfahren wollte, was der Arzt gesagt hatte.

Als er in der späten Stunde in das Zimmer trat, lag sein Bruder schlafend auf dem Sofa, in seinen Händen ein Buch, welches er aus langeweile gelesen hatte.

Ron setzte sich auf einen Sessel und verfiel in Gedanken.

Warum hatte Sven nicht mitkommen wollen? Sven war sein älterer Bruder und sein Halt in Situationen wie dieser.

»Ich muss für eine immens wichtige Prüfung lernen.«, hatte er gesagt, dabei hatte Ron noch nie erlebt, dass Sven für irgendwelche Prüfungen lernen musste. Er war gut in der Schule und alle wussten das.

Ron wusste, dass er log, nirgends lagen Schulbücher herum oder ähnliches.

Er wusste, dass Sven log und er fragte sich warum.

Hatte er es innerlich schon gewusst? Wäre die endgültige Antwort zu schwer für ihn gewesen?

Ron hustete laut, woraufhin Sven aufsah.

»Ich muss kurz ins Bad.«, sagte Ron und verschwand aus dem Zimmer. Er ging zügig ins Badezimmer und schloss die Tür heftig, als er eingetreten war. Er hustete lauter als vorher und hielt sich die Hände an die Brust.

Ein weiterer Anfall folgte und er sank auf die Knie. Er hustete lange, bis er sich schließlich erschöpft gegen die Wand lehnte.

»So ein Dreck.«, fluchte er leise und stand zitternd auf. Er hing über dem Waschbecken als er auf seine Uhr blickte.

23:22 Uhr.

Er wusch sich das Gesicht und die Hände, trocknete sie mit den Handtuch ab, wartete jedoch einen Moment, ehe er das Badezimmer wieder verließ.

Ron schritt langsam in den Korridor und zurück in Svens Zimmer.

»Was war jetzt?«, fragte Sven ungeduldig. Er hatte das Buch auf den Tisch gelegt und sich auf dem Sofa aufgerichtet.

Ron ließ sich kraftlos auf den Sessel fallen und blickte ihn an.

»Die Fahrt war länger als ich erwartet hätte«, begann er, »hatte das Gefühl wir wären durch ganz Deutschland gefahren. Ich wünschte, du wärst dabei gewesen. Ich durfte vorne sitzen, weil ich ja so gerne die Fahrt beobachte.«

»Und?«, drängte Sven, doch Ron ließ sich nicht in Eile bringen und blieb nach einem weiteren Husten ruhig.

»Ich wünschte, du hättest gesehen, was ich gesehen habe. All die ganzen Autos auf der Autobahn und die Flugzeuge, als wir an Frankfurt vorbei kamen.

Wir sind um neun losgefahren, aber das weißt du ja noch. Es hat lange gedaurt, bis wir auf der Autobahn waren. Vielleicht eine Stunde. Ich wünschte, ich hätte meine Kamera dabei gehabt. Ich hätte das alles gerne gefilmt. Zeitgleich hatte ich natürlich Angst. 'nen Mords-Schiss. Was würde mich an unserem Ziel bestenfalls erwarten? Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Ich weiß es wirklich nicht. An so manchen Stellen habe ich mir gewünscht, wir hätten wieder umgedreht und wären einfach wieder nach Hause gefahren. Ich wollte da nicht hin und unsere Eltern auch nicht. Keiner von uns wollte dahin, doch wir mussten. Es gab keinen Ausweg. Auf so einer langen Fahrt kann man so einiges sehen. Radfahrer zum Beispiel, die auf diesen Brücken langfahren oder Straßenarbeiter. Die Hinfahrt war beinahe angenehm, beachte ich jetzt nicht die Angst, die ich hatte. Die Angst vor dem Ungewissen und dem Bekannten. Als wir da rausfuhren hatte ich das Gefühl bei der Rückfahrt wäre ich nicht mehr dabei. Das war eine Fahrt an die Himmelstür und wieder zurück. Da waren unglaublich viele Lastwagen. Wir sind an einigen vorbei gefahren. Hat sich ganz merkwürdig angefühlt.«

»Wieso, Ron?«

»Keine Ahnung. Kann nur sagen, dass es sich merkwürdig angefühlt hat. All die ganzen Autos und Lastwagen. Vielleicht saß in einem dieser Wagen ein Kerl mit dem selben Schicksal wie ich? Mit den selben Ängsten und Fragen. Bei all den Wagen bin ich mir beinahe völlig sicher, dass ich nicht alleine war.«

»Wie war die Fahrt sonst noch?«

»Mama und Papa waren ganz still, aber das Radio lief. Ich kannte alle Songs, die kamen, doch sehr viele.«

»Was lief den zum Beispiel?«

»Kann ich nicht mehr sagen. Bekannte Songs halt. Wenn man so nichts zu tun hat bildet man sich schnell etwas ein. Wie als würden die Sänger nur für dich singen. Für dich und die Straße, für jeden Passagier dieser ganzen Autos und Lastwagen, nur damit man nicht nur den Ton der vorbeifahrenden Wagen hört. Sonst war es ganz still und mit jedem Kilometer, der hinter uns liegt wird die Angst größer. Was wenn das kommt, was man am wenigstens hofft? Am meisten fürchtet? Fährt man dann so weit nur um das zu hören? Ich wollte da nicht hin, doch wir fuhren weiter, ließen immer mehr Straße hinter uns und näherten uns dem Ziel, dem wir nicht zu nahe kommen wollten. Wie kann man sich fortbewegen ohne es wirklich zu wollen? In den schlimmsten Momenten wäre ich am liebsten ohne Gewissheit weitergelebt, anstatt diese ganzen Tests machen zu lassen. Was bringt mir Gewissheit schon? Alle sagen sie immer, dass sie nicht wissen wollen, wann es soweit ist, doch trotzdem macht man so eine lange Reise um Gewissheit zu erlangen. Denken die tatsächlich diese Gewissheit könnte sie dann noch retten?«

Ron schwieg einen Moment ehe er fortfuhr.

»Diese Reise war wirklich lang und ich wünsche mir, wir hätten sie nie gemacht. All diese Sachen, die es da draußen zu sehen gab. Wir kamen an einem alten Windrad vorbei, wie man es in amerikanischen Filmen immer sieht. Ich habe es nur für eine Zeit von etwa fünfzehn Sekunden gesehen, doch es blieb mir die ganze Zeit über im Hinterkopf, selbst jetzt noch. Das Windrad selbst weiß gar nicht, dass es von mir gesehen wurde, wie denn auch? Es stand da über den Dächern dieser Häuser, am Rande irgend eines Kaffs und weiß mehr zu erzählen als der älteste Einwohner. Es wird sicherlich noch stehen, wenn ich vorbei bin.«

Ron machte eine Pause und hustete laut.

Sven sah ihn traurig an, denn nun wusste er, was der Arzt gesagt hatte.

»Für was habe ich diese Reise also gemacht?«, begann Ron aufs neue, »habe ich sie nur gemacht, um das zu erfahren? Habe ich deshalb drei Stunden im Auto gesessen? Damit ein Arzt mir dann sagen kann, dass ich nicht leben werde? Dass ich sterben muss? Bin ich deshalb quer durch Deutschland gefahren? Zum besten Spezialisten, damit der mir sagen kann, dass ich in nicht allzu langer Zeit sterben werde?«

Er schwieg für einen Moment und beobachtete seinen Bruder.

»Was der sagt«, begann Sven, »zählt doch nicht. Die sind doch nicht allwissend. Du musst nicht sterben, nur weil der das sagt.«

»Sven, ich werde sterben und ich weiß, dass du es auch weißt.«

»Nimm es doch nicht einfach hin! Ron, du bist 15, wieso liegt es dir daran unbedingt an dieser Scheiße zu krepieren? Willst du denn nicht kämpfen?«

»Ich habe gekämpft. Ich kämpfe schon seit vier Jahren, doch nun ist es aus. Ich bin eben nicht so stark wie du. Ich kann mit dieser Scheiße nicht länger leben.«

Sven schwieg nun. Er ertrug es nicht, dass Ron ihn stark nannte. Er war nicht stark. Ron war stark. Er lebte seit vier Jahren damit. Ron war krank und Sven litt mit ihm, doch er wollte das nicht zeigen. Nicht jedem zumindest. In der Schule hatte er einen guten Ruf und er wollte ihn nicht verlieren. Er wollte nicht, dass jeder wusste, dass er nicht ertragen konnte zu hören wie der Arzt seinem jüngerem Bruder sagte, er müsse sterben. Er hätte das nicht ertragen können und deshalb war er daheim geblieben. Seine Mutter wusste das und so mitfühlend wie sie war verstand sie es auch.

»Nein, Ron, ich bin nicht stark. ch bin nicht so stark wie du, Ron. Ich könnte das nicht fertig bringen. Damit zu leben. Ich würde es nicht ertragen zu sehen, wie man mir alles nimmt, wirklich alles. Wie alles vor meinen Augen zu Sand wird und vor mir davon weht. Ich halte ja nicht einmal das hier aus.«

»Sag das nicht, Sven«, begann Ron, »Du warst schon immer mein Halt, lange bevor das hier angefangen hat. Du bist stärker, Sven. Du wirst länger damit leben müssen als ich und ich weiß genau, dass du dies schaffen wirst. Sein wir ehrlich, hast du nicht schon früher gewusst als ich, wie das hier enden wird?«

Sven klang anders als zuvor. Er ließ seinen Schleier endgültig fallen. »Nein.Ich habe es nicht vorhergesehen. Nicht einmal als Doktor Bergen seine erste Diagnose aufstellte. Als ihr heute morgen losgefahren seit habe ich aus dem Fenter dich beobachtet und erst da begann ich zu realisieren, dass es möglicherweise kein Happy End geben wird.

Aber gehofft habe ich es dennoch.«

Ron setzte an zu husten, doch es kam nichts. Noch nicht. Sie wussten beide, dass es schon nah war, ihn aber jetzt nicht holen wollte.

»Ich habe es auch gehofft, aber als wir das Krankenhaus betraten und uns der Arzt mit den Ergebnissen der Untersuchungen empfing, wusste ich was kommen würde. Er musste es sagen. Selbst wenn der Arzt etwas anderes gesagt hätte, indem Moment wusste ich, dass ich sterben musste. Er hätte sagen können, dass alle Befürchtungen umsonst waren und ich förmlich gesund sei und dennoch hätte ich gewusst, dass meine Zeit sich dem Ende neigt.«

Er musste dann doch husten und griff sich mit den Händen an die Brust und an den Hals, doch alles was er machen konnte war es zu ertragen.

Sven sah seinen Bruder direkt an. »Dies ist diese Stärke von der ich sprach. Du hast sie, ich nicht. Es wird mir erst jetzt klar, was für ein Idiot und Schwächling ich bin und als solcher wage ich es vor dir zu stehen.«

»Sag das nicht, Sven. Sag es nicht. Du warst immer mein größtes Vorbild und mein bester Freund. Wenn ich besorgt, oder traurig war, kamst du zu mir und hast all meine Tränen getrocknet. Wenn es hart wurde und es auf dem Schulhof zu Ausernandersetzungen kam, warst du stets auf meiner Seite und ließest nicht zu, dass mir etwas zu stieß.

Du standest immer hinter mir. Den größten Sturm hast du abgefangen, du warst mein Schutz vor den Stürmen dieser Welt. Nur einmal stand ich ohne dich da. Nur einmal.«

Sven kämpfte mit den Tränen und seine Stimme zitterte unkontrolliert.

»Und dieses eine Mal werde ich mir nie verzeihen, Ron. Niemals kann ich mir das verzeihen.«

Ron ertrug es nicht, dass sich Sven solche fürchterlichen Vorwürfe machte, anderseits dachte er, dass Sven seine Fehler für zu wichtig nahm.

»Wir haben doch immer diese Sachen gemacht.«, sprach Ron, »Auf dem Fußballplatz, wir zwei gegen alle anderen. Ich habe immer Mist gebaut, weshalb wir oft verloren haben, doch du warst nie sauer, oder wütend. Warum warst du eigentlich nie sauer?«

»Darum geht's doch jetzt nicht.«

»Ja, du hast recht. Darum geht's jetzt nicht, doch ich würde es trotzdem gerne wissen, weißt du? Daran liegt's nähmlich, ich wollte schon immer so sein wie du. Du warst immer gut in allem was du gemacht hast. So wollt' ich auch sein. Bei allen beliebt, in allem 'ne Eins. Ich wäre gerne so wie du.«

»Hör doch auf so etwas zu sagen. So toll bin ich gar nicht. Du hast heute gesehen, was für ein Schwächling ich bin. Nicht in der Lage dem teuren Bruder zur Seite zu stehen, wenndieser ihn braucht.«

»Doch, Sven, du warst schon immer mein Vorbild. Wie's bei großen Brüdern ebenso ist. Zwing mich nicht, das jetzt nochmal zu wiederholen.

Nach dem Arztbesuch waren wir noch auf dem Friedhof, dort wo Opa liegt. Wir sind halt nicht oft in der Gegend da oben, also haben wir die Gelegenheit genutzt. Mama wollte nach dem Arztbesuch nicht mehr hin, wahrscheinlich wegen der Nachricht, doch ich hab ihr gesagt, dass wir trotzdem hinkönnen, dass es mir nichts ausmacht. Ein paar Grabsteine werden nicht ändern, was auf mich zukommt. War ein komisches Gefühl auf diesem Friedhof zu stehen und sich umzublicken. All die Menschen, Männer und Frauen, die da unter der Erde liegen, wie all sei's üblich, auf das zu zuarbeiten, zu zulaufen. Das ist das Ziel, die Endstation. Unser ganzes Leben besteht nur aus dem Weg auf den Friedhof. Vom Krankenhaus auf den Friedhof. Als ich bei all den Gräbern stand, hatte ich das Gefühl wie als müsse ich nicht mehr weg, wie als könne ich dort bleiben. Da war ein rießiges Kreuz, dass majstätisch über den ganzen Friedhof wachte. Ich glaube dies war die Forte zur Himmelstür. Ich wollte das Kreuz berühren, doch ich hatte Angst hineingezogen zu werden. Ich wollte noch nicht in den Himmel. Noch nicht. Da war eine Jesus-Statue. Er hing blutend am Kreuz. Ich weiß nicht wieso ich mir das gemerkt habe, doch es sah irgendwie beeindruckend aus. Du weißt doch, dass ich mich immer für Religion interessiert habe. Der ganze Leidensweg schien mir in diesem Moment auf das begrenzt. Das ganze Christentum sogar, reduziert auf einen Mann am Kreuz. Da wurde mir klar, dass mein Tod ohne Bedeutung sein wird. Ich bin fünfzehn, ich habe und werde auch keine Taten mehr vollbringen, die von Bedeutung sein werden. Ich bin einfach nur ein Junge, der todkrank ist.«

Für kurze Zeit sagte keiner etwas, doch Sven flüsterte dann leise etwas, was Ron allerdings gut verstand. »Jeder lebt in seiner eigenen kleinen Zelle und muss sich klar werden, was er eigentlich geleistet hat.«

Da Ron dies als weiteres Selbstmitleid seines Bruders interpretierte, setzte er seine Erzählung ohne Einleitung vor.

»Die Rückfahrt war merkwürdig. Die Sonne hatte sich schon geneigt und es war offensichtlich, dass wir erst bei Dunkelheit unser Heim erreichen würden. Doch wir wussten ja schon, dass die Dunkelheit mich einhüllen würde ehe ich etwas erreicht habe.

Ich habe ein Flugzeug gesehen. Es flog direkt über uns und ich habe meinen Kopf verrenkt um es solange wie möglich sehen zu können. Durch das Schiebedach unseres Autos habe ich es gesehen. Ziemlich lange sogar. Bäume, Schilder und Laternen haben mir für kurze Zeit immer kurz die Sicht auf das Flugzeug genommen, doch ich konnte es lange genug sehen um mich zu fragen, wie so etwas überhaupt fliegen kann. Ob an Bord der Maschine jemand war, der das gleiche Schicksal hat wie ich? Es ja nicht unbedingt ein Kind sein, es könnte ja auch ein erwachsener Mann sein.«

»Ron, du solltest nicht daran denken.«

»Woran nicht?«

»An das Sterben und so, du solltest...«

»Wieso nicht, Sven? Weil es dir unangenehm ist? Weil es Mama unangenehm ist? Weil es allen unangenehm ist? Ich bin doch der, dem alles verwehrt bleiben wird. Nun denkst du denkst sicher, dass es mir nichts ausmacht, wenn ich solche Reden schwinge, doch da irrst du dich. Es macht mir etwas aus. Sehr viel sogar, immerhin bin ich es doch, der unter die Erde muss. Ich bin es, der an der Forte zur Himmelstür gestanden hat und kleinlaut darum gebeten hat, dass es nicht wahr ist. Ich nehme an, dass man mir nie angesehen hat was ich innerlich fühle. Ich habe geweint wie jeder kleine Junge, doch irgendwann hat sich das bei mir eingestellt und nun bin ich nicht einmal mehr in der Lage eine Träne zu vergießen, wie der Kerl in dem einem Lied, das du so oft gehört hast. Cash hat es gesungen.«

Svens Blick wanderte zu seinem Schrank, indem seine CD's und DVD's ruhten. Er erinnerte sich schmerzlich an all die Stunden, in denen er und Ron vor dem Radio gesessen und Musik gehört hatten. Manchmal lagen sie auf dem Rücken und hörten einfach nur zu, taten sonst nichts. Alles hatten sie gehört, alles was im Radio lief. Nach einiger Zeit kannten sie jeden namenhaften Interpreten, egal was für Musik er machte.

»Das waren Zeiten.«, sagte Ron sanft, wie als könnte er Svens Gedanken lesen.

Rons Stimme klang anschließend anders, schon fast wie als träumte er.

»Ich werde das Bild eines Zuges nicht los. Ein Zug an einem Bahnhof und alle steigen ein. Alle Leute,die mir was mein Schicksal angeht ähneln. Aber das war esdann auch. Es sind unzählig viele Menschen und sie sind grundgehend verschieden. Sie steigen alle ein, denn dieser Zug wird sie nach Hause bringen.

Alle, Sven. Alle.

Ich wünsche mir innig, dass dieser Zug auch mich mit nimmt. Er könnte mich vor der Angst retten. Vor Angst und Trauer. Er sorgt sich im alle, dieser Zug. Um die Heiligen, aber auch um die schwersten Sünder. Um die Sieger dieser Erde, aber auch um die größten Verlierer. Um die Leute mit Ehre, aber auch um die Huren dieser Welt. Er nimmt sie alle mit. Träume, Sven, Träume, wie ich sie viele habe, werden dort nicht vereitelt werden und Vertrauen wird belohnt werden. Er sorgt sich um die Verdammten dieser Welt. Dort, Sven, in diesem Zug werde ich stark sein. Hier auf Erden mag ich schwach sein und alles was auf dieser Erde von Bedeutung ist, habe ich nicht. Aber dort werde ich stark sein.

Denn dieser Zug ist nicht irdisch.

Da wäre ich sicher.«

»Wie war die Fahrt sonst noch?«

Ron hustete laut.

»Es war ein merkwürdiges Gefühl durch diese Dörfer zu fahren, während die Dunkelheit sich am Horizont niederlässt. Ich bin schon häufig durch die Städte und Dörfer gefahren und auch schon als es Dunkel wurde. Ich habe das alles schon öfters gesehen, doch heute Abend habe ich zum ersten Mal es auch wahrgenommen. Man muss sich mal bewusst werden, was man alles sieht, während man durch solche Dörfer fährt. Hier sind es keine abstraken Personen mehr, die in irgendwelchen Wagen und Flugzeugen weit entfernt an einem vorbei zischen und für alle Zeiten verschwinden. Hier sind Personen, man kann sehen, wer sie sind und was sie gerade machen. Man kann ihre Gesichter sehen, man atmet die selbe Luft ein wie sie. Du könntest aussteigen und mit ihnen gehen, sie fragen, ob sie das selbe Schicksal erleiden wie man selbst.

Da war ein junges Pärchen. Sie fuhren auf einem Roller. Sie hielt sich an ihm fest und ihr Haar tanzte im Wind. Ich habe sie nur kurz gesehen, doch sie brannten sich in meinen Kopf ein, denn da wurde mir klar, was mir alles entgehen wird. Ich werde nie auf einem Roller in der Begleitung meiner Liebsten durch das nächtliche Dorf fahren. Ich werde niemals eine Liebste in dieser Form haben. Niemals werde ich mit irgendwem Arm in Arm auf einer Wiese liegen, oder sonst wo. Sie wird nie wissen, dass ich sie liebte. Bisher hatte ich noch nie Zeit gehabt, es ihr zu sagen, hatte nie die richtige Gelegenheit erwischt.Sie wäre jene auf dem Roller gewesen, die mit mir nach Hause fährt, doch jetzt ist es zu spät, nehme ich an.«

Sven räusperte sich leise, ehe er sprach. Es war eigentlich ein Husten, doch er wollte nicht husten. Nur Ron durfte noch husten.

»Du irrst dich. Johanna weiß es doch schon seit langem und du hast mit ihr schon auf diesem Roller gesessen.«

Ron empfand nicht so und setzte seine Er sprach weiter.

»Alles was für das späteres Leben wichtig ist tanzt vor mir im Wind und ich kann es nicht greifen, da ich noch nicht die benötigte Reife besitze, oder zumindest noch nicht alt genug bin. Ich werde dieses spätere Leben nicht erleben. Ich werde es nicht erleben, anders als du, Sven. Ich hoffe, dass es dir darin gut gehen wird. Du wirst auf diesem Roller sitzen, ich kann es nicht mehr.«

»Johanna und du seit doch schon so lange ineinander verliebt. Wieso habt ihr daraus etwas gemacht?«, fragte Sven vorsichtig.

»Ich weiß. Jetzt bereue ich es. Es lohnt sich einfach nicht immer nur für die Zukunft zu leben, denn sonst vergisst man die Gelegenheit am Schopf zu packen. Ich habe so viele gute Dinge nicht getan, weil ich dachte dafür blieb mir noch Zeit. Erst jetzt sehe ich, dass Zeit zwar wie ein Meer ist, doch am Ufer endet.«

Sie schwiegen für einen Moment. Sven wusste nicht, was er sagen konnte. Er wollte das Schweigen nicht nähren, doch er wusste, dass es dazu einfach nichts zu sagen gab. Ron war todkrank und musste sterben, ehe er alt genug war auf einem Roller durch das nächtliche Dorf zu fahren.

Die Wahrheit schnitt ihn wie eine Rasierklinge. Er wünschte sich, dass das Brennen aufhören würde, doch es war da und verschwand nicht auf Wunsch. Es war real, keine Dichtung. Der Schmerz war weder Vergangenheit noch Zukunft, doch in der Gegenwart schien er auch nicht beheimatet zu sein. Er war nirgends zu hause und dennoch war er Wirklichkeit und sollte ihn für immer begleiten.

»So eine Fahrt durch die Nacht ist schon eine merkwürdige Sache«, begann Ron aufs Neue, »und ich wünschte, du hättest diese Nacht so gesehen, wie ich sie gesehen habe. Man könnte glatt an nehmen, dass sich in dieser Dunkelheit niemand mehr rührt, doch die ganzen Autolichter die uns entgegen kamen bewiesen das Gegenteil. Wir leben auch bei Dunkelheit, nur nehmen wir das Leben außerhalb unseres eigenen Körpers anders wahr. Wir denken da rührt sich keiner mehr, alle schlafen, nur man selbst ist noch wach. Weißt du noch die Nacht, in der wir Radio gehört hatten anstatt zu schlafen? Wir dachten, dass außer uns beiden jeder im Dorf schläft, doch jetzt denke ich, dass lag nur daran, weil wir außer uns selbst niemanden getroffen haben.«

Sie schwiegen für einen Moment, doch diesmal war die Stille kürzer.

»Tust du mir einen Gefallen, Sven?«

»Welchen, Ron?«

»Heile mich. Vor allem Unheil konntest du mich bewahren, warst stets an meiner Seite. Bitte, Sven, heile mich. Ich weiß du hast die Macht dazu. Große Brüder haben das. Ich fürchte mich vor dem Tode, weil ich nicht weiß, was mich dort erwartet. Ich will nicht alleine in dieses Nichts treten, bitte, heile mich.

Ich fürchte mich so sehr davor, dass dieser Zug mich nicht mit nimmt.«

»Nein, Ron«, Sven konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, »Ron, bitte, du weißt, dass ich diese Macht nicht habe. Die hat keiner.«

» Wenn mich jemand in der Schule belästigt hat, hast du ihn danachübel zu gerichtet. Wenn ich Probleme bei den Hausaufgaben hatte, warst du stets bei mir. Ich habe meine Fahrkarte noch nicht, rette mich. Ich flehe dich an, Sven, heile mich.« Ron versuchte sich aufzurichten, doch er brachte es nicht fertig.

»Ron, bitte.«

»Willst du mir diese letzte Bitte also ausschlagen?«

»Ron, du weißt, eine solche Macht ist mir nicht gegeben. Eben warst du noch stark und hast hemmungslos über dieses unangenehme Thema gesprochen und nun brichtst du zusammen?«

»Ich muss stark sein, für Mama. Wenn sie sieht, wie leicht es mir fällt, dann fällt es auch ihr leichter. Ich kann sie nicht mehr weinen hören. Wenn sie so bitter weint wünsche ich mir nie gelebt zu haben, denn dann hätte sie den Schmerz meines Todes nicht zu erleiden. Ich habe mein Leben förmlich weggeworfen, habe nie für das Jetz gelebt. Diese Sünde kann mir niemand vergeben. Der Zug wird an meinem Bahnhof nicht halten.«

Sven versuchte seinem Bruder in die Augen zu sehen und es gelang ihm auch, obwohl er es nicht gerne tat.

»Ron, du weißt, eine solche Macht ist mir nicht gegeben. Wenn ich sie hätte, dann würde ich dich retten, glaube mir. Aber nun sieh dich um. Mama ist da, Papa, andere Verwandte, Freunde und auch ich. Glaubst du dieser Zug lässt dich sitzen, wenn so viele um deine Seele weinen? Wenn so viele für dich beten?

Sind es nicht die Tränen, die zählen? Kennst du nicht das Zitat, indem es heißt, dass alle glücklich sind, wenn man geboren wird, aber dass alle nur auch dann weinen, wenn man stirbt, wenn man ein guter Mensch war? Ron, für dich werden so viele weinen.

Dieser Zug kann dich nicht stehen lassen.«

»Dann weiche nicht von meiner Seite. Wenn der Tod sich nähert und dich an meiner Seite sieht, hat er vielleicht Erbarmen und schenckt mir noch mehr Zeit.«

Ron hustete und dann schwieg er für einen kurzen Moment.

»Tust du mir einen anderen Gefallen, Sven?«

»Welchen, Ron?«

»Bewahre diese Erinnerungen für mich. Bitte, Sven, diese Fahrt soll nicht einfach verloren gehen. Auch wenn du nicht dabei warst, erhalte diese Bilder, die ich gesehen habe. Erhalte dieses Paar auf dem Roller«, er hustete wild, »und das Windrad, das über dieses unbekannte Dorf wacht. Wie du weißt, bin ich bald nicht mehr in der Lage diese Erinnerrungen zu hüten und deshalb bitte ich dich darum. Denk gelegentlich mal an dieses Pärchen und an das Windrad.«

»Mach' ich, Ron. Ich versprech's dir, ich werd's nie vergessen.«

»Danke, Sven. Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann. Wir haben immer viel zusammen gemacht, haben im Wald viel erforscht. In so vielen Abenteuern bin ich dir gefolgt, doch in das größte von allen muss ich jetzt alleine gehen. Ich wünschte du wärst bei mir, wenn ich vor dieser gewaltigen Himmelstür stehe und um Einlass bitte.

Es gibt sie doch, oder? Das hier kann nicht alles sein. Ich werde doch die Gelegenheit haben alle wiedersehen zu können, oder? Mit allen vereint, nur diesmal werde ich gesund sein. Ich werde nicht mehr husten müssen und mich vor Schmerzen krümmen. Mama wird nicht mehr weinen. Wir werden an diesem Ort vereint sein und glücklickher als je zuvor sein.Es gibt sie doch, oder? Glaubst du, dass es sie gibt? Diese Himmelstür? Das Himmelsreich?«

»Ja, Ron, es gibt sie. Sie muss einfach sein.«

 

ENDE

Eine Autofahrt hat mich zu dieser Story inspiriert. Wie der Rest hinzukam weiß ich nicht mehr, er war plötzlich einfach da.Patrick Schön, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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