Jürgen Berndt-Lüders

Christina feiert Geburtstag

An ihrem 50. Geburtstag nahm sich Christina ganz fest vor, nicht mehr älter zu werden.

 

Ausschlaggebend für diesen Entschluss war die Tatsache, dass einige Eindrücke fast gleichzeitig auf sie einstürmten. Einmal bekam sie von der Gemeinde eine Einladung zur Senioren-Osterparty. Zum anderen setzte ihre Periode aus, so dass sie sich spontan fragte, ob sie schwanger sei, bis ihr einfiel, dass das nicht sein konnte. Der dritte, ausschlaggebende Punkt war der, dass sie ein blöder, eingebildeter Kerl fragte, ob sie was im Auge habe, als sie ihm zuzwinkerte.

 

Christina hatte was von autogenem Training gelesen, und so legte sie sich hin und befahl sich:

 

Ganz, schwer, ganz warm, ganz ruhig.

 

Und als sie merkte, dass ihr Körper tatsächlich gehorchte, wiederholte sie diese Suggestionen so lange, bis sie kaum noch den Arm heben konnte.

 

Ab Morgen wirst du nicht mehr älter. Ab morgen laufen deine Uhren rückwärts, sagte sie zu sich. Immer und immer wieder.

 

Christina merkte überhaupt nichts von irgendeiner Veränderung, bis sie die Kollegin am nächsten Morgen fragte, was sie denn zum Geburtstag haben wolle.

 

„Gestern hatte ich Geburtstag“, widersprach Christina. „Du warst doch selber auf meiner Geburtstagsparty.“

 

Pause. Die Kollegin schien zu überlegen, was die Ursache für Christinas Verwirrung sein könnte. „Sieh doch mal auf den Kalender“, sagte die Kollegin schließlich, und Christina sah hin und stellte fest, dass sie wieder 49 war.

 

Die Uhren. Was war mit den Uhren? liefen die auch rückwärts? Nein, die blieben völlig normal, und Christina nahm sich frei und lief den ganzen Tag verwirrt in der Stadt umher, bis der Abend kam, und die Nacht, und es null Uhr wurde.

 

Die Datumsanzeige auf ihrem Computer und die Nachrichten im Fernsehen bewiesen es. Sie war wieder einen ganzen Tag jünger geworden. Alles sprang rückwärts.

 

Was für Möglichkeiten taten sich da auf. Sie würde ihre Erfahrungen neu machen, die sie bereits hinter sich hatte, und sie würde in ihrer Zukunft, die eigentlich ihre Vergangenheit war, ihre Fehler verhindern können.

 

Nach einen Jahr würde ihr Gunther mitteilen, dass er eine andere hatte, und sie würde diese Nachricht gelassen aufnehmen. Nach 15 Monaten würde ihr Karl-Gustav auflauern, sie in die Ecke drücken und küssen wollen, und sie würde diesmal nicht nein sagen, weil sie ja wissen würde, was Gunther tat.

 

Ihre verpassten Chancen im Leben würde sie wahr nehmen. Sie würde eine bessere Ausbildung haben, mehr Geld verdienen, an Vorsorgeuntersuchungen teil nehmen, Gunther gar nicht erst heiraten.

 

Aber sie würde auch ihre Tochter nicht bekommen, die inzwischen Medizin studiert hatte. Oder sollte sie mit Gunther schlafen und ihn dann verstoßen? Sollte sie die alleinerziehende Mutter spielen? Ihr Kind in die Krippe geben, damit sie arbeiten gehen konnte? Sollte sie bei ihrer Mutter bleiben, nachdem ihr Vater verstorben war?

 

Sollte sie doch ihr Abitur machen, weil sie ja nie heiraten würde und einen besser bezahlten Job würde annehmen müssen?

 

Irgendwann würde sie eingeschult werden, wohl wissend, was ihr alles noch passieren würde. Ein altkluges Kind ohne Freude an der Kindheit. Sie würde geboren werden, vorgestern in 50 Jahren. Sie würde zum Embryo und irgendwann gezeugt werden. Dann würde ihr Leben zuende sein, weil es noch gar nicht begonnen hatte....

 

Nein, beschloss Christina. Nein, was habe ich davon?

 

Was würde sein, wenn sie ab jetzt und heute mit dem Rauchen aufhören, gesünder essen und hundert Jahre alt werden würde? Dann hätte sie eine ebenso lange Lebenszeit vor sich wie sie hinter sich hatte.

 

Fünfzig Jahre rückwärts sind wie fünfzig Jahre vorwärts, dachte sie.

 

Der Wecker klingelte. Gestern war ihr Geburtstag gewesen. Sie hatte sich nach dem autogenen Training nicht zurück genommen und war eingeschlafen. Der böse, gute Traum hatte sie nicht geweckt.

 

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