Birgit Enser

Wintermorgen

Gemächlich eroberte die Sonne die kleine Lichtung in dem Wäldchen. Es würde jedoch noch eine ganze Weile dauern, bis der Reif völlig von den Gräsern verschwand. Und wenn sich die Sonnenstrahlen dann in den glitzernden Wassertropfen, die sich an den Grashalmen absetzten, spiegelten, würde die verlassene Wiese in ein romantisch verträumtes Licht getaucht sein.

Doch so verlassen, wie es auf den ersten Blick schien, war die Lichtung gar nicht. Fast genau in der Mitte lag eine Frau eingewickelt in einen dicken grauen Schlafsack. Zusätzlich, zum Schutz gegen die Kälte, hatte sie noch ihren dicken, gefütterten Wintermantel über den Jogginganzug gezogen.

Ihr Mund war leicht geöffnet, die Augen geschlossen, sodass sie ein friedliches Bild bot.

Bevor sich die junge Frau am vergangenen Abend in ihren Schlafsack kuschelte, hatte sie noch die Steine, die sie zuvor gesammelt hatte, mit äußerster Konzentration rund um ihre Schlafstelle plaziert. Ihr langes dunkles Haar war ihr dabei immer wieder ins Gesicht gefallen und hatte ihre Tränen verborgen. Als sie endlich mit dieser Arbeit fertig war, atmete sie erleichtert auf.
Nun fühlte sie sich sicher genug, um hier auf der Lichtung zu schlafen.

Sie war wohl recht schnell eingeschlafen, in der letzten Zeit schlief sie immer sehr fest.

Auch jetzt, als der große Hund sie beschnüffelte, wachte sie nicht auf. Der Mann, der auf dem Waldweg stand, versuchte, seinen Hund zurückzurufen, doch dann sah er, was der Hund dort entdeckt hatte und ging langsam auf die Lichtung.

´Senta, bei Fuß!´, sagte er. ´Sitz!´

Der Hund gehorchte, aber man konnte ihm anmerken, dass er sehr aufgeregt war.

Der Mann war sich nun sehr unsicher, was er tun sollte. Schlief die junge Frau, sollte er lieber weitergehen? Doch ein Gefühl sagte ihm, dass hier etwas nicht stimmte.
Er versuchte, die Frau anzusprechen. Dann hockte er sich neben sie und berührte leicht ihre Wange. Sie war eiskalt, was ja auch kein Wunder war, denn die Temperatur war in der Nacht mal wieder fast bis auf den Gefrierpunkt gefallen.
Irgendwie erschien dem Mann die ganze Situation so unwirklich, und er traute sich einfach nicht, diese einsame Stille, die ihn umgab, zu stören.

Er benutzte sein Handy, um die Polizei anzurufen. Der Beamte ließ sich von ihm beschreiben, wo genau diese Lichtung lag und bat ihn dann noch, an Ort und Stelle zu bleiben, bis seine Kollegen in wenigen Minuten eingetroffen sein würden.

Und es dauerte dann auch tasächlich nicht lange, bis die Beamten eintrafen, wenig später kam auch der Notarzt, der jedoch nur noch den Tod der jungen Frau feststellen konnte.
Danach irgendwann würde die Kriminalpolizei erscheinen, die Leiche und den Fundort genauestens untersuchen, und selbstverständlich würde man darüber rätseln, was wohl dieser Steinkreis um den Schlafplatz der Frau zu bedeuten hätte.
Vielleicht würde Kriminaloberkommissar Kogler vom KK 41 einen seiner üblichen Scherze machen, dass das Ganze nach einem Ritualmord aussehe, doch man würde feststellen, dass nichts darauf hindeutete, dass die junge Frau ermordet worden war. Auch einen Selbstmord würde man ausschließen können.

Die Ermittlungen würden nur ergeben, dass die Frau bei ihren Nachbarn als ´verwirrt´ galt, sie glaubte sich verfolgt, sah grüne Männchen, die nachts in ihre Wohnung eindrangen, um ihr wehzutun.
Die Nachbarn kannten sie eben nur verwirrt oder betrunken oder beides zusammen. Niemand hatte den Kontakt zu ihr gesucht, niemand wusste auch nur irgendetwas über sie, nur dass sie seit dem Tod ihrer Mutter im Sommer fast immer draußen schlief, weil sie sich dort angeblich sicherer fühlte.

Natürlich fand man dann heraus, dass sie außer ihrem Vater keine Familie hatte. Ihr Vater war sogar ein pensionierter Kollege, der bis vor 8 Jahren auch noch seinen Dienst in dieser Stadt versehen hatte.

Doch leider konnte dieser nur angeben, dass er seine Tochter seit der Scheidung von seiner Frau, damals war das Kind 9 Jahre alt gewesen, nicht mehr gesehen hatte.
Seine Frau hatte den Kontakt ganz abgebrochen. Er hatte dann später zwar gehört, dass seine Tochter einige Selbstmordversuche begangen hatte, auch dass sie eine Entziehungskur gemacht hatte, aber jeglicher Versuch, sich um sie zu kümmern, war fehlgeschlagen, weil die beiden Frauen sich dagegen wehrten. Er hätte es dann auch irgendwann nicht mehr versucht.

Es ergaben sich bei den Ermittlungen also keinerlei Hinweise auf Fremdverschulden. Die Frau war eines natürlichen Todes gestorben, was sich durchaus mit ihrem Alkoholkonsum und der Kälte erklären ließ.

Man setzte sie in aller Stille bei.



Birgit Enser
17. Dezember 2002

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