1
Samstagmorgen, 13. Oktober.
Carlo Brioni steht auf dem Deck an der Reling einer weißen Jacht und blickt,
seinen Gedanken nachhängend, auf das offene, blaue Meer. Der im Morgenlicht strahlende
Himmel ist fast wolkenlos. Die leichte Briese streift sein gebräuntes, bärtige
Gesicht, während das Boot mit einem immer wiederkehrenden Geräusch rhythmisch
die Wellen durchpflügt.
Es ist kurz vor Sonnenaufgang.
Die sengenden Strahlen der Sonne sind daher noch nicht zu spüren. Weit vor ihm
ist backbord unter der klaren Landluft ein weißer Leuchtturm zu sehen. Er weiß, dass gleich dahinter der Hafen von
Huygens sein muss. Er ist zufrieden mit sich selbst und genießt das Schaukeln
des Schiffes. Das buntes Hawaii- Hemd flattert im Wind.
Seine Gedanken kreisen um
die gestrige Auseinandersetzung mit dem Kapitän, der noch in der Kajüte
schläft. „Gestern Morgen habe ich meine Interessen durchgesetzt. Das war auch
gut so. Er ist sehr misstrauisch, aber ich bin mir sicher, dass er meine wahre
Identität zum Glück nicht bemerkt hat. Sobald ich im Hafen bin, werde ich
Kontakt mit Swem Hilton aufnehmen. Die Leute haben doch tatsächlich heimlich
auf der Insel Schlafmohn angepflanzt.“
Ohne sich umzudrehen greift
er mit der linken, behaarten Hand hinter sich, nach seiner weißen Jacke
tastend. Denn er weiß, dass sich in der Tasche noch ein Päckchen Zigaretten
befinden muss. Die Jacke klemmt er unter seinen Arm fest, während er mit der
anderen Hand nach der Zigarettenschachtel sucht.
Die plötzlich auftauchenden,
stechenden Augen hinter ihm bemerkt er nicht. Auch bemerkt er nicht das kalte
Metall in der Hand dieser Person. Plötzlich wurde sein sonniger Tag von drei
aufpeitschenden Schüssen zerrissen und beendet.
Carlo Brioni beugt sich
langsam nach vorne und kippt über die Reling in das Meer. Mit der Jacke unter
dem Arm und einem Päckchen Zigaretten in der rechten Hand. Noch atmet er. Das
Salzwasser dringt in seine Lungen. Er sinkt immer tiefer, in das dunkle Blau,
während die Wellen über ihn dahin rollen, so, als wäre nichts geschehen.
2
Swem Hilton sitzt auf einem
Felsen, unter einer Palme, nahe an der Mole von Huygens. Er sieht aus wie Mitte
dreißig und ist 1,86 m groß. Seine helle Freizeitkleidung steht ihm gut. Die strähnigen,
langen dunkelbraunen Haare streift er nach hinten. Der Oberlippenbart passte zu
seinem schmalen Gesicht mit den leicht hervortretenden Backenknochen und den
wachen Augen. Hier weiß niemand, dass er als Ermittler einer Polizeistation
arbeitet. Erst gestern hat er ein Apartment im Hotel Paradieso in Hafennähe
gemietet.
Die Stimmung am Hafen ist noch ruhig. Vor
wenigen Minuten schob sich die Sonne wie ein großer, glühender Ball über den
Horizont, und tauchte das Meer und die zahlreichen Fischerboote in ein warmes
Licht. Einige Fischer entladen ihren nächtlichen Fang, während über ihnen die
Möwen kreisen und spitze Schreie ausstoßen. Hinter ihm stauen sich
einige Wolken am sehr hohen Gebirge. Die vielen, vor ihm liegenden Boote im
Hafen tanzen leicht in den Wellen. Ihre bunten Farben leuchten. Es ist ein
friedvolles Farbenspiel. Lustig hüpfen die Boote neben den Stegen durch die
Wellen auf und ab. Rechts von ihm, vor dem weißen Leuchtturm, wandern einige
Touristen.
Swem Hilton ist ein
humanoides Kunstwesen, konstruiert und konditioniert als Partner des Menschen.
Ein selbstlernender Roboter mit künstlicher Intelligenz, in dessen Gehirn sich
neue neuronale Netze und Verknüpfungen bilden. Als Blut hat er ein
Molekülgemisch, das sich wie ein Computer verhält und auch medizinische
Entscheidungen treffen kann. Er ist denk- und empfindungsfähig. Sein visuelles
Erscheinungsbild ist von echten Menschen nicht zu unterscheiden.
Seine Gedanken schweifen zu
Maria. Auch sie ist ein humanoides Kunstwesen, mit schwarzen Haaren und
leuchtenden blauen Augen. Gestern ist
sie aus beruflichen Gründen abgeflogen. Durch den Plasmaantrieb braucht ihr
Raumschiff bis zur Erde nur 14 Tage. Die Erde wird für Maria nur eine
Zwischenstation zur Venus sein und in acht Monaten wird er sie wieder sehen und
umarmen können.
Vor langer Zeit wurde die
etwa 475 Grad heiße Venus– Atmosphäre heruntergekühlt. Anschließend bevölkerten
zuerst genmanipulierte Lebewesen den Abendstern, um ihn ökologisch zu
erschließen.
Nun wandern seine Gedanken
weiter. Er denkt an seinen Planeten, auf dem er lebt. Der Mars ist ein
Naturparadies, tief im All und über 54 Millionen Kilometer von der Erde
entfernt.
Er wurde vor langer Zeit mit
Sonnenspiegeln in der Umlaufbahn erwärmt und das ewige Eis zum Schmelzen
gebracht. Auch mit dem Einsatz von Treibhausgasen. Und um die Temperaturen zu
erhöhen, wurde an den Polkappen das gebundene CO2 freigesetzt. Schon bald
danach fing es an zu regnen.
Am Anfang wurden viele
unterschiedliche Techniken eingesetzt, um den Mars bewohnbar zu machen.
Astroiden und auch Kometen wurden auf die Mars- Oberfläche gelenkt, die
wasserhaltigen Gebilde verdampften beim Aufschlag und reicherten so die
Atmosphäre an. Der dunkle Staub vom Marsmond Deimos wurde mit
elektromagnetischer Technik auf die Marspole geschossen, damit das so
eingeschwärzte Eis das Sonnenlicht absorbiert und abtaute.
Fluorchlorkohlenwasserstoffe
wurden zusätzlich mit Raketenflotten zum Mars geschickt, um den künstlichen
Treibhauseffekt zu unterstützen.
So entstanden wie fast von
selbst Flüsse und Seen, grüne Wiesen und Bäume. Pflanzen, die einen großen Teil
des Kohlendioxids in Sauerstoff umsetzten. Große Flächen der ehemaligen
steinigen Wüsten sind nun mit grünen Wiesen und Wälder bedeckt, unter einem
blauen Himmel. Der Mars wurde zu einem ergrünten und lebensfreundlichen
Feuchtbiotop. Heute wohnen über 600 000 Siedler und etwa zwei Million
Humanoiden auf dem Mars.
Auch Touristen gibt es hier.
Einige von ihnen besteigen die höchsten Erhebungen unter der Sonne. Diese sind
eine Art Gipfelmekka für irdische Bergsteiger. Andere hopsen, aufgrund der geringen
Schwerkraft, durch die Marswildnis, oder surfen auf den Meeren. Manche spielen
auch Golf. Hier fliegen die Bälle über 800 Meter weit.
Swem Hilton blickt wieder
hinaus auf das Meer und meint, am Horizont einen kleinen weißen Punkt zu sehen.
Schon drückt er seine Augenlieder etwas zusammen und zoomt diesen Punkt zu sich
heran. Es ist eine weiße Jacht. Noch kann er den Namen der Jacht nicht
erkennen. Sie wird von ihm weiter herangezoomt. „Ja, es ist die Neptun.“ Ein
lächeln umspült sein Gesicht. „Also habe ich hier nicht umsonst gewartet. Meine
Informationen waren richtig.“ Doch dann erscheinen einige Sorgenfalten auf
seiner Stirn. „Ich sehe nur eine Person und das ist nicht mein Freund Carlo
Brioni. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Ob er auf der Insel geblieben ist,
auf der vermutlich heimlich Papaveraceae angebaut wird? Aber warum, oder wurde
seine wahre Identität erkannt? Wenn ich nur wüsste, wer die Samen vom
Schlafmohn durch die vielen Kontrollen auf den Mars geschmuggelt hat. Ich hasse
das verdammte Opium.“
Er wartet, bis die Jacht am
Steg sicher vertäut wird und der Kapitän das Schiff verlässt. „Die Ratte
verlässt das Schiff“, denkt er, erhebt sich langsam, klopft den Staub von
seiner hellen Hose und schlendert dem Kapitän lässig und unauffällig hinterher.
Wie spät mag es jetzt sein?“ Er konzentriert sich auf seine innere Uhr. „9:32 Uhr
und 47 Sekunden“. Der Kapitän geht in Richtung eines vor ihm liegenden Bistros
und Swem Hilton geht unauffällig und mit Abstand hinter ihm her.
3
Nahe am Hafen, bei der Piazza Acqasanta sitzen zwei ehrenwerte, ältere
Herren, Demetrio Malgesso und Moreni Bellano, vor einem Bistro. Beide schon
über fünfzig, sehen wie sizilianische Bauern aus und genießen ihren
Capuccino. Niemand würde vermuten, dass sie einen großen italienischen Konzern
leiten.
Moreni Bellano ist schlank, etwas über 1,65 m groß und
hat blaugrüne Augen. Beim Sprechen hält er oft den Kopf leicht vorgestreckt
geneigt. Er sieht dann seinen Gesprächspartner von unten heraufblickend an, was
an einen angreifenden Stier erinnert. Seine Worte sind wie subtile
Faustschläge, wenn er sich bei Besprechungen durchsetzt. Die Gegner empfinden
ihm gegenüber kein homogenes Sympathiegefühl.
„Haben sich die Unstimmigkeiten auf unserer Insel geregelt?“, fragt
Demetrio, scheinbar desinteressiert, während er die Passanten beobachtet.
„Alfredo hat
diese Angelegenheit für uns erledigt“, antwortet sein Gegenüber. Carlo
Brioni wird in Zukunft uns nicht mehr
stören können. Zum Glück fand Alfredo heraus, dass Carlo für die Polizei
gearbeitet hat.“
„Also
befindet Carlo sich jetzt im himmlischen Paradies?“, fragt Demetrio und zeigt
sein Haifischlächeln.
„Ja“,
antwortet Moreni Bellano knapp.
Eine Weile schauen beide
hinaus aufs Meer und hängen ihren Gedanken nach.
„Wie ist
eigentlich dieser Alfredo, können wir uns auf ihn verlassen? Erzähl mir ein
wenig von ihm“, fordert Demetrio seinen Partner auf.
„ Ich kenne ihn von Kindheit an, er ist aus meinem Dorf. Ehrgeizig,
studierte in Moskau Medizin, hatte dann Kontakt mit der russischen
Geheimpolizei, erhielt dort eine gute Ausbildung und meldete sich eines Tages
bei mir. Es gab Probleme zwischen ihm und den Russen. Ich stellte fest, dass er
ein hervorragend durchtrainierter Einzelkämpfer
ist, und so ließ ich ihn eine Reihe von Arbeiten erledigen, was er auch zu
meiner vollsten Zufriedenheit tat. Er versteht sein Handwerk. Er sieht sehr gut
aus, ist Anfang dreißig, spricht vier Fremdsprachen und benimmt sich wie ein
Gentleman. Er ist ungefähr 1.80 m groß, schlank, muskulös und hat kurze,
schwarze Haare. Er wirkt mit seinen behaarten Armen sehr männlich. Am liebsten
trägt er sehr geschmackvolle und teure Anzüge. Für jeden Auftrag erhält er eine
neue Identität mit Pass. Er ist einer unserer besten Killer.“
„Du garantierst also dafür, dass mit ihm alles klappen wird?“
„Aber ja“, erwidert Moreni knapp, mit dem Charme eines Aktenkoffers
und sagt dann leise: „Demetrio, da vorne kommt Alfredo.“
Alfredo geht an den Tischen vor dem Bistro vorbei, ohne die dort
sitzenden Herren zu beachten. Für einen kurzen Augenblick lächelt er leicht,
hebt seine rechte Hand bis zur Brusthöhe, macht eine Faust und streckt den
Daumen nach oben. Ein Zeichen dafür, dass alles klappte. Als Alfredo außer Sichtweite
ist gibt Moreni Bellano seinem Leibwächter am Nebentisch unauffällig das
Zeichen zum Aufbruch. Der Bodyguard greift in die Tasche, nach
dem kalten Metall und erhebt sich. Über
dem Hafen kreisen noch immer die Möwen, spitze Schreie ausstoßend.
4
Alfredo schlendert langsam
und scheinbar völlig entspannt weiter. Unterwegs bleibt er öfters vor
unterschiedlichen Geschäften stehen und betrachtet scheinbar interessiert die
vielen Auslagen. Aber nicht nur die Auslagen, sondern auch in den spiegelnden
Glasflächen die Umgebung hinter ihm. Ihm fällt auf, dass ein Herr in heller
Freizeitkleidung im größeren Abstand ihm zu folgen scheint. „Ist das ein
Zufall, oder werde ich beschattet“, denkt er und schlendert weiter in Richtung
des Hotels Paradieso. Er betritt das Hotel, holt sich bei der Rezeption seinen
Schlüssel ab und setzt sich auf einen der vielen weißen Sessel in der Halle.
So, dass er alles im Blickfeld hat. Das Hotel mit seiner transparenten
Architektur, den edlen Hölzern und warmen Farben ist beeindruckend. Das
plätschernde Wasser in der Eingangshalle machte jede Hintergrundmusik
überflüssig.
Als Swem Hilton das Hotel
betritt und zur Rezeption geht, um seinen Schlüssel abzuholen, steht Alfredo
auf und geht auch zur Rezeption. Er hört, wie der Herr mit dem hellen Anzug
nach dem Schlüssel Nummer 801 fragt. Mehr Informationen braucht Alfredo nicht
und steuert einen weißen Sessel mit einer hohen Lehne an, um darin zu
versinken. Er beobachtet, wie Swem Hilton sich bei der Rezeption noch eine
Zeitung geben lässt und im Hotelgarten verschwindet.
Sofort steht Alfredo auf,
geht zu der gläsernen Aufzugsgruppe und fährt zur achten Etage. Vor dem
Apartment mit der Nummer 801 bleibt er kurz stehen, holt einen kleinen
Gegenstand aus seiner Tasche und mit einem leisen Klick öffnet sich die Tür. Im
Zimmer ist niemand. Es ist so leise wie in einer Grabkammer. Die gläserne
Schiebetür zum Balkon ist einen Spalt geöffnet, der Vorhang flattert leicht im
Wind. Er schließt die Tür hinter sich. Sein Blick gleitet durch den Raum und
bleibt bei einer Reisetasche neben dem Schreibtisch hängen. Mit schnellen
Handgriffen durchsucht er diese und findet in der Seitentasche eine
Laserpistole und einen Polizeiausweis, ausgestellt auf den Namen Swem Hilton. Nun
schließt er die Reisetasche und geht zur Eingangstür. Neben der Tür stehen zwei
raumhohe Garderobenschränke, aus dunkelbraunem Holz mit Lamellentüren. Alfredo
öffnet eine Schranktür, schiebt die dort hängenden Hemden zur Seite, steigt in
den Schrank und lässt die Tür leicht angelehnt. Durch die Schlitze der Lamellen
kann er etwas vom Zimmer erkennen. Er schraubt den Schalldämpfer auf seine
Pistole und wartet. „Wer warten kann, kann auch etwas.“ Die Desert Eagle Mk XIX ist eine sehr alte israelische Militärpistole,
angefertigt für das Kaliber 44 Magnum, die ihn noch nie im Stich gelassen hat.
Im Gegensatz zu einigen Laserpistolen. Die Wartezeit auf Swem Hilton vergeht für
ihn sehr langsam.
Seine Gedanken wandern zu Claudia Giani.
Eine ältere Dame, die vor seiner Reise zum Mars ihm Probleme bereitete. Zufrieden
betrachtet er in seinen Gedanken das kleine Loch in der Stirn dieser Dame, aus
dem helles Blut sickerte und langsam auf die weiße Bluse tropfte. Claudia Giani
saß schräg, mit angewinkelten Beinen und offenen, starren Augen in ihrem
Sessel. Ihr Gesichtsausdruck war immer noch angsterfüllt, als Alfredo eiskalt
lächelnd sie ansah. Dann denkt er: „Zum Glück habe ich ja auch noch meinen Ring
mit dem verborgenen Stahldraht dabei.“ Und lässt die acht Männer und zwei
Frauen Revue passieren, die er bisher mit ihm erdrosselt hat.
5
Der
Hotelgarten ist groß, organisch geformt und eingerahmt von hohen Palmen,
blühendem Oleander und Lorbeerbäumen, die sich im Poolwasser spiegeln. Der
angenehme Geruch von frisch gemähtem Gras liegt in der Luft. Das Gras ist
smaragdgrün. Ein mediterraner Lustgarten für die Augen und eine Oase der
Erholung. In einem Feigenbaum
zwitschern Vögel. Unter ihm liegt in einem Liegestuhl Swem Hilton, seine
Zeitung neben ihm. Er denkt an den Kapitän: „Der Kerl wohnt im gleichen Hotel
wie ich, aber das bringt mich auch nicht weiter. Für den Rauschgifthandel
brauche ich Beweise. Ich habe nur Indizien, das reicht für eine Verhaftung
nicht aus.“ Jetzt konzentriert er sich auf sein E- Mail Postfach. Die Mails
kann er mit seinem Computer im Kopf problemlos empfangen. Es sind aber keine
neuen Nachrichten dabei. Plötzlich taucht ein neuer Gedanke in ihm auf: „Die
Jacht! Er muss die Jacht untersuchen lassen nach möglichen Beweisen“, und schon
schickt er eine entsprechende Mail an seine Kollegen ab.
Zufrieden erhebt er sich aus dem bunten
Liegestuhl, geht zu den gläsernen Aufzügen in der Eingangshalle und drückt auf
den Knopf Nummer acht. Lautlos schwebt der Aufzug in der Eingangshalle nach
oben. Swem betritt sein Apartment, Schiebt die Vorhänge. Der Raum wird vom
Licht durchflutet. Dann schreitet er vorbei an der Lamellentür, in
Richtung Badezimmer.
Das die Schranktür sich,
ohne zu knarren etwas weiter öffnet merkt er nicht. Beide Enden des Stahldrahtes
liegen gespannt hinter der Lamellentür, in den Händen von Alfredo. Plötzlich
summt es an der Eingangstür. Swem bleibt stehen, überlegt, ob er sie öffnen
soll. Es wird kein Besuch erwartet. Dann hört er ein leises schnippen und die
Tür öffnet sich vor ihm, wie von Geisterhand.
Sie wird weiter geöffnet. Eine fremde Frau steht vor ihm. Er hat
sie noch nie gesehen. Sie starrt ihn erschrocken an. Ihr Gesicht ist bleich.
Sie scheint nicht erwartet zu haben, dass jemand sich in diesem Apartment
befindet. Vermutlich war sie völlig in Gedanken. Auch Swem starrt sie an. Zuerst
reißt sie die Augen, dann ihren süßen Mund auf. Ein ohrenbetäubender, greller,
langgezogener Schreckenschrei schießt aus ihm. Ein Schrei, der wie eine
Explosion durch das ganze Hotel zu rasen scheint.
Ihr schockierender Schrei lähmt Swem schlagartig. Sekundenlang
stehen beide, sich gegenseitig anstarrend gegenüber. Ihr Gesicht ist noch
bleicher und angstverzehrter geworden. Ein grauenhafter, bestialischer Schatten
spiegelt sich darin. Sein Gehirn beginnt zu arbeiten: „Was will sie von mir?“.
Hinter ihr sieht er auf einem Wagen neue, weiße Handtücher. „Sie muss die
Putzfrau sein.“ Erleichtert und beruhigend legt er nun seine Hand auf ihre
warme Schulter, leise sagend: „Sorry“. Mehr fällt ihm nicht ein. Mit noch
weichen Knien verlässt er das Apartment, geht zum Aufzug und drücke auf die
Null. Die Putzfrau steht immer noch zitternd an der Eingangstür. Die
Lamellentür schließt sich langsam.
Nach diesem schreckhaften Erlebnis braucht Swem dringend frische
Luft. Er verlässt das Hotel Richtung Pool, der Wind bläst ihm direkt in das
Gesicht. Mit einer Heftigkeit, die er nicht erwartet hat. Plötzlich merkt er,
dass er eine E- Mail erhalten hat und konzentriert sich auf das Postfach. Es
ist eine Mail von seinem Kollegen, James Blair: „Swem, wir sind gerade dabei,
die Neptun an Land zu ziehen, um sie rundum untersuchen zu können. Komm vorbei,
wenn Du nicht gerade schläfst. Gruß, James.“
Am Hafen sieht Swem, dass die Neptun vom Steg losgebunden wurde und
nun an Land, auf einem Slipwagen liegt. Neben der Jacht stehen einige uniformte
Polizisten. Nur James Blair hat seine Freizeitkleidung an und kommt ihm
entgegen: „Hallo Swem, mit der Untersuchung haben wir bereits begonnen. Die
Spurensucher sind noch im Boot. Ich muss dir aber leider etwas Schreckliches
mitteilen.“ James macht beim sprechen eine Pause, Swem sieht ihn erwartungsvoll
an und James sagt leise:
„Es geht um Carlo Brioni.“
„Ist ihm etwas passiert?“
„Ja, er ist tot.“
„Oh Gott, wie ist das passiert?“
„Als wir die Jacht mit dem
Slipwagen an Land gezogen hatten, bemerkten wir, dass sie ein Fischernetz
hinter sich her zog. In diesem Netz lag Carlo. Der Arzt sagt, dass er mit drei
Schüssen von hinten erschossen wurde. Als er über Bord fiel, lebte er noch,
denn die Lungen sind voll von Wasser. Also hat er noch geatmet. Er verfing sich
dann im Fischernetz, ohne das der Mörder es bemerkte.“
„James, der Kapitän muss der
Mörder sein. Er wohnt im gleichen Hotel wie ich, im Paradieso. Komm, lass uns zum
Hotel gehen.“
6
Alfredo ist in seinem
Apartment. Er holt sich eine Flasche Rotwein und ein Weinglas aus dem Schrank,
stellt beides auf den Balkontisch und gießt sich davon etwas ein. Dieser Wein
ist sehr teuer, da er von der Erde importiert werden musste. Ein sehr
schmackhafter Azpilicueta Crianza. Ein spanischer, kirschrotfarbener Wein, von
dem er nun einen Schluck genießerisch kostet. Die Sonne ist schon nahe am
Horizont und die wenigen, kleinen Wolken erstrahlen in einem märchenhaften
rosa, über dem dunkelblauen Meer. Der Himmel leuchtet hellblau, wie mit
Pastellkreide gemalt.
Das Apartment befindet sich
auf der Vorderseite des Hotels, in der sechsten Etage. Mit dem Weinglas in der
Hand, an der Balkonbrüstung stehend genießt er die fantastische Aussicht. Seine Gedanken schweifen ab, nach Porto Palo,
einem kleinen Dorf auf Sizilien, nahe bei Marinella seinem Geburtsort. „In zwei
Tagen werde ich wieder auf der Erde sein. Zu Hause. Der dumme Zufall mit der
verdammten Putzfrau ärgert mich noch
immer. Wäre sie nicht aufgetaucht, dann wäre Swem dort, wo er hingehört, im
Himmel.“ Nun wandert sein Blick nach unten und erstarrt, sein Adrenalinspiegel
steigt schlagartig an. Etwa zehn uniformierte Polizisten gehen auf die
Hotelvorfahrt zu. Zwei Personen in ziviler Kleidung laufen hinterher. Einer von
ihnen hat große Ähnlichkeit mit Swem.
„Mit Sicherheit werden die sich kein Zimmer mieten. Die suchen
mich. Irgendetwas muss schief gelaufen sein, aber was?“
Schnell wird das Weinglas auf dem Balkontisch abgestellt. Im Zimmer
sucht er nach klaren Gedanken. Sie rasen durch seinen kopf. „Vielleicht suchen
die Bullen nicht mich, sondern einen anderen? Wie groß ist die
Wahrscheinlichkeit, dass ich gesucht werde? Deutlich über fünfzig Prozent. Ich
darf kein Risiko eingehen.“ In Gedanken sieht er, wie die Polizisten sich auf
die Hotelausgänge verteilen und Swem mit seinem Kollegen in der Halle den
gläsernen Aufzug betreten. Hastig holt Alfredo seine Sachen aus dem Schrank,
stopft sie in die Reisetasche und verlässt das Apartment. Der Flur ist noch
Menschenleer. Er rennt in das Fluchttreppenhaus und bleibt dort stehen. „Soll
ich nach oben, oder unten gehen? Der untere Ausgang wird bewacht sein. Ich
könnte den Bullen erschießen und dann zu meinem Boot am Hafen rennen. Aber wenn
auch das Boot bewacht wird? Ich gehe nach oben.“
Auf dem letzten Podest ist eine Tür. Sie ist halb geöffnet und bewegt
sich leicht und quietschend im Wind. Alfredo betritt das begrünte Dach. Im
Vordergrund befindet sich ein runder Hubschrauberlandeplatz. Dahinter ein
zurückgesetztes, graues Technikgeschoss. Hastig rennt er zu dem Dachaufbau und
sucht die Tür. Sie ist nicht abgeschlossen. Beim öffnen schlägt ihm dröhnender
Lärm entgegen. Durch die Grundbeleuchtung ist Klimazentrale dämmrig erleuchtet.
Sie ist voll von vielen großen, sich kreuzenden weißen Lüftungskanälen. An
einem Kanal gibt es eine Revisionsklappe. Alfredo entriegelt sie, wirft seine
Reisetasche durch die Öffnung, klettert hinterher und schließt sie von innen.
Umgeben von der Dunkelheit legt er sich hin, mit dem Kopf auf der Reisetasche. Das
Dröhnen stört ihn nicht. Auch nicht die erhöhte Luftgeschwindigkeit. „Vorerst
bin ich hier sicher und habe auch etwas Zeit zum Nachdenken.“
7
Dank einer genauen Personenbeschreibung kann an der Rezeption
schnell die die Nummer von Alfredos Apartment ausfindig gemacht werden. Bald
stehen Swem und James in Alfredos Zimmer.
„Der Vogel ist ausgeflogen“, brummt James vor sich hin.
„Auf dem Balkon steht noch sein halbvolles Weinglas. Er hat uns von
hier oben gesehen. Ob er noch im Hotel ist?“
„Mit Sicherheit. Alle Ausgänge wurden von meinen Leuten sofort
bewacht. Ja, er muss noch im Hotel sein.“
„Aber wo könnte er sich versteckt haben?, sagt Swem und setzt sich
in einen braunen Sessel.
„Es gibt da viele Möglichkeiten. Er ist in einem Apartment, das
nicht vermietet wurde. Er könnte auch in einem bewohnten sein und den Hotelgast
mit einer Waffe bedrohen. Vielleicht ist er auch im Keller?“
„Lass uns wieder runter zur Rezeption gehen“, antwortet Swem.
„Besorge dir noch einige Leute und lass dann systematisch das ganze Haus
durchkämmen. Und nicht vergessen, der Kerl ist bewaffnet.“
Zehn Minuten später sitzen Swem und James in einem Raum hinter der
Rezeption und trinken Tee. Der Raum ist leicht abgedunkelt. Es ist der Raum für
den Haustechniker. An einer Wand sind viele Monitore. Der Techniker sitzt davor
und beobachtet die Monitore. An einigen leuchten verschiedene farbige Punkte
auf. Der Techniker greift zum Telefon und tippt eine Nummer ein. Er wartet
einige Sekunden und sagt dann: „ Ah, schön, dass du da bist. Nur ein kleiner
Hinweis: wenn du wieder in der Raumluftzentrale bist, dann sehe dir mal den
Kanal L4 an. Bei mir blinkt hier ein Licht auf dem Monitor auf. Ich glaube,
dass dort eine Revisionsklappe nicht ganz dicht geschlossen ist.“
„Ist die Raumluftzentrale auf dem Dach, oder im Keller?“, fragt
Swem hastig den Haustechniker.
„Sie ist auf dem Dach, warum?“
„James“, sagt Swem aufgeregt, „Ich glaube, wir wissen wo Alfredo
sich befinden. In einem Lüftungskanal auf dem Dach.“
Der Haustechniker dreht sich auf seinem Drehstuhl zu den beiden:
„Wenn sie auf das Dach möchten, dann müssen sie zu dem hinteren Nottreppenhaus
gehen. Das ist das einzige Treppenhaus, das zum Dach hochführt.“
Swem und James stehen auf, um zum Nottreppenhaus zu gehen. Vorher
bedanken sich noch beide bei dem Techniker für den Tee. Auf dem Weg zum
Treppenhaus treffen sie unterwegs einige Polizisten und lassen sich je eine
Laserpistole geben. „Gleich haben wir ihn“, sagt James lächelnd und etwas
angespannt.
8
Alfredo friert, durch den Wärmeentzug im Lüftungskanal. Die
Revisionsklappe öffnend, steigt er aus dem Kanal und geht hinaus auf das Dach.
Es ist kühl und in der Nacht so dunkel wie in dem Kanal. Wie schon so oft
konnte er auch dieses Mal nicht widerstehen und blickt staunend hoch zu den
vielen, funkelnden Sternen. Er lauschte dem brausenden Geräusch des Windes und meinte die
Neunte von Beethoven zu hören... Freude, Freu-eude, Freude schöner
Götterfunken...
Plötzlich ertönt ein leises Brummen, das schnell anschwillt. Es
kommt vom Himmel. Ein Hubschrauber macht sich bereit zur Landung. Seine
Scheinwerfer sind auf den Landeplatz gerichtet. Die Luft wirbelt auf. Er
schwebt nur noch wenige Zentimeter über dem Landeplatz, setzt auf und die
Schiebetür öffnet sich. Alfredo greift in seine linke Jackentasche, fühlt nach
dem kalten Metall und rennt gebückt bis zur Schiebetür. Gerade als der Pilot
aussteigen wollte, hält er seine Pistole an dessen Kopf, drückt den Pilot zurück,
steigt ein und schließt hastig die Tür.
Swem und James betreten atemlos vom schnellen Treppensteigen das
Dach. Sie sehen, wie Alfredo im Hubschrauber verschwindet und sich die Schiebetür
schließt. Mit Getöse erhebt sich langsam die Maschine, um dann in die Dunkelheit
einzutauchen.
„So ein Mist“, ruft James, „Zwei Minuten früher und wir hätten ihn
geschnappt.“
„Ich kenne den Piloten, die Entführung wird er sich nicht gefallen
lassen. Hoffentlich macht er keine Dummheiten, die Maschine könnte…“ In diesem
Moment sehen beide einen grellen Blitz am Rand der Hafenortschaft Huygens.
„Swem, sie ist abgestürzt.
Sie ist abgestürzt!“, Komm, wir fahren schnell hin.“
Sie kommen am Absturzort an.
Ein Polizei- und ein Krankenwagen stehen bereits vor einem Haus. Die blauen
Rundumleuchten sind noch angeschaltet. Ein Polizist kommt ihnen entgegen: „Der
Hubschrauber ist auf das Bungalow gestürzt. Alle vier Personen sind tot.“
„Alle vier Personen? In der
Maschine waren doch nur zwei Personen.“
„Getroffen hat es den
Piloten, seinen Fluggast und zwei älter Herren. Sie wohnten in dem Bungalow.
Sie erinnern mich an sizilianische Bauern.“
15 Jahre später. Swem lebt
wieder in Amerika. Er hat Maria geheiratet und tritt wegen seines ausgeprägtes
Gerechtigkeitsempfinden in eine politische Partei ein. Er bewirbt sich für das
Amt des amerikanischen Präsidenten und gewinnt mit knapper Mehrheit die Wahl.
Niemand ahnd, dass Amerika
nun von einem humanoiden Kunstwesen regiert wird.
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Michael Mews).
Der Beitrag wurde von Michael Mews auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.02.2010.
- Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
Michael Mews als Lieblingsautor markieren
Auch auf Leichen liegt man weich - Kurzgeschichten
von Michael Mews
"Auch auf Leichen liegt man weich" ist eine Sammlung schaurig schöner und manchmal surrealer Kurzgeschichten, in denen Alltagsbegebenheiten beängstigend werden können und Schrecken auf einmal keine mehr sind - vielleicht!
Wir begegnen Lupa, der ein kleines Schlagenproblem zu haben scheint und sich auch schon einmal verläuft, stellen fest, dass Morde ungesund sind, und werden Toilettentüren in Flugzeug in Zukunft mit ganz anderen Augen betrachten.
Und immer wieder begleiten den Erzähler seine beiden guten Freunde: die Gänsehaut und das leichte Grauen ...
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