Stephan Koch

Das Gesicht

Er betrachtete sich im Spiegel.

 
Sah er eigentlich glücklich aus? Oder unglücklich?

Er hatte sich schon ewig nicht mehr betrachtet.

Er hatte auch nie so genau hingesehen.

 
Also, was fiel als erstes auf?

Wieder mal nicht rasiert.

Nun gut, es war Samstag morgen, 09.00 Uhr. Wer ist da schon rasiert.

Der Schnauzbart war auch nicht gerade ordentlich gestutzt.

Ohne Schnäuzer war dieses Gesicht kaum vorstellbar. Es würde nicht mehr das selbe sein.

Es gibt Gesichter, die sind immer frisch, geschniegelt, und geputzt, verraten

größeren Aufwand bei der Eigenpflege. Und es gibt Gesichter, die gerade aus

einer Schlacht zu kommen scheinen, oder von einer Weltumsegelung heimkehren

oder vom Mount Everest. Oder Gesichter, deren Träger nach anstrengender Arbeit

einfach noch keine Zeit gefunden haben, sich aufzufrischen. Gesichter, die erst

mal einen Pott Kaffee und ein, zwei Zigaretten brauchen, bevor sie wieder

denken können. Gesichter, die den Augenblick festhalten möchten, die nichts

vormachen, die nicht gleich wieder alle Spuren aufräumen.

Dieses Gesicht hatte nie irgendwelche Spuren beseitigen, ja, in den seltensten Fällen

auch nur ein bischen was für seine Pflege tun lassen. Sonnenbrände waren über

dieses Gesicht hinweggefegt, ebenso wie klirrende Winterfröste, dürre Wüstenwinde,

tropische Regen und eiskalte Meeresbrecher.

Was noch mehr Spuren hinterlassen hatte, waren Lachen und Weinen, Grübeln und Zorn,

Mistrauen und Verwunderung, Missfallen und Zustimmung, Resignation und Begeisterung.

Und genaues Hinsehen und Beobachten. Seine Beobachtungsgabe hatte sich besonders

scharf eingeschnitten: Seine Augen hatten sich tief unter die Augenbrauen zurückgezogen,

um sich vor dem Sonnenlicht zu schützen, so wie ein Mann seine Basketballmütze tiefer

in´s Gesicht zieht.  Die Augenfältchen rechts und links seiner karibik-blauen Augen dienten

sowohl dem Lachen als auch dem gespannten Beobachten und natürlich allen anderen

Gemütslagen, aber besonders das scharfe Fokussieren der Augen hatte sie tiefer eingegraben,

als sonst üblich. Diese Bewegung hatte die Tränensäcke weiter hervortreten lassen,

als ihm lieb war. Dieses zerknitterte Aussehen erschreckte ihn manchmal.

Die Fältchen auf der Nase, die gleichzeitig Naserümpfen und Lachen wiederspiegeln können,

hatten ein besonders bizarres Muster geschaffen, welches von der Nasenspitze aufsteigt,

an der Wurzel durch quergelegte Barrieren aufgehalten wird, versucht, diese rechts und links

zu umgehen, dabei zu den Augen ausweicht, aus den Augenbrauen dann wieder senkrecht

hervorbricht, um dann von den horizontalen Denkerstirnfalten endgültig ausgebremst zu werden.

Das Naserümpfen erreichte nie wirklich die Denkebene. Das lachende Gesicht hingegen

war nach oben hin offen. Die Bewegung auf die Augen konzentriert.

Er hatte relativ große Ohren, die im rechten Winkel abstanden, um kein Geräusch zu verpassen.

Tatsächlich entgingen ihm zwar Worte, aber Geräusche registrierte er auch dann, wenn sie beiläufig

und belanglos waren. Er registrierte sie und bildete daraus ein Gesamtbild. Das erlaubte ihm, sich

stets zu orientieren und die Lage zu beurteilen, gab ihm ein Gefühl der Sicherheit, vielleicht sogar

der Überlegenheit über all jene, die diese Informationen nicht hatten.

Das alles spiegelten sein Ohren wieder. Sie waren groß, ansonsten beinahe ideal ausgeprägt

in Form und Proportion. Er konnte damit wunderbar zuhören, auch wenn er manchmal zu langsam war,

um schlagfertige Antworten zu geben. Auch gute Ratschläge ließ er zunächst eine Weile reifen.

Und dann überlegte er schon wieder, ob er sie überhaupt noch vortragen sollte.

Sein Kopf stellte eine harmonische Mischung von kantig und rund dar. In der Gesamtform eher

rechteckig aber oben und unten abgerundet. Eine hohe Denkerstirn hatte sich gegenüber dem Haar

durchgesetzt, dessen Farbe einmal blond gewesen war, sich zunehmend verdunkelt hatte und nun

wieder heller wurde. Allerdings nicht wieder blond, sondern grau oder besser gesagt weiß.

Diese Denkerstirn zusammen mit dem konzentrierten Blick ließ einiges vermuten.

Stille Wasser sind tief!

Tatsächlich wurde dort erst einmal alles hin und her gewälzt, was er so aufnahm. Platz genug war da.

Und er kam immer zu Ergebnissen, welche sich ein wenig von den üblichen Denkmustern unterschieden.

Er versuchte immer sein Denken bis auf die wirklichen Ursachen zu senken. Da, wo sie noch klein sind.

Wo sie sich noch nicht zu Problemen ausgewachsen haben. Da, wo man noch mit kleinen Schritten

etwas unternehmen kann.

Natürlich bearbeitete diese Denkerstirn nicht nur Probleme. Sie philosophierte auch häufig und gern

und sie gab ihre Gedanken weiter, um sie aufschreiben zu lassen.

Aber wie so häufig bei ausgeprägten Denkerstirnen; sie bewältigte nicht nur Probleme, sondern

sie schaffte auch welche. Weil, wenn die Alltagsprobleme schon längst zur Ruhe gekommen waren,

diese Denkerstirn noch weiterdachte. Sie ließ sich nicht abschalten.

So kam auch dies in seinen Augen zum Ausdruck: die Lider hingen manchmal etwas müde herunter.

Sie hatten schon einiges gesehen. Sie hatten vieles verstanden, vieles nicht verstanden.

Sie waren etwas müde geworden und würden nicht mehr alles so genau wissen wollen.

 
Und?

Sah er nun eigentlich glücklich aus? Oder unglücklich?  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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In meinen Gedichten, schreibe ich mir meine eigene Realität, meine Träume auch wenn sie oft surreal, meistens abstakt wirken. Schreiben bedingt auch meine Sprache, meine Denkmechanismen mein Gefühl für das Jetzt der Zeit.

Ich vernehme mich selbst, ich höre tief in mich rein, bin bei mir, hier und jetzt. Die Sprache ist dabei meine Helfershelferin und Komplizin, wenn es darum geht, mir die Wirklichkeit vom Leib zu halten. Wenn ich mein erzähltes Ich beschreibe, beeinflusse, beschneide, möchte ich begreifen, wissen, welche Ursachen Einflüsse bestimmte Dinge und Menschen auf mein Inneres auf meine Handlung nehmen, wie sie sich integrieren bzw. verworfen werden um mich dennoch im Gleichgewicht halten können.

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