Markus Wypchlo

Elyse... (ein Kapitel, ist als Prolog gedacht)



Majestätisch schritt Elyse durch den steinernen Türbogen.
Sie betrat einen riesigen Saal, die Siegeshalle. Diesen Sieg sollten alle heute gemeinsam erringen. Einen Sieg über Wahn, Einsamkeit und Verdammnis.
Elyse erkannte, dass viele Hundert Männer sich hier versammelt hatten, dennoch nahm sie nur Umrisse ihrer Gestalten wahr. Die Luft war stickig und durchdrungen vom Rauch der Fackeln entlang der Jahrtausende alten Gemäuer. Der Ruß der Fackeln hatte groteske Bilder in die Felsen gezeichnet, die Elyse an Dämonen erinnerten, böse Wesen der Finsternis. Fast glaubte sie, eine Bewegung in den Rußflecken zu erkennen.
Ihr Füße wagten kaum den Boden loszulassen, aus Furcht zu stolpern.
Elyse blickte auf ihre rechte Hand, die sie vor sich hielt. In ihr lag ein diskusförmiger Stein, der ihre Handfläche gerade bedeckte. Auf der Oberseite waren Zeichen eingraviert, deren Bedeutung sie nicht kannte, auf der Unterseite zierte, nicht sichtbar, ein Auge kunstvoll den Stein.
»Zieh den Ring erst aus dem Stein, wenn du ihn auf der Säule eingesetzt hast, sonst bist du verloren!« Hatten ihr die Wächter der Halle befohlen. Dieser Ring steckte auf ihrem rechten Mittelfinger. Der Besatz, eine Halbkugel, mit Zeichen einer Sprache, die Elyse ebenso fremd war, steckte in der Pupille des Auges. Der Stein machte ihr Angst.
Elyse wollte auf keinen Fall den Fehler ihrer Vorgängerin wiederholen. Sie kreuzigte sich schnell in Gedanken und legte ihre linke Hand über die Gravuren, als wollte sie die Scheibe daran hindern wegzufliegen. Sie spürte die warme
Oberfläche, die sich wie feinste im Sommerwind wehende Seide anfühlte.
»Komm ruhig näher! Hab keine Angst, dir wird nichts geschehen, mein Kind. Du weißt ja, was zu tun ist; das haben dir ja die Wächter gesagt, nicht wahr?« sprach eine tiefe Stimme weit vor ihr in der Halle.
Der Mann stand neben einer steinernen Säule in die Elyse ihren Stein, den Schlüssel einsetzen sollte. »Und denke an die Zeichen!« damit meinte er die kunstvollen Buchstaben auf dem Diskus.
Der Mann starrte auf den Stein in Elyses Händen; die Klangfarbe seiner Stimme änderte sich unvermittelt.
»Heute ist es endlich soweit, nach so vielen Jahren ...« rief der Mann haltlos. Die Lautstärke fuhr Elyse in alle Glieder. Ihr Herz begann zu rasen, ihre Ohren schienen plötzlich wie taub vom lauten Strom ihres Blutes, das durch ihren Schädel pochte.
In der Ferne rief jemand ihren Namen.

»Elyse« sprach eine so sanfte, liebevolle Stimme, wie sie nur ihre Mutter hatte.
»Der Tag für deine Erlösung wird noch kommen, mein Goldstück, jetzt aber lauf und rette die Welt.«
»Ich soll die Welt retten?« fragte Elyse verwirrt.
Sie hörte das Echo ihrer eigenen Stimme. Da bemerkte Elyse, dass die Worte ihrer Mutter nur in ihrem Kopf umhertanzten, wie Schmetterlinge, leise und leicht. Das Mädchen schaute sich fragend und verlegen zugleich um, doch glücklicherweise schien niemand ihre Worte vernommen zu haben.
»Was ist?« hörte sie jetzt die Männerstimme ungeduldig im Raum hallen.
Elyse blickte auf. Vor Schreck zuckte sie zurück und fast wäre ihr der steinerne Schlüssel aus ihren zitternden Händen geglitten. Jetzt sah sie, wem diese schreckliche, raue, wie Ketten rasselnde Stimme gehörte. Sie sprach Laute, die Gänsehaut am ganzen Leib erzeugten, sobald die Ohren von ihnen getroffen wurden.
Da stand ein riesenhafter Mann, in eine schwarze, weit ausschweifende Robe gehüllt, mit einer Kapuze, die tief ins Gesicht gezogen war. In seiner rechten Hand hielt er eine rotgelb lodernde Fackel. Er löste seinen Blick von der Säule, in die Elyse den Schlüssel setzen sollte, und hob langsam seinen Kopf. Der Blick seiner stahlblauen Augen traf das Kind mitten ins Gesicht und noch einmal wich es zurück. Elyse schnappte nach Luft. Die Augen des Mannes versuchten jetzt zu lächeln aber es war ein kaltes, ein arktisches Lächeln, überflutet von Gier nach Macht.
Elyse stockte der Atem. Die Luft blieb einfach in ihrer vollends gefüllten Lunge, gerade so, als hätte auch diese Angst dem Mann gegenüberzutreten.
Wieder ertönte ganz sanft und weich, die Stimme in ihrem Kopf »lauf Elyse, lauf, es ist noch nicht zu spät!
Es wird dir nichts geschehen, ich bin bei dir.«
Elyse sah sich um und bemerkte jetzt erst ein seltsames Licht. Es war strahlend hell, so hell, dass es einen eigentlich blenden musste und doch war es begrenzt auf eine Säule von etwa einem Meter Durchmesser. Das Licht verbreitete einen wunderschönen gedämpften Klang, leicht wie Blütenblätter, honigsüß und in den schönsten Akkorden. Kein Lichtstrahl davon schien die Halle zu erleuchten. Selbst der Boden um das Licht und die Wände waren schwärzer als die dunkelste Nacht. Nur hier und da wurden die Wände durch den Schein von Fackeln, die in regelmäßigen Abständen in den Wänden steckten, beschienen. Das Flackern der Feuer machte alles nur noch unheimlicher.
Elyse hatte Angst. Die Schatten tanzten unaufhörlich an den Wänden entlang, schlichen immer näher an sie heran.
Ganz langsam krochen sie an dem Gemäuer entlang, direkt auf Elyse zu. Sie versuchte nicht länger den drohenden, dunklen Flecken zu folgen, riss ihren Blick los und sah nach oben. Ihre Füße wurden schwer wie Blei; doch ihre Knie wurden immer weicher.
Die Decke der Halle verlor sich in der Schwärze des Raumes, endlos und bedrohlich, wie der Rachen eines riesigen hungrigen Raubtieres das sein Maul weit aufgerissen hat. Elyse sah immer weiter nach oben und es schien ihr als hörte sie einen Schrei aus diesem Maul kommen. Die Dunkelheit drang in ihren Kopf ein und versuchte sie zu sich zu ziehen, hinauf in die finstere Endlosigkeit. Ein eiskalter Wind traf das dreizehnjährige Mädchen. Sie begann heftig zu zittern.
Elyse kam es wie eine Ewigkeit vor. Sie schloss ihre Augen, drehte sich auf der Stelle um und begann zu rennen. Nur noch weg von hier, flehte sie in Gedanken. Die Schwärze der Decke schien nach ihr zu greifen, wie die Klauen eines hungrigen Panthers. Mit aller Kraft packte er sie an ihren Schultern und presste die Luft aus ihren Lungen.
Elyse stemmte sich gegen den Boden und setzte einen Fuß vor den anderen, erst langsam dann immer schneller. Sobald sie den Türbogen durchschritten hatte, schien die Kraft der Schwärze nachzulassen, ganz langsam, unendlich langsam kam sie von ihr los, doch im selben Maße spürte Elyse Wut aufsteigen eine bedrohliche, unbändige, grenzenlose Wut.
Explosionen durchschnitten jetzt die Ruhe in der Siegeshalle. Rasierklingenscharf wurde die Luft auseinandergepeitscht, Licht, Lärm und mächtige Bewegungen von Boden und Wänden schienen um die Vorherrschaft zu kämpfen. Es war nicht die Hitze, die Elyse in den Rücken trieb, es war wieder diese arktische, eisige Kälte, die diesmal aus der Dunkelheit hervorpreschte. Sie hatte ein Gefühl, als müsste ihre Haut auf der Stelle zu Eis erstarren. Ihre Lunge begann heftig zu schmerzen und ihr war, als verweigerte sie sich der Luft.
»Ihr nach, sie darf nicht entkommen!«
schrie der Mann mit der schwarzen Robe herrisch in die Menge. Viele Männerstimmen riefen wild durcheinander, Massen von Menschen setzten sich in Bewegung und strömten auf den Durchgang zu, durch den Elyse zu entkommen versuchte. Metall klirrte, schwere Schritte hallten durch die Katakomben. Der entsetzliche Lärm begann Elyses Sinne zu betäuben.
Und doch, Elyse lief so schnell sie nur konnte. Ich darf nicht stehen bleiben, dachte sie, nicht jetzt, am besten nie wieder. Und vor allem - nicht zurück.
Ihre Lungenflügel begannen sich wieder zu füllen. Doch die Schmerzen blieben, aber wenigstens bekam Elyse wieder Luft, Luft für ihre Flucht.
Die Wände bebten noch immer von den Explosionen in der Siegeshalle. Scharfkantige Splitter, die von den Decken herabbrausten und den ganzen Boden bedeckten zerschnitten ihre nackten Füße. Sie hatte höllische Schmerzen. Aber das war alles egal. Ihr Körper zitterte von den Qualen, die er litt. Für Tränen hatte sie jetzt keine Zeit. Das Mädchen durfte keine Schwäche zeigen, wenn sie es schaffen wollte.
Immer wieder bog sie in die zahllosen Seitengänge ein, in der Hoffnung den Verfolgern zu entkommen. Sie spürte nur noch dumpf, wie ihre Ellenbogen am blanken Stein entlang schliffen. Das Blut rann an ihren Armen herab, tropfte auf den Boden und versickerte zwischen den Steinen. Ihre langen hellblonden Haare flogen mit jedem Schritt von einer Seite zur Anderen. Die Flammen der Fackeln züngelten an den Wänden und versengten immer wieder die Spitzen ihrer goldenen Pracht. Der beißende Geruch verbrannten Haares schmerzte in ihrer Kehle und raubte ihr erneut den Atem. Elyse wurde übel.
Wo ist die verdammte Tür, der rettende Ausgang, dachte Elyse nur noch. Nach rechts, links, wieder nach rechts. Blind trugen ihre Füße sie durch das Labyrinth der Gänge. Sie spürte, wie ihre Verfolger langsam aber sicher näher kamen. Warum wissen die immer, welchen Gang ich gerade genommen habe? Elyse war verzweifelt. Sie rannte nach Links. Jetzt konnte sie die stampfenden Schritte der Männer selbst durch das Donnern der herabfallenden Steine deutlich hören. Die Meute war nahe, sehr nahe.
Elyse starrte auf ihre Hände. Sie hielt ihn fest, eisern, fast schon krampfend, den steinernen Schlüssel, der allem Irdischen das Ende bringen würde, wenn sie es nicht doch noch schaffte zu entkommen.
Schließlich wagte sie einen kurzen Blick über ihre Schulter. Niemand zu sehen, doch – Schatten, die Schatten der Verfolger. Elyse erschrak und ihr Blick dauerte etwas zu lange. Sie spürte nur noch kalten, harten Stein und einen brennenden Schmerz in ihrer linken Schulter. Der Gang bog unvermittelt rechtwinklig nach links ab, Elyse lief jedoch weiter geradeaus. Mit einem Ruck war ihre ganze Geschwindigkeit an der Wand verpufft.
Benommen nahm sie nur noch Stimmen aus der Ferne wahr. Sie wusste nicht, ob sie überhaupt noch stand und wie lange ihre Verfolger noch brauchten, bis sie sie erreicht hätten. Aber ihr Instinkt sagte ihr – Elyse laufe, laufe Elyse sonst ist alles zu spät, alles umsonst. Sie taumelte nur noch vor sich hin. Wie in einem Traum sah das Mädchen endlich Licht, den Ausgang, ihre Rettung. Elyse nahm alle Kraft zusammen, stemmte ihren Körper vom Boden ab und sprang in hohem Bogen der rettenden Sonne entgegen. Ihre geschundenen Hände umschlossen immer noch fest den Stein.
Sie spürte feuchtes Gras unter ihren Füßen. Das Mädchen begann vor Glück zu weinen, endlich konnte sie wieder weinen – nach so endlos langer Zeit.
Voller Furcht drehte sich Elyse noch einmal um, doch was sie sah, war nur eine Wand. Eine Wand ohne Tür, ohne den Durchgang, durch den sie eben noch gesprungen war. Viel zu erschöpft und glücklich um sich darüber zu wundern, sah Elyse voller Freude wieder zur Sonne - die auf sie zuraste.
Betäubt von den Ereignissen der letzten Minuten, flehte sie: »Aber das kann doch nicht sein. Lass mich wenigstens kurz anhalten – ganz kurz.« Ihre Beine gaben im selben Moment nach und sie sank auf ihre Knie. Elyse starrte auf das blendende Etwas. Nein, das war nicht die Sonne, das war – eine Feuerwalze, gleißend hell die auf Elyse zurollte. Lava und Asche und Bims überschlugen sich in hohen Wellen, brachen sich, Feuer spritze umher wie Gischt.
»Es ist zu spät« wimmerte Elyse, kraftlos setzte sich das Mädchen auf die Wiese, die bunt war von Jakobskreuzkraut, roter Lichtnelke, Sauerampfer und rotem Mohn. Elyse freute sich noch über eine Hummel, die gerade dabei war, Nektar aus einer Wiesen-Salbei Blüte zu trinken.
»Los, flieg schnell weiter.« Sie verscheuchte das Insekt mit ihrer Hand. Die heiße Lava hatte Elyse erreicht.
Der goldene Ring an ihrem rechten Mittelfinger begann zu glühen. Schützend legte Elyse ihre Herzhand über den Schlüssel und senkte ihre Augenlider.

© Markus Wypchlo

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.02.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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