Hans Werner

Ein Priester

Erzählung von
Hans Werner


Seit vielen Jahren war Sebastian katholischer Geistlicher und stand an der Spitze einer größeren Pfarrei im süddeutschen Raum. Er war mit Leidenschaft Priester und fand als Seelsorger in seinem Beruf große Erfüllung. Je länger er ihn ausübte, umso deutlicher wurde ihm bewusst, dass er auf keinem anderen Wege je ein solches Glück und eine solche Befriedigung hätte finden können. Er engagierte sich sehr in der Jugendarbeit und kam dabei immer wieder mit seinen Gruppenleitern und –leiterinnen ins Gespräch. Und wenn diese ihm Vorschläge machten, zum Beispiel zur Gestaltung eines Jugendgottesdienstes, dann ließ er sich gerne mitreißen von all ihrer jugendlichen Leidenschaft, mit der sie sich für die größeren Ziele der Menschheit, für Gerechtigkeit und Frieden, einsetzten. Diesen jungen Menschen war nichts abscheulicher als Verlogenheit und Heuchelei in jeder Form. Und Sebastian empfand eine tiefe Freude, wenn er in die strahlenden, aber auch fordernden Blicke seiner Jugendmannschaft schauen durfte.

Neben der sehr aktiven Jugendgruppe gab es in der Gemeinde auch eine Schar Ministranten, die unter seiner Leitung zu einer beachtlichen Größe angewachsen war. Und wenn er sich in der Sakristei das Messgewand über die Soutane anlegte und noch ein bisschen im großen Messbuch die aktuellen Bibeltexte durchlas, dann sah er im Nebenraum die vielen Jungen und Mädchen, die sich in den Ministrantenkleidern munter tummelten und manchmal auch ein wenig Unsinn trieben. „Ministranten sind des Teufels Trabanten“, dachte er und lächelte nachsichtig. Sein Mesner war ein altes Faktotum, das in der Kirche mit sanften Schritten geräuschlos hin- und herschlich, die Kerzen anzündete und den Altar für den Gottesdienst herrichtete. Dieser Mesner lag in beständigem Streit mit den Ministranten, weil diese bei der Altarstellung oft mit ihren langen Kerzenleuchtern spielten und dabei Wachstropfen auf den Altarteppich fallen ließen, die er nur mit Mühe wieder entfernen konnte. Dann beklagte er sich oftmals bei seinem Vorgesetzten, den er immer nur mit „Hochwürden“ anredete. Aber auch hier lächelte Sebastian nachsichtig.

Es war über die Gemeindegrenzen hinaus bekannt, dass Sebastian für alle Menschen, die unter einer seelischen Qual litten, ein offenes Ohr hatte. Man konnte ihn in jeder Notlage aufsuchen und niemals hatte er irgendjemanden abgewiesen, auch wenn er wegen der vielen Verwaltungsaufgaben, die sich im Pfarrbüro auf dem Schreibtisch häuften, zuweilen wirklich in Zeitnot war. Er brachte es einfach nicht übers Herz, einen Menschen in seelischer Bedrängnis abzuweisen. Dafür war er bekannt, und drum war er für viele Menschen so etwas wie die letzte Anlaufstelle. Eines Tages hatte Sebastian einen seltsamen Traum, der ihn sehr bewegte. Ein Engel war ihm erschienen und hatte ihm ins Ohr geflüstert, dass der liebe Gott ganz genau wisse, wie viele Menschen er schon vor dem Selbstmord bewahrt hatte. Das Gefühl, mit dem er aus diesem Traum erwachte, war unbeschreiblich schön.

Eines schönen Tages, als er gerade von der Frühmesse aus der Kirche trat, wurde er von einer jungen Frau angesprochen, die er aus seiner früheren Vikariatszeit nur zu gut kannte. Es war Edith, die ehemalige Jugendleiterin , zu der er als junger Vikar ein sehr gutes, um nicht zu sagen inniges Verhältnis gehabt hatte. Sie war ihm sehr sympathisch und auch sie mochte ihn. Einmal, nach einem Clubabend der Katholischen Jugend, kam es zu einer nächtlichen verschwiegenen Begegnung, bei der sie sich ihm an den Hals warf und er, kaum dass er es sich versah, ihre weichen Lippen auf den seinen spürte. Jenes Erlebnis war jetzt schon über zwanzig Jahre her und Sebastian hatte danach Edith gemieden, weil er seinen Priesterberuf nicht gefährden wollte.

Und nun war diese Edith wieder zu ihm gekommen und begehrte Beratung in seiner Sprechstunde. Kaum im Pfarrhaus, platzte sie sofort heraus:
„Herr Pfarrer, ich will aus der Kirche austreten.“
Diese Nachricht schlug in seiner Seele wie ein Blitz ein.
„Um Gottes willen, Edith, wie kommen Sie auf so einen Gedanken?“
„Ich kann zu keiner Kirche gehören, in der die Geistlichen so viel Missbrauch mit Jugendlichen treiben. Ich habe alles Vertrauen verloren. Sie wissen doch selbst, wie es nun schon seit Wochen durch die Presse geht. Die Patres in den Kirchenschulen sind doch alles nur Heuchler und sie leben, unter dem Deckmantel der Kirche, ihre bösartige Lust aus.“

Das also war es! Sebastian senkte das Haupt, stützte sein Kinn auf die rechte Faust und legte die Stirn in Falten. Die Verzweiflung, die ihn selbst seit einigen Wochen erfüllte, wenn er all die Enthüllungen über Skandale an geistlichen Schulen verfolgte, kam über ihn und nahm ihm den Atem wie ein giftiger Smog.
„Edith, Sie haben mich doch immer gut verstanden. Wir hatten doch immer ein gutes und offenes Verhältnis zueinander.“ Dabei schaute er der jungen Frau geradewegs und unverwandt in die Augen.
Sie hielt seinem Blick stand und sagte langsam, jedes Wort bedächtig betonend:
„Wie Sie das nur aushalten können? Muss Sie Ihr schwarzes Priestergewand an Ihrem Leib nicht brennen wie Feuer?“
Und nun tat der Priester etwas, was er sich nur in ganz seltenen Fällen zu tun getraute. Er legte seine Hand auf Ediths Rechte, und sie entzog sie ihm nicht. Leise drang es aus ihr:
„Schon immer habe ich Sie gern gehabt. Das wissen Sie.“
„Ja“, sagte Sebastian, „ich weiß es und habe es schon von Anfang an gespürt. Aber auch Sie müssen wissen, dass ein Priester zur Enthaltsamkeit verpflichtet ist. Dieses Versprechen habe ich vor Gott gegeben, beim Empfang der Priesterweihe. Und ich will es halten.“

Edith schaute ihn durchdringend an. Und fast schrie sie ihn an:
„Haben Sie denn kein Gefühl im Leibe? Wie können Sie über die Liebe der andern so unbeteiligt hinweggehen?“
„Ach, meine liebe Edith“, sagte er leise, „Sie wissen ja gar nicht, welche Kraft es mich manchmal kostet, den Versuchungen zur Körperliebe zu widerstehen. Glauben Sie ja nicht, dass ich nicht auch fühle und empfinde wie jeder andere normale und gesunde Mensch.“
„Aber wie können Sie dann zu sich selbst so grausam sein und ein Gebot einhalten, das gegen die menschliche Natur ist? Sie sind doch ein gesunder und immer noch recht junger Mann.“
Sebastian spürte in seinem Innern heftigen Widerstreit. Sollte er auf dieses Thema eingehen und Edith sagen, wie es in ihm zuweilen kämpfte und tobte. Sollte er ihr seine Schwierigkeiten und seine Schwächen eingestehen? Sollte er ihr in das Innere seiner Seele Einblick gewähren?
Ratlos schaute er vor sich nieder und ließ darauf seinen Blick wandern über das Kreuz an der Wand, das Bild des Papstes und die schöne Madonna, die, auf einem Sockel stehend, zu ihm herüberschaute. Unter diesem milden Blick einer Maria, die der Bildhauer ganz lebensecht dargestellt hatte, besänftigte sich sein Gemüt langsam und er fühlte in sich die nötige Kraft und Entschlossenheit, um dieser jungen Frau, die im Begriffe war, seine über alles geliebte Kirche zu verlassen, seine eigenen inneren Erfahrungen und Leiden mitzuteilen.

„Edith, Sie haben damals vor vielen Jahren unsere Mädchengruppe geleitet. Und ich weiß, dass die dreizehn- und vierzehnjährigen Mädchen Sie verehrten und Ihnen restlos vertrauten. Oft sind sie mit ihren pubertären Problemen zu Ihnen gekommen und als eine verständnisvolle Freundin konnten Sie ihnen Rat geben, einen Rat, den sie bei ihren Eltern oft vergeblich suchten. Dann haben Sie sich in christlicher Ehe an einen jungen Mann gebunden und mit ihm zusammen drei Kinder aufgezogen. Diese gehen nun zur Schule, und eines davon, ich weiß, der begabte Lateiner Johannes, besucht das Jesuiten-Kolleg im Schwarzwald. Und nun überfluten die Medien seit einigen Wochen furchtbare Berichte über Kindesmissbrauch an diesen Schulen. Was müssen Sie wohl fühlen an Besorgtheit, innerem Grimm und auch an Enttäuschung! Ach,ich habe so großes Verständnis für Sie.“
„Ja“, sagte Edith, „Sie haben Recht, ich habe Angst um meinen Sohn. Obwohl er noch nie, auch nicht mit einer geringsten Andeutung, über derlei Verfehlungen seiner geistlichen Lehrer berichtet hat. Er ist ein froher und aufgeweckter Knabe und manchmal habe ich auch schon bemerkt, dass er erste zarte Beziehungen zu gleichaltrigen Mädchen aufgenommen hat. Und, glauben Sie mir, diese Entdeckung hat mein Mutterherz mit Stolz und Freude erfüllt. Es wäre das Schlimmste für mich, wenn dieser Knabe, mein eigener Sohn, durch irgendwelche schmutzigen Handlungen in seiner gesunden Entwicklung beschädigt würde.“

„Aber, warum wollen Sie aus der Kirche austreten? Vielleicht müssten Sie dann auch Ihren Sohn von dieser Schule nehmen. Glauben Sie, ich kenne einige Leute aus dem Kollegium dieses Kollegs und ich kann Ihnen versichern, dass alles integere Leute sind, für die ich die Hand ins Feuer legen würde. Was sich früher ereignet hat, weiß ich nicht. Wenn es wahr ist, was die Berichte behaupten, dann ist es furchtbar und schädigt das Ansehen dieser Schulen und auch der ganzen Kirche. Aber, bedenken Sie doch auch, die Zugehörigkeit zur Religion, zum Glauben, zum Bund der Taufe ist doch etwas viel Größeres und Umfassenderes, als dass Verfehlungen einzelner Kirchenvertreter, und seien diese auch noch so schlimm, diesen Seelenbund aufheben und zerstören könnten.“
„Ach, Herr Pfarrer, Sie sind so gut und Ihnen vertraue ich. So wie ich das Vertrauen zur Institution insgesamt verloren habe. Ja, leider muss ich es Ihnen sagen. Ich kann einer Kirche nicht mehr trauen, die in ihren Reihen Missbrauch duldet und darüberhinaus bestrebt ist, solche Verfehlungen zu verheimlichen und wirkliche Verbrechen der staatlichen Strafverfolgung zu entziehen. Irgendwo hört für mich da die Glaubwürdigkeit auf. Und Sie selbst haben mich immer gelehrt, dass man zu seiner eigenen Überzeugung stehen müsse und danach handeln.“

Der Pfarrer hatte ruhig zugehört und warf auf Edith einen Blick voll schmerzlicher Bitterkeit.
„Ihre Worte sind bitter und die große Enttäuschung ist Ihnen anzumerken. Ach, wissen Sie, ich habe in jungen Jahren, vor meinem Theologiestudium, die Bibel gelesen, die Geschichte unseres Herrn Jesus, und immer wieder war ich fasziniert von der Ausstrahlung dieses einmaligen Menschen, dem wir nach unserem Glauben auch Göttlichkeit zumessen, ihn als Sohn Gottes bezeichnen, der aber doch auch als Mensch unter Menschen gelebt und gelitten hat. Ich habe gespürt, wie dieser Jesus gegen das römischen Unrechtsregime kämpfte, aber auch mit der Selbstgerechtigkeit der Pharisäer hart ins Gericht ging. Seine bevorzugten Menschen waren die Armen, die Kranken, die Ausgestoßenen, für die er sich rückhaltlos einsetzte. Es erschien mir immer wie ein großes Wunder, dass die Menschen diesem Jesus in großen Scharen nachgelaufen sind. Durch die Erzählungen in der Bibel hat mich dieser Gottmensch und Religionsstifter fasziniert und immer wieder aufs Neue angesprochen. Ich war mit der Zeit förmlich süchtig nach Jesus und konnte mich seinem Ruf nicht mehr entziehen, wenn ich mich selbst nicht hätte unglücklich machen wollen. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können.“

„Doch“, sagte Edith, mit ihren klaren Augen zu Sebastian aufschauend, „doch, ich verstehe Sie sehr gut. Ich selbst war in meiner Jugend oft im Banne dieser religiösen Begeisterung. Mein Mann war da etwas nüchterner, obwohl der Religion auch nicht feindlich gesinnt. Er hat alles mitgetragen, was ich an religiösen Gedanken und Gefühlen in unsere Gespräche einbrachte. Zwar war er kein Kirchgänger, aber nie hat er die praktizierenden Christen verachtet. – Aber, Herr Pfarrer, Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Wie können Sie das unmenschliche Gebot des Zölibats aushalten? Und wie können Sie die Last des Vorwurfs aushalten, die sich gerade in den letzten Wochen auf alle Träger der schwarzen Soutane mit Bitterkeit ergießt?“

Wieder war Edith in einen heftigen Ton verfallen. Sebastian hob beide Hände und machte beschwichtigende Bewegungen.
„Das sind zwei ganz verschiedene Fragen, liebe Edith. Ich will versuchen, Ihnen darauf zu antworten. Fangen wir mit der letzten Frage an. Ich selber empfinde es voll schmerzlicher Bitterkeit, wie die Kirche heutzutage von vielen als verlogene Instanz einer geheuchelten Moral angesehen wird, dauernd am Pranger steht und immer mehr an Glaubwürdigkeit verliert. Und manchmal weiß ich auch selbst nicht, wem ich Recht geben soll. Ich weiß nur, dass diese Kirche von Christus gegründet worden ist und dass viele Menschen in Treue zu ihr gelebt haben und gestorben sind. Manchmal auch einen grausamen Märtyrertod in Kauf genommen haben. Alle meine Selbstachtung müsste ich nun verlieren, wenn ich dieser Kirche den Rücken kehren würde. In mir lebt ein bisschen jene Haltung, dass man, allen Widrigkeiten zum Trotz, das Haus Gottes trotzdem verteidigen muss, und es umso energischer verteidigen, je heftiger die Angriffe von außen sind. Ich selbst bin ein schwacher und auch ein sündiger Mensch und vieles muss mir Gott verzeihen. Muss ich da aus Dankbarkeit diesem Gott gegenüber der Kirche nicht umso mehr die Treue halten? Und ich weiß auch, dass diese geschmähte Kirche tagtäglich viel Gutes bewirkt und dass viele bedürftige Menschen allein gelassen wären, wenn es nicht die Kirche gäbe. Denn in unserer pluralistischen Welt lebt das Gesetz des Eigennutz und der Profitmaximierung. Nein, ich kann die Kirche generell nicht verurteilen und ihr auch nicht den Rücken kehren.“

Edith nickte und wurde nachdenklich. Sie schien selbst nicht mehr so sicher, ob sie ihrem ursprünglichen Entschluss treu bleiben könnte. Vielleicht entsprang dieser auch nur ihrer augenblicklichen Enttäuschung und Verbitterung. Sie schwieg einige Zeit, während sie Sebastian prüfend und ruhig ansah. Dann fuhr er in ruhigem Tone fort.

„Und nun kommen wir zur zweiten Frage. Mir selbst ist der Zölibat oft eine schwere und drückende Last. Das darf ich Ihnen bekennen, und nicht immer fällt es mir leicht, ihn einzuhalten. Denn ich bin ein gesunder und sehr rüstiger Mann und ich weiß mittlerweile ganz genau, dass ich eine junge Frau glücklich machen könnte und dass ich im geschlechtlichen Verkehr großes Glück erfahren könnte. Und oft ist es auch so, dass die vielen Bilder und Filme, die in unserer Zeit die Reize schöner Menschen den Blicken der Gaffer darbieten, mir selbst auch ordentlich zusetzen. Ich kann es anders nicht sagen. Aber noch viel stärker als diese Gefahren durch eine sexualisierte Umwelt ist es die Macht der Sehnsucht, die mich innerlich umtreibt. Wie gerne würde ich einen Menschen zärtlich an mich heranziehen, ihn liebkosen und die sanfte Wärme eines menschlichen Körpers an mir spüren. Wie gerne würde ich mich in meinen innersten Gedanken einem andern Menschen offenbaren, vertrauensvoll meinen Blick in seinen versenken und mich mit seiner Seele auf das Innigste vereinen! Wie gerne, ach wie gerne würde ich das tun! Edith, jetzt bin ich ganz ehrlich zu Ihnen, und ich hoffe, dass Sie von meinen Worten keinen unredlichen Gebrauch machen.

Aber es kommt noch etwas hinzu. Ich habe im Laufe meines Lebens die Schönheit des Menschen immer tiefer erkennen dürfen. Ich weiß inzwischen mit unumstößlicher Sicherheit, dass der Mensch wirklich die Krone der Schöpfung ist. Und die Tatsache, dass er in unverhülltem Zustand dem Betrachter ein Übermaß an Lust und Freude schenken kann, erfüllt mich mit tiefer Ehrfurcht vor der göttlichen Schöpfungsallmacht. Dass der Mensch, so wie er von Gott geschaffen ist, dem Auge solche Lust einflößen kann, ist mir ein unerforschliches Geheimnis. Es gibt keine Nacktheit, die sündhaft wäre, es gibt nur den unkeusch bösartigen Blick des Betrachters, der in sündhafter Begierde den enthüllten Menschen für seine eigenen niederen Bedürfnisse missbrauchen möchte. Darauf, und nur darauf kann die Sünde beruhen. Sonst kann es keine Sünde geben, die von der Herrlichkeit des menschlichen Leibes ausgelöst worden wäre. Das ist meine unumstößliche Überzeugung.“

In Edith war eine heftige Bewegung spürbar, während sie den Worten des Pfarrers lauschte. Sie ergriff mit beiden Händen seine Rechte und zog sie an ihre Lippen. Dann flüsterte sie, hauchend und kaum hörbar:
„Sie sind ein guter Mensch. Wenn nur alle so wären wie Sie! Um Ihretwillen kann ich die Kirche nicht verlassen. Wenn alle unglaubwürdig wären, alle andern, und nur Sie nicht, dann wäre die Kirche für mich ein glückverheißendes Haus. Ach, Herr Pfarrer, verzeihen Sie mir meine Bitterkeit und Ungeduld.“
Sebastian lächelte, vergnügt und von stillem Glück bewegt. Dann fuhr er fort.
„Aber ich bin noch nicht am Ende. Ich würde gerne manchmal meinen Ministranten über die Haare streichen, denn ich habe sie alle sehr lieb. Aber ich weiß, dass ich mir nicht einmal das, gestatten darf. Ich weiß, dass aufgebrachte Mütter mein Pfarrhaus im Sturm einrennen und mich der Pädophilie bezichtigen würden. Ich darf diese jungen blühenden Menschen nicht anfassen, nicht einmal ein Härchen von ihnen darf ich berühren. Und das ist mir zuweilen ein schwerer Verzicht. – Ich kann mich dann nur ins Gebet flüchten.

Wenn ich am Morgen vor der Messe an meinen Altar trete, dann kommen die Worte über meine Lippen, die ich noch vom Lateinischen her gut kenne und die für mich gerade in den letzten Wochen und Monaten eine immer tiefere Bedeutung erlangt haben: ‚Introibo ad altare Dei, ad Deum qui laetificat juventutem meam‘.“
„Ach, seien Sie nachsichtig mit mir und übersetzen Sie es. Ich kann kein Latein.“
„Sie heißen: ‚ich trete zum Altar Gottes, zu Gott, der meine Jugend erfreut.‘ Und ob Sie es nun glauben oder nicht, dieser Satz hilft meiner sehnsüchtigen Seele. Denn hier wird gesagt, dass Gott meine Jugend erfreut, und unter Jugend verstehe ich hier die Sehnsucht des Menschen, nach intimer körperlicher Nähe. Und glauben Sie mir, diese Sehnsucht wird nicht schwächer, wenn man älter wird. Im Gegenteil. Aber es gelingt mir immer wieder, wenn ich mich ins Gebet vertiefe, vor allem, wenn ich im Messopfer die Worte der Wandlung spreche, dass ich meine eigene, so bitter erkämpfte Enthaltsamkeit, als gewolltes Opfer Gott darbringe. Und dann geschieht es – und jetzt merken Sie auf und nehmen Sie das, was ich sage, für pure Wahrheit – und dann geschieht es, dass ich von Gottes Gegenwart erfüllt werde. Ich weiß nicht, was es ist. Ich kann es Ihnen nicht erklären. Ich kann Ihnen nur beteuern, dass diese Gegenwart Gottes in mir einen Glückszustand auslöst, der so stark ist, dass ich auf ihn nie mehr verzichten könnte, ohne mich selbst unglücklich zu machen.

Und immer dann, wenn ich von Versuchungen bedrängt werde, wenn sich meine so überaus kräftige Männlichkeit in mir regt, dann erkenne ich in dieser Regung jene göttliche Schöpferkraft, die den Menschen so und nicht anders geschaffen hat und die danach sagen konnte, dass alles sehr gut war. Ja, es ist so, dass ich mich meiner gesunden Männlichkeit freue, gerade deshalb, weil ich sie keiner Frau zuführe. Ach, das zu erklären, ist so schwierig. Aber, ich darf Ihnen noch einmal beteuern, dass es so ist.

Im Übrigen habe ich in meiner Pfarrhaushälterin eine sehr scharfsinnige und kluge Frau, der ich vertrauensvoll alles mitteilen, kann, was mich in äußeren Lebensfragen bedrängt und bedrückt. Ein bisschen übt sie die Stelle einer sorgenden Frau aus, einer Art Hausmutter, die, körperlich gesehen – und nun entschuldigen Sie einem Pfarrer diesen Ausdruck – eher die Reize eines Besens hat und mich als Mann nie und nimmer ansprechen könnte. Sie sehen, ich besitze Augen, die wie die Blicke aller Männer sehr schnell das Reizpotenzial anderer Menschen abschätzen können. Das klingt furchtbar nüchtern und vielleicht respektlos. Aber ich verehre den Menschen in seiner Körperschönheit als das wirkliche Meisterwerk der göttlichen Schöpfung. Und doch leistet mir meine Haushälterin unschätzbare Dienste, denn sie bewahrt mich vor der Einsamkeit. Ich habe jemand, mit dem ich reden kann.

Und dann kommt noch etwas hinzu. Da ich keine Frau mein eigen nenne, bin ich auch keiner Frau verpflichtet, ihr meine Gedanken und Überzeugungen vorzutragen, bevor ich auf die Kanzel trete. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen können. Ein evangelischer Amtsbruder hat mir schon oft sein Herz ausgeschüttet. Er hat eine sehr junge und geistreiche Frau, die aber in gewisser Weise auch von der Richtigkeit ihrer eigenen Meinung grundsätzlich überzeugt ist. Und oftmals setzt es am Sonntag, nach dem Gottesdienst, am Mittagstisch heftige Diskussionen ab, weil sie einiges seiner Predigten anzweifelt oder kritisiert. Da ist dieser Mann wirklich zu bedauern. Wie viel leichter habe ich es da.“

Jetzt musste Edith von Herzen auflachen. Sie erhob sich und schüttelte dem Pfarrer die Hand.
„Ja, so habe ich es noch nie gesehen. Ach, Herr Pfarrer, Sie sind doch ein wahres Gotteskind. Ich bin froh, dass es Sie gibt. Und natürlich bleibe ich der Kirche treu.“ Dann zwinkerte sie ihm zu, fast ein wenig schalkhaft.
„Und Sie sind schuld daran.“
„Diese Schuld trage ich gerne vor meinen Herrn. Sie dürfen die Buße bestimmen.“
„Zur Buße lege ich Ihnen auf, dass Sie ihren Ministranten ab und zu freundlich die Hand geben.“
Danach verschwand Edith aus dem Pfarrhaus mit beschwingtem, jugendlichem Schritt.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.03.2010. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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